Zwischen Amnesie und Aufarbeitung

Deutschlands schwieriger Umgang mit seinem kolonialen Erbe
Baumwollernte um 1910 in einem so genannten deutschen Schutzgebiet in Afrika. Der genaue Ort ist unbekannt. Foto: epd/akg-images
Baumwollernte um 1910 in einem so genannten deutschen Schutzgebiet in Afrika. Der genaue Ort ist unbekannt. Foto: epd/akg-images
Die koloniale Amnesie schwindet nur langsam, diagnostiziert der Historiker Jürgen Zimmerer, der an der Uni Hamburg Globalgeschichte mit dem Schwerpunkt Afrika lehrt. Die Debatten um die Ausstellungsstücke im geplanten Humboldt Forum in Berlin und der Umgang mit den Völkermorden im heutigen Namibia zeigen die Bedeutung des Themas, aber auch das Unvermögen, angemessen damit umzugehen.

Lange Zeit hielt sich in Deutschland die Gewissheit, keine Kolonialvergangenheit zu haben. Die kolonialen Verbrechen hatten andere begangen, hieß es, oftmals mit revisionistischem Unterton. Dass zwischen 1884 und 1918 allein in Afrika über Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika (Tansania, Ruanda, Burundi), Deutsch-Südwestafrika (Namibia) die kaiserliche Flagge wehte, war kaum bekannt oder wurde nostalgisch verklärt. Noch die Gedenkveranstaltungen zum Ersten Weltkrieg erwähnten die Kämpfe in den deutschen Kolonien kaum, obwohl auch dort mehr als eine Million Menschen ihr Leben verloren hatten, als Paul von Lettow-Vorbeck Deutsch-Ostafrika befehlswidrig und militärisch völlig sinnlos „verteidigte“.

Allenfalls der erste deutsche Genozid, dem zwischen 1904 und 1908 in Deutsch-Südwestafrika etwa 80 Prozent der Herero und 50 Prozent der Nama zum Opfer fielen, vermochte 2004 kurzzeitig die koloniale Amnesie zu durchbrechen, vor allem als sich die damalige Ministerin für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, zum hundertsten Jahrestag des Kriegsausbruchs in Namibia entschuldigte. Nachhaltige Wirkung hin auf Versöhnung und Wiedergutmachung vermochte diese Geste nicht zu entfalten. Sie war wohl ihrer Zeit zu weit voraus. Stattdessen wurden Wieczorek-Zeuls Worte nachträglich zu ihrer Privatmeinung erklärt und als Ausdruck einer besonderen weiblichen Emotionalität diskreditiert.

Sieben Jahre später stand Deutschlands koloniales Erbe kurzzeitig wiederum auf der Tagesordnung, als einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, dass in deutschen Kliniken und Magazinen Tausende von sterblichen Überresten, Human Remains, lagerten. Diese Leichenteile waren aus den Kolonien nach Deutschland gebracht und zu rassenanthropologischen Untersuchungen genutzt worden. Koryphäen der deutschen Wissenschaft hatten die „Gunst der Stunde“, etwa in Form des Kolonialkrieges in Namibia, genutzt, um an Leichen(teile) zu kommen, um ihre rassistischen Forschungen betreiben zu können.

Die erste Rückgabe von zwanzig dieser sterblichen Überreste durch die Berliner Universitätsklinik Charité endete 2011 allerdings im Eklat, da kein ranghohes deutsches Regierungsmitglied die eigens angereiste namibische Delegation empfing und die zur Übergabe abgeordnete Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper, während der Zeremonie so ungeschickt auftrat, dass sie noch vor der eigentlichen Übergabe gebeten wurde, den Saal zu verlassen.

Nur ein Jahr später weigerte sich der Deutsche Bundestag, den Genozid an den Herero und Nama offiziell anzuerkennen. Die Bundesregierung gab nahezu zeitgleich zu Protokoll, nicht von Genozid sprechen zu können, da Genozid, also Völkermord, erst 1948 durch die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ der uno Eingang in das internationale Strafrecht gefunden habe, Recht aber nicht rückwirkend anzuwenden sei. So einsichtig das vordergründig klingen mochte, so absurd wird diese Position in erinnerungspolitischer Hinsicht, wenn man sie etwa auf den Holocaust anwendet: Es ist schwer vorstellbar, dass der Bundestag erklären würde, er könne diesen Völkermord nicht anerkennen.

Dass es sich um eine vorgeschobene Position handelt, wurde 2015 deutlich, als der Deutsche Bundestag seine Beratungen darüber aufnahm, den Genozid des Osmanischen Reiches an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges anzuerkennen, was er 2016 dann auch tat. Hier galt das Rückwirkungsverbot nicht mehr, stattdessen zeigte man offenbar gerne mit erhobenem Zeigefinger in Richtung Türkei.

