Gottes Design

Anknüpfung an Karl Barths Theologie im 21. Jahrhundert
Karl Barth (links) spricht mit Ulrich Bunzel und Detlev von Arnim-Kröchlendorff am Rande der Barmer Synode 1934. Die Fotografin Susanna Pfannschmidt schrieb Barth später: „Es war zwar nicht gerade freundlich von Ihnen, dass Sie sich im Augenblick des Knips
Karl Barth (links) spricht mit Ulrich Bunzel und Detlev von Arnim-Kröchlendorff am Rande der Barmer Synode 1934. Die Fotografin Susanna Pfannschmidt schrieb Barth später: „Es war zwar nicht gerade freundlich von Ihnen, dass Sie sich im Augenblick des Knips
Die aktuellen Jubiläen von Friedrich Schleiermacher und Karl Barth haben gezeigt, dass alte theologische Frontlinien noch immer vorhanden sind. Der Theologe Peter Scherle, Leiter des Predigerseminars der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, möchte Barths Denken für die heutige Theologie fruchtbar machen, denn ihm erscheint es mehr denn je fragwürdig, Gotteserkenntnis aus der Natur, der Geschichte oder dem Menschen zu gewinnen.

Auffällig ist angesichts der vielerorts scharfen Abgrenzungen gegen Karl Barth im theologischen Diskurs dieser Tage, dass sich die Auseinandersetzung mit Friedrich Schleiermacher weniger militant vollzieht. Die Zweifel an einer Theologie, die sich in den Modernisierungsprozessen der Neuzeit (mit Kant) auf das erkennende Subjekt und schließlich (mit Schleiermacher) auf die Innenwelt dieses Subjekts, eine „Provinz im Gemüt“ und das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“, zurückgezogen hat, sind dennoch begründet. Gegen diese Theologie, die mit der menschlichen Erkenntnis in der Geschichte beziehungsweise im erkennenden Subjekt und der Kommunikation zwischen den Subjekten ansetzt, ist es sehr viel schwerer in den offenen Kampf zu ziehen. Zu hoch scheint die Plausibilität, die in den gesellschaftlichen Sinn- und Wissensordnungen fest verankert ist. Wo sonst sollte denn das Nachdenken des Glaubens anfangen, als eben dort: im Menschen?

Mit Karl Barth und ihn weiter denkend nun erneut zu behaupten, dass jenseits des Menschen und der Weltwirklichkeit angesetzt werden muss, ist riskant und verführt dazu, sich selbst in (alten) Schützengräben zu verbarrikadieren. Vielleicht entsteht dieser Eindruck von Militanz durch die Barth‘sche Radikalität des Bruches mit den Voraussetzungen des Denkens, die die wissenschaftliche Theologie bis heute nachhaltig prägen: die historische Begründung und der anthropologische Bezugspunkt. Mit Gott anfangen zu wollen, erscheint dann bestenfalls verwegen. Anderen erscheint es dagegen unmöglich und deshalb im Kern ideologisch, weil es über die Voraussetzungen des eigenen Denkens keine Rechenschaft abzulegen scheint.

Aus heutiger Sicht - angesichts aller unserer Ernüchterungen im Blick auf die menschliche Weltgestaltung - lassen sich vier Erschütterungen des menschlichen Selbstbewusstseins in der Neuzeit notieren. Nach Galileo Galilei ist der Mensch nicht mehr im Zentrum des Universums. Charles Darwin lässt uns erkennen, dass wir ganz Teil der Geschichte der Arten sind, Teil der Natur. Sigmund Freud führt uns vor Augen, dass das Ich auch in sich selbst keine sichere Zuflucht mehr findet, sondern Dynamiken ausgeliefert ist, die es nicht kontrollieren kann. Schließlich - und das ist die „vierte Kränkung“ des Menschen, die Karl Barth noch nicht vor Augen hatte - lässt uns die Kybernetik (zum Beispiel Norbert Wiener) erkennen, dass auch der Traum von der Steuerung sozialer Prozesse nur ein Traum ist, der leicht zum Alptraum werden kann. Sehen wir außerdem alle vier Kränkungen im Zusammenhang, so erschüttern sie gleichermaßen die modernen Versuche, eine Gotteserkenntnis aus der Natur, der Geschichte oder dem Menschen zu gewinnen.

Fester Ausgangspunkt

So erscheint es heute fast noch mehr als vor hundert Jahren, als Barths Römerbrief in die theologischen Diskursgewohnheiten einbrach, notwendig, Zweifel an theologischen Versuchen anzumelden, die Gott aus dem menschlichen Subjekt, seiner Innenwelt und seiner Geschichte heraus denken wollen. Dass solche Zweifel verbreitet sind, zeigt sich daran, dass sich auch bei denen, die theologisch vom Subjekt her denken, nunmehr nur noch „die Rede von Gott“ beziehungsweise die Kommunikation, die aus dieser Rede hervorgeht und an sie anschließt, ins Zentrum des Nachdenkens rückt. Das ist nachvollziehbar und es scheint damit ein neuer - zumindest vordergründig - fester Ausgangspunkt für die Theologie gefunden worden zu sein.

