Manifest der Kraft

Über den Suizid
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Die stilistisch hinreißenden Essays sind eindringlich, nie auftrumpfend oder bockig, leise, voller Respekt für sich und die Anderen.

Ich vermute, dass das liebe Geschlecht im Spiele war und dass irgendein Skandal drohte“, orakelte Thomas Mann über den Suizid von Stefan Zweig und dessen Frau Lotte im Exil. Zweig sei doch erfolgreich und sorgenfrei gewesen. Yiyun Li nennt das arrogant und schreibt in ihrem Essay „Erinnerung ist ein Melodrama, von dem niemand ausgenommen ist“: „Menschen, die nie Selbstmordgedanken hegen, neigen dazu, die Tat für selbstsüchtig und feindselig zu halten, aber sie übersehen einen entscheidenden Punkt. Man will nicht unbedingt sein Leben beenden, aber den Körper zu zerstören, kann zu der einzigen Möglichkeit werden, den Schmerz zu stoppen. Ich misstraue Urteilen über Selbstmord. Es sind letztlich Urteile über Gefühle.“

Acht intensive Essays und ein Nachwort enthält ihr Band „Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines“. Mit dem Suizid befassen sich alle, doch er beherrscht sie nicht. Der Titel ist ein Satz von Katherine Mansfield, deren Werk die 1972 geborene US-Chinesin schätzt. Die verheiratete Mutter zweier Söhne las vor allem Tagebücher, Briefe, Memoiren und Biographien ihr wichtiger Autoren, nachdem sie 2012 zwei Suizidversuche überlebt hatte. Schreiben mochte sie da erst mal nicht, trotz des literarischen Erfolges zuvor.

Mit 23 Jahren kam Yiyun Li aus Peking in die USA. Sie arbeitete zuerst als Immunologin. Dann wandte sie sich der Literatur zu, ihrer lebenslangen Liebe. Sie gewann Preise, erhielt Stipendien. Die Flucht vor der emotional übel übergriffigen Mutter, der KP-verseuchten Muttersprache und dem Trauma von Tiananmen in ein neues Leben schien gelungen, doch holte sie da offenbar etwas ein, mutmaßlich eine ausgewachsene Depression mit suizidalem Drall. Sie benennt das selbst nicht so, erzählt aber viel von den Aufenthalten in der Psychiatrie.

Ihre Anamnese ist literarisch, klug und bewegend. Die eigene Stimme – wohl sich selbst – findet sie im Dialog mit dem Gelesenen, im Reflektieren des Erlebten und über das Schreiben wieder. Die intim ehrlichen Essays berühren schon allein deshalb, weil Li autobiographisches Schreiben bisher stets von sich wies. Als eine, die existentiell überzeugt war, nichts und nichts wert zu sein, erobert sie jetzt die Fähigkeit, Ich zu sagen. Das tut sie subtil durchdacht, was erträgliche Distanz und zugleich überwältigende Nähe schafft, wie nur Literatur das kann.

Die stilistisch hinreißenden Essays sind eindringlich, nie auftrumpfend oder bockig, leise, voller Respekt für sich und die Anderen. Das mag selbsttherapeutisch sein, vor allem aber ist es ein sich selbst verwirklichendes Manifest der Kraft und Nähe durch Literatur, ein Bekenntnis zur Verbindlichkeit des Schreibens – ernst, bewegend, seltsam tröstlich. Es gibt über Selbstmord, Depression oder Erinnerung als unentrinnbare Melodramen vieles zu lesen, Lieber Freund, aus meinem Leben schreibe ich dir in deines ragt da mit seiner wohltemperierten Leidenschaft für die Literatur, der Gedankentiefe und seinem um das Leben ringenden Stil heraus. Hier kann man sich wiederfinden, noch bevor man sich verloren hat. Geschmack auf die bisher von Yiyun Li auf Deutsch vorliegenden Bücher macht der Band erst recht (die Romane Die Sterblichen sowie Schöner als die Einsamkeit und der Erzählband Tausend Jahre frommes Beten).

Li, die sich selbst stets als sehr zurückhaltende Frau beschreibt, begegnet uns im Umgang mit diesem schweren aufwühlenden Thema als große Schriftstellerin. Und sie zeigt darin dieselbe Entschiedenheit wie gegenüber Kritikervorwürfen, dass gerade sie mit ihrer Herkunft nicht politisch genug sei: „Wenn ich ihnen antworten würde, würde ich Folgendes sagen: ‚Ich habe mich im Leben oft von Drehbüchern abgewandt, die mir sowohl in China als auch in Amerika gegeben wurden; meine Weigerung, mich vom Willen anderer definieren zu lassen, ist mein einziges politisches Statement.‘“

Udo Feist

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