Der Verfasser dieses Artikels hatte seinerzeit im "Spiegel" kommentiert, dass es angesichts der fast gleichzeitigen Weigerung, den Genozid an den Herero und Nama anzuerkennen, schwer würde, den Vorwurf einer gewissen Doppelmoral in Berlin zu entkräften. Der türkische Staatspräsident Erdogan sah das offenbar genauso und warf Deutschland vor, mit zweierlei Maß zu messen. Auch um diesen Vorwurf zu begegnen, hatte die Bundesregierung 2015 Verhandlungen mit Namibia aufgenommen, die vier Jahre später ebenfalls in einer Sackgasse stecken.

Deutschland vor Gericht

2019 hat der Bundestag den Genozid an den Herero und Nama immer noch nicht anerkannt, von einer Entschuldigung ganz zu schweigen. Die deutsche Absicht, eine Anerkennung und Entschuldigung gegen den Verzicht auf finanzielle Wiedergutmachung Namibias anzubieten, ist gescheitert. Da zudem maßgebliche Vertreter der Herero und Nama an den Verhandlungen nicht teilnehmen durften, sind sie zu Jahresbeginn 2017 in New York gegen Deutschland vor Gericht gezogen. Nachdem sich die Bundesregierung zu Anfang auf den Standpunkt gestellt hatte, die Klage und das Gericht einfach ignorieren zu können, musste es im Sommer letzten Jahres doch vor Gericht antreten. Schon das eine schwere Schlappe und Zeugnis einer völligen Fehleinschätzung der Lage seitens des Auswärtigen Amtes. Das New Yorker Gericht prüft die Zuständigkeit derzeit immer noch. Ausgang ungewiss. Schon jetzt ist der Schaden für Deutschland enorm. Hatte zu Beginn der Verhandlungen mit Namibia die internationale Presse Deutschland noch für seine Anstrengungen, sein koloniales Erbe aufzuarbeiten, gelobt, so häufen sich seit der Klage die negativen Berichte.

Der „Erfolg“ der Herero vor Gericht, also Deutschland überhaupt zum Erscheinen gezwungen zu haben, hat aber auch Auswirkungen auf die Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland. Dort hat zwar Deutschland mittlerweile Kompromissbereitschaft bei der Frage finanzieller Kompensation gezeigt, was anfangs noch strikt ausgeschlossen worden war, allerdings sind die namibischen Erwartungen schneller gestiegen als die deutsche Kompromissbereitschaft. Von bis zu 75 Milliarden Euro war in der Presse zu lesen. Eine Einigung scheint nicht in Sicht, die nächste Enttäuschung vorprogrammiert.

Ein positives Zeichen setzte dagegen die geglückte und würdevolle Restitution von mehr als fünfzig Human Remains im August 2018 nach Namibia. Zwar gab es auch hier Kritik, etwa daran, dass bestimmte Vertreter der Herero und Nama, die etwa zu den Klägern in New York gehörten, zunächst nicht eingeladen und auch deutsche Aktivistinnen und Aktivisten nicht zugelassen waren, aber die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Michelle Müntefering, vermied die Fehler von Cornelia Pieper und konnte ihr persönliches Bedauern über die deutschen Verbrechen glaubhaft vermitteln.

Müntefering reiht sich mit ihrer Bitte um Verzeihung ein in eine Reihe deutscher Politiker, die sich mittlerweile die koloniale Aufarbeitung und Entschuldigung auf ihre Fahnen geschrieben haben. So entschuldigte sich etwa der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda im April 2018 bei einem Empfang im Hamburger Rathaus für eine Delegation von Herero und Nama für den Genozid. Wenige Wochen später folgte ihm der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt.

Inzwischen hatte sich zur Debatte um koloniale Raubkunst die Debatte um den ersten deutschen Genozid gesellt. Insbesondere der Fall Gurlitt hatte dem Problemkomplex des Kunstraubes eine erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit beschert. Dieses Problembewusstsein wurde nun auf koloniale Sammlungen erweitert. Den Kristallisationspunkt bildete das Humboldt Forum in Berlin. Mit über 600 Millionen Euro wurde am Ort des Palastes der Republik das ursprünglich dort stehende Stadtschloss der Hohenzollerndynastie wieder aufgebaut. Um dem Bundestag die Entscheidung zu erleichtern und den Anschein der Preußennostalgie etwas abzuschwächen, sollten im Schloss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Dahlem ausgelagert worden war, ausgestellt werden. Was man dabei übersehen hatte, ebenfalls ein Beispiel für die nach wie vor herrschende koloniale Amnesie, war das koloniale Erbe des Schlosses und des Forums.