Insofern erscheinen zwei theologische Denkwege als vielversprechend: Zum einen lässt sich mittels der Analyse des Sprachgeschehens tiefer in die Bedingungen religiöser Sprachpraxis und theologischen Denkens eindringen. Die vielfältigen Versuche in diese Richtung lassen erkennen, dass der Weg gerade für universitäre Theologie attraktiv ist, lässt sich doch dieses Denken als „wissenschaftlich“ ausweisen, zumindest im Kontext der Philosophie sowie der Sozial- und Kulturwissenschaften. Allerdings bleibt solche Theologie im Zusammenhang der Begründung der Möglichkeit von Gottesrede. Sie ist religionsphilosophisch notwendig, aber sie tut sich schwer, eine eigene Gotteserzählung zu riskieren, die den Gläubigen den Grund ihres Glaubens „präsentiert“. Dementsprechend fehlt es heute an mutiger (kirchlicher) Dogmatik, nicht aber an Lehrbüchern systematischer Theologie.

Die zweite theologische Bewegung, die sich anbietet, ist vielleicht gar nicht primär als „Denkweg“ zu benennen. Sie wäre vielmehr damit zu beschreiben, dass kirchliche Dogmatik riskiert wird. Ralf Frisch hat in seinem bemerkenswerten Buch „Alles gut. Warum die Theologie Karl Barths ihre beste Zeit noch vor sich hat“ die Kirchliche Dogmatik als eine Art „Gegenerzählung“ charakterisiert, als einen Versuch, Gott sozusagen in die Welt hinein zu erzählen. Diese Dogmatik wäre demnach in erster Linie als Kunstform und als ästhetisches Ereignis zu lesen, bei dem Form und Inhalt einander entsprechen. Dann würde sich auch in der Unabgeschlossenheit dieser Dogmatik zeigen, dass sich nicht mehr abschließend von Gott reden ließe, sondern - wie Barth es am Ende seines Lebens mit einer neuen Erzählung aus der Perspektive der Pneumatologie versuchen wollte - immer weiter und immer neu der verborgenen Präsenz Gottes nachzugehen wäre. Auch Johannes Fischer weist in eine ähnliche Richtung, indem er ethische Versuche der Gottes(re)präsentation in der Geschichte kritisiert. Gottes Präsenz, so die Kernaussage, lässt sich nur als verborgene Präsenz (etwa betend) glauben, nicht aber als geschichtlicher Tatbestand behaupten (vergleiche zz 12/2018).

Im Sinne dieser zweiten theologischen Bewegung verstehe ich auch die sieben Bände der Dogmatik, die Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928-2002) am Ende des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. Ich nehme sie als eine weitere „Gegenerzählung“ wahr, die über Barth hinausgehend nicht nur den Bruch der Erkenntnis, sondern auch den Bruch der Zivilisation als Bedingung theologischen Arbeitens ganz ernst genommen hat.

In seinem Nachwort zur Kirchlichen Dogmatik Barths hatte Marquardt schon dessen Abwendung von metaphysischer und historisch-anthropologischer Gottes-erkenntnis weiter gedacht. In seiner Aufnahme der Barth‘schen Formel „Kritischer müssten mir die Historisch-Kritischen sein!“ kündigte sich sein Versuch an, eine Dogmatik nach der Shoah zu schreiben. Von „Elend und Heimsuchung der Theologie“ handelt dementsprechend der erste Band. Aber die Dogmatik endet in dem siebten Band mit dem Titel: „Eia wär’n wir da - eine theologische Utopie“. Keine „Eschatologie“ wird hier entwickelt, sondern wir werden hineinerzählt in die himmlische Garten-Stadt der biblischen Zeugnisse. Eine Hoffnungslehre, die dem Glauben eine Sprache für die Welt auf dem Weg ins 21. Jahrhundert anbietet!

Viel zu wenig wurde diese Gotteserzählung rezipiert. Das lag sicher auch daran, dass diese Dogmatik in der dominanten systematischen Theologie schlicht ignoriert wurde, da sie nichts zum vorherrschenden religionsphilosophischen Diskurs beitrug. Marquardt wollte dies aber auch gar nicht, sondern er riskierte eine Gottes-Erzählung, die nach den Vernichtungsorgien des 20. Jahrhunderts nur mehr tastend und am Rande (als theologische Utopie eben) von Gott zu reden versuchte. Die Sprache, die sich Marquardt dafür lieh, war - über Barth hinausgehend - nicht mehr nur die biblische, sondern auch die der Rabbinen mit ihrer anti-metaphysischen und meta-historischen Denkweise. Nur so