Debatte mit offenem Visier

Die Deutung Karl Barths darf nicht in Stereotypen von gestern versacken
Fröhlicher 80. Geburtstag: Hans Küng (2.v.links), der Jubilar Karl Barth und Walter Lüthi, Mai 1966. Foto: kba
Fröhlicher 80. Geburtstag: Hans Küng (2.v.links), der Jubilar Karl Barth und Walter Lüthi, Mai 1966. Foto: kba
Zum Beginn des Karl-Barth-Jahres wurde der Schweizer Jahrhundert-theologe ausführlich gewürdigt. Allerdings dringe diese Würdigung häufig nicht zur wahren Pointe seiner Theologie vor, meint Christiane Tietz, Professorin für Systematische Theologie in Zürich und Herausgeberin von zeitzeichen. Zudem werde Friedrich Schleiermacher, an dessen 250. Geburtstag kürzlich gedacht wurde, heute meistens zu unkritisch gesehen.

Kurz nach der Eröffnung des Karl-Barth-Jahres am 10. Dezember 2018 bemerkte die Badische Zeitung: „Es ist eine besondere Fügung, diese 50. Wiederkehr des Todestages des Theologen Karl Barth. Sie sorgt möglicherweise für die Vertiefung einer Debatte, die zwar nicht medien- und massentauglich ist, aber schon lange in der protestantischen Kirche schwelt. Im Mittelpunkt steht die Frage, was die Kirche eigentlich verkündet: Was sich Menschen von Religion erhoffen? Oder: das Wort Gottes?“ (Ähnlich grundsätzlich auch Georg Pfleiderer in zeitzeichen 12/2018)

Tatsächlich ist es wünschenswert, dass diese Debatte vertieft und mit offenem Visier geführt wird. Denn viele, die Barths theologischen Ansatz nach wie vor für fruchtbar halten - mit dem Schimpfwort „Barthianer“ sind sie darum noch lange nicht alle treffend bezeichnet -, raunen sich ihre Überzeugung bislang nur hinter vorgehaltener Hand zu. Zu laut und zu bestimmt wird in der heutigen deutschsprachigen Theologie die Dominanz der liberalen Theologie und Schleiermachers beschworen. Es braucht einen gewissen Mut, öffentlich andere Position zu beziehen.

Zwar wird in den vergangenen Jahren in der Regel von allen Barths klare theologische Haltung im Nationalsozialismus gewürdigt. Dann aber behaupten die einen, inzwischen lasse sich eine Nähe Barths zu Schleiermacher zeigen, die alte Frontstellungen überflüssig mache. Die Spitzen von Barths Ansatz werden so pflegeleicht abgehobelt.

Die anderen halten es für „ein großes Unglück“, wenn Theologinnen und Theologen heute noch Barth „nachbeten“ (so Jörg Lauster im Deutschlandfunk). „Nachdenkliche“ und „intellektuell anspruchsvolle“ Menschen könnten sich eigentlich nur zu Schleiermacher hingezogen fühlen, während Kritiker Schleiermachers häufig „bekenntnisfeste Wahrheitsfanatiker“ seien (zz 11/2018). Gelegentlich wird sogar empfohlen, „ein historisches Psychogramm der Anhänger der Wort-Gottes-Theologie zu erstellen, das ihre unbestreitbar redlich frommen Motive mit ihren kulturphoben und autoritätshörigen Zügen zu verknüpfen wüsste“ (Lauster).

Natürlich kann es heute nicht um ein „Nachbeten“ von Barths Theologie oder eine sture Barth-Apologetik gehen. Und kaum jemand wird heute Barths anfänglich radikale Entgegensetzung von Religion und Offenbarung mitmachen wollen, weil sonst die menschliche Glaubenswirklichkeit übergangen würde. Aber Fairness darf man von Barth-Kritikern erwarten. Dazu würde zum Beispiel gehören, anzuerkennen, dass die weitverzweigte internationale Barth-Forschung keineswegs durch die „religiöse Rechte“ dominiert wird. Oder einzuräumen, dass Barth, dem man rein binnenchristliche, für andere Wissenschaften unzugängliche Argumentationsweisen vorwirft, hohe wissenschaftliche Anerkennung, unter anderem einen philosophischen Ehrendoktor der Sorbonne, erhalten hat.