Schon der Schlossbau stellte die Verbindung zum ersten deutschen Genozid her, denn schließlich residierte dort auch der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II., dessen Truppen den Völkermord verübt hatten. Als gewichtiger erwies sich jedoch die Frage nach der Raubkunst. Vieles war in Kolonien gesammelt worden, in deutschen, aber auch in denen anderer Kolonialmächte. Die deutschen Kolonialbeamten waren sogar förmlich aufgerufen gewesen, Objekte nach Berlin zu schicken. Viele dieser Objekte waren unter Bedingungen erworben worden, die man nicht als freiwillig oder fair bezeichnen kann. Dazu gehören als wohl spektakulärste Objekte die Benin-Bronzen, die nach Europa kamen, nachdem 1897 britische Truppen Benin City (heute in Nigeria) erobert und geplündert hatten.

Lange Zeit ignorierten die Politik wie die Verantwortlichen des Humboldt Forums auch diesen Themenkomplex, bis der öffentliche Druck ab Mitte 2017 zu stark wurde. Einzelne Provenienzforschungsprojekte etwa zu Sammlungen aus Deutsch-Ostafrika wurden daraufhin ins Leben gerufen und Bekenntnisse zur Restitution im Einzelfall abgegeben. Ein Gesamtkonzept, eine rote Linie fehlt jedoch. Statt offenen Dialog versuchen die Verantwortlichen immer noch, mit Einzelaktionen die Kritik zu entkräften. Mal wird von den Machern auf die Notwendigkeit einer internationalen Übereinkunft analog zu den Washingtoner Prinzipien (1998) zum NS-Kunstraub gepocht, mal ein einzelner Gedenkraum im Humboldt Forum als Mahnmal an das koloniale Erbe ins Spiel gebracht. Weniger als zwölf Monate vor der geplanten Eröffnung ist noch völlig unklar, in welcher Form die Themen Kolonialismus und Raubkunst eigentlich präsentiert werden sollen. So belegt auch das Humboldt Forum gleichermaßen die Bedeutung, die die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus mittlerweile hat, aber auch das Unvermögen, hier proaktiv und innovativ damit umzugehen. Die koloniale Amnesie schwindet nur langsam.

Wachsender Druck

Dabei erhöht sich der Druck von außen. Insbesondere die Initiative des französischen Präsidenten Macron, der sich bereits 2017 in einer Rede in Burkina Faso zur Restitution afrikanischer Objekte in französischen Museen bekannte und mit Felwine Sarr und Bénédicte Savoy zwei Intellektuelle mit der Erarbeitung von Empfehlungen beauftragte, hinterlässt auch Spuren in Deutschland. Statt auf den großen, symbolischen Wurf setzt man hierzulande auf die prozedurale Detailarbeit. Ob das nur vorgeschoben ist, um eine Restitution hinauszuzögern oder tatsächlich zu umfassenden Handlungsanleitungen führen wird, ist unklar. Immerhin arbeitet eine Bund-Länder-Kommission unter Leitung des Hamburger Kultursenators Carsten Brosda an einer Stellungnahme seitens der Politik.

Es besteht jedoch weiterhin die Gefahr, dass die Aufarbeitung und Anerkennung des ersten deutschen Völkermordes gegen die Aufarbeitung der kolonialen Beutekunst ausgespielt, auf kulturellem Gebiet kleinere Zugeständnisse gemacht werden, weil man sich in der Frage von Völkermord und Wiedergutmachung nicht bewegen will oder kann. Ob der für das Humboldt Forum ins Spiel gebrachte Gedenkraum, wenn er denn überhaupt kommt, das Schicksal einer meist übersehenen Flughafenkappelle erleiden wird oder aber das Augenmerk wirklich auf die koloniale Geschichte des Humboldt Forums lenken kann, hängt auch davon ab, einen wie prominenten Platz er einnehmen wird. Sollte der Schlüterhof in Omaheke- oder Waterberghof umbenannt werden, wäre Sichtbarkeit gewährleistet, die Initiative glaubhaft. Was die Raubkunstproblematik angeht, so wäre eine innovative Lösung, das Eigentumsrecht an den geraubten Benin Bronzen zu restituieren und ausgewählte Objekte als Leihgabe im Humboldt Forum zu zeigen, welches man dann auch als für alle sichtbares Zeichen, dass man es ernst meint mit der Aufarbeitung, in Benin Forum umbenennen sollte.

Eine definitive Entscheidung in all diesen Fragen scheint noch nicht gefallen, allerdings wurde bekannt, dass das Humboldt Forum 2019 nur in Etappen eröffnet. Insbesondere die mit Spannung erwartete und umstrittene Dauerausstellung der Objekte aus dem Ethnologischen Museum werden nicht von Anfang an zu sehen sein. Das gäbe eigentlich Zeit für eine offene Debatte mit der deutschen Zivilgesellschaft und den internationalen Partnern, wenn man es nur wollte.

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Jürgen Zimmerer

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Foto: UHH/Dingler

Jürgen Zimmerer

Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg und leitet dort den Projektverbund "Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe".


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