Ähnlich wie Münchhausen

Es ist ein Kurzschluss, dass nur eine Theologie, die anderen Wissenschaften methodisch gleicht, an der Universität ihren legitimen Ort hat. Ulrich Körtner hat kürzlich noch einmal an die umgekehrte Gefahr erinnert: „Theologie, die sich als Kulturwissenschaft begreift, löst sich letztlich auf, weil sie den übrigen Wissenschaften und der Gesellschaft nichts Eigenes mehr zu sagen hat, was man nicht auch in Religionswissenschaft und sonstigen Kulturwissenschaften zu hören bekommt.“

Schauen wir genauer hin, worum es einer Theologie im Anschluss an Schleiermacher mit ihrer Orientierung an der Religion des Menschen geht. Nach Lauster thematisiert die Religion den „tieferen Sinn“ des Menschseins, an dem der Mensch auch „dem offensichtlichen Widersinn der Welt zum Trotz“ in tapferer Haltung festhalten soll. Unklar bleibt freilich, woraus sich diese Tapferkeit speist. Aus der widersinnigen Welt lässt sie sich nicht ableiten. Und auch aus dem „Halt des Glaubens“, wenn dieser „immer nur ein tastender und ahnungshafter“ ist, kann sie nicht kommen. Ist sie also nur ein Selbstentschluss des religiösen Menschen - ähnlich dem Versuch Münchhausens, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen?

Die Haltung, die empfohlen wird, ist dem Trotz näher als Vertrauen und Hoffnung. Diese beiden benötigen nämlich einen des Vertrauens würdigen, Hoffnung ermöglichenden, jenseits von Welt und Glauben liegenden Grund. Barth machte diesen Grund in Gott aus, wie er sich in Jesus Christus offenbart hat.

Nun kann man natürlich jeder Offenbarungstheologie vorwerfen, auch ihre Rede von Gott und seinem Wort sei religiöse Rede und nicht das Wort Gottes selbst. Das ist zweifellos richtig. Barth seinerseits betonte deshalb - gern wird dies ignoriert, wenn ihm ein biblizistisches Schriftverständnis vorgeworfen wird - den Ereignischarakter des Wortes Gottes, der nur durch Gott sichergestellt wird. Gottes Wort ist mit keinem menschlichen Satz - auch nicht mit dem biblischen Text - identisch, sondern ereignet sich nur je und je.

Barth meinte zwar, theologisches Denken müsse bei Gott beginnen. Aber seine Theologie vollzog dieses Beginnen - und vielleicht liegt genau darin das heute Anstößige, da damit eine Gebundenheit der Theologie an die Kirche unverzichtbar wird - in ihrem penetranten Bezug auf das in der Kirche überlieferte Wort Gottes: auf Gottes Selbsterschließung in Jesus Christus, die von ihm zeugenden biblischen Texten und die diese auslegende Verkündigung der Kirche. Genau diese Vermitteltheit steht dafür gut, dass der Mensch Gottes nie habhaft wird. Ralf Frisch hat in seinem eindrucksvollen Buch „Alles gut“ gezeigt, wie Barths Ansatz, der Gott nicht innerweltlich zu plausibilisieren und zu funktionalisieren versucht, mit den durch Immanuel Kant geltend gemachten Erkenntnisbedingungen der Moderne ernst macht.

Irritierender Ansatz

Hingegen werden eine Theologie und eine Kirche, die sich an den religiösen Bedürfnissen und Interessen der Menschen orientieren, kaum etwas zur Sprache bringen können, was Horizont erweiternd, Anstoß erregend, vielleicht sogar störend ist. Daran, dass menschliche Bedürfnisse trügerisch sein und Gott sogar verfehlen können, erinnert Martin Luther, der zwar das allgemeine Bedürfnis ausmachte, unser Herz an etwas zu hängen, aber doch meinte, dabei Gott und Abgott unterscheiden zu müssen, weil nur der rechte Gott unser Vertrauen auch verdient. Durch Gott kann der Mensch mit seinen religiösen Bedürfnissen kritisch korrigiert werden.

Und was ist, wenn Menschen solche Bedürfnisse nicht verspüren? Irritierend ist ja, dass Schleiermachers Ansatz nur dort Anknüpfungspunkte bietet, wo sich Menschen als religiös verstehen. Für ihn gehört Religion wesentlich zum Menschsein hinzu. Für einen sich als nichtreligiös verstehenden Menschen muss Schleiermachers Anthropologie stumm bleiben. Er muss entweder doch religiös vereinnahmt werden (daher die vielen Versuche heute, in den verschiedensten kulturellen Phänomenen Religion zu finden). Oder er müsste als letztlich unmenschlich diskreditiert werden.

Barth hingegen kann bei allem Beharren auf der Wirklichkeit Gottes eine Gottlosigkeit des Menschen zulassen. Vielleicht mag man es als anmaßend empfinden, dass in seinen Augen auch der gottlose Mensch dem Bund Gottes nicht entlaufen kann: „Es gibt zwar eine Gottlosigkeit des Menschen, es gibt aber laut des Wortes von der Versöhnung keine Menschenlosigkeit Gottes; es gibt zwar eine Fremdheit und Feindseligkeit des Menschen seinem Evangelium, es gibt aber keine Fremdheit und Feindseligkeit seines Evangeliums dem Menschen gegenüber. Daß er ihm verschlossen ist, ändert nichts daran, daß es für ihn offen ist und bleibt.“ Das menschliche Verhalten verändert hier - gut reformatorisch - nicht die Bezogenheit Gottes auf den Menschen.

Aber Barth lässt das Selbstverständnis des Menschen gelten, der von diesem Bund nichts wissen will. Ingolf Dalferth formuliert die Pointe dieses Ansatzes treffend: „Niemand muss religiös sein, und nicht jeder ist es. Aber alle - das ist theologisch entscheidend! - haben es mit Gott zu tun. Dafür muss man nicht nachweisen, dass jeder Mensch religiös ist, auch wenn er es bestreitet, sondern umgekehrt zeigen, dass Gott so ist, dass er jedem Menschen gegenwärtig ist, wie immer er sich versteht.“

Nicht anschlussfähig?

Gerne wird der Vorwurf geäußert, eine sich Barths Offenbarungsansatz anschließende Theologie sei durch ihre christologische Formatierung im heute so wichtigen interreligiösen Dialog nicht anschlussfähig, ja verunmögliche ihn sogar. Dagegen habe ich die Beobachtung gemacht, dass im interreligiösen Dialog in der Regel diejenigen Gesprächspartner nicht auf Interesse stoßen, die auf eine profilierte eigene Wahrheitsüberzeugung verzichten. Nach meinem Eindruck interessieren sich insbesondere islamische Theologinnen und Theologen stark für die christliche Überzeugung von Gott und seiner Offenbarung, kaum aber für allgemeine Einsichten über menschliche Religiosität.

Entscheidend für einen gelingenden Dialog ist nicht der Versuch, Unterschiede zwischen den Religionen aufzulösen, sondern ob man auch andere Wahrheitsansprüche denken kann und wie man mit Menschen, die sie vertreten, umgeht. Von einem Offenbarungskonzept her, das geltend macht, dass sich diese Offenbarung nicht allgemein, sondern nur im eigenen Glauben in ihrer Wahrheit erschließt (es ist allein der Glaube, der „Gott Recht gibt, weil allein der Glaube Gott Gott sein läßt und also Gott als Gott erkennt“ - Eberhard Jüngel), kann man anerkennen, dass sich Andersglaubenden die Wahrheit ihrer Religion ebenso erschlossen haben kann. Wer hingegen im Dialog über einen allgemeinen Religionsbegriff ansetzte, kann entweder auf Wahrheitsansprüche ganz verzichten, oder - wie dies Schleiermacher in seinen Reden „Über die Religion“ versuchte - eine Rangordnung unter den Religionen mit dem Christentum an der Spitze ausmachen, oder allen Religionen unterstellen, es gehe in ihnen letztlich um das gleiche Transzendente. Damit aber wäre eine pluralistische Religionstheologie nötig, die die Eigentümlichkeit der verschiedenen Religionen gerade nicht wertschätzt und das wahrheitstheoretische Problem aufweist, dass sie sich als einzige aus der eigenen kontextuellen Gebundenheit meint lösen zu können.

Am Ende geht es in der Debatte, die in der Kirche und der Theologie heute zu führen ist, um ein unterschiedliches Menschenbild. Barth hat den Kern dieser Debatte bereits benannt, als er formulierte, dass „von Gott reden etwas Anderes heißt als in etwas erhöhtem Ton vom Menschen reden“. Rudolf Bultmann, der sicher nicht der Barth-Orthodoxie zu bezichtigen ist, meinte ähnlich: „Soll die Theologie von der Wahrheit des Glaubens reden, so darf sie nicht von der Wahrheit der Religion als einer notwendigen und schöpferischen Funktion des Geistes- und Kulturlebens reden, sonst redet sie eben nicht vom Glauben; sondern sie muß vom Gegenstand des Glaubens selbst (sc. Gott) reden.“

In eigenen Worten und also mit offenem Visier: Es reicht nicht, den Menschen nur dazu anzuregen, die Kulturleistung Religion zu entfalten. Kirche und Theologie sollten von Gott reden und seiner Beziehung zum Menschen. Nur so können sie geltend machen, dass der Mensch mit seiner Welt nicht allein ist und es wahrlich Grund gibt, zu vertrauen und zu hoffen.

Literatur

Christiane Tietz, Karl Barth. Ein Leben im Widerspruch, 538 Seiten, C.H. Beck-Verlag, München 2019, Euro 29,95.

Zum Text von Georg Pfleiderer über Karl Barths Theologie
Zum Text von Jörg Lauster über Friedrich Schleiermacher
Rezension von Ralf Frischs Buch "Alles gut"

Christiane Tietz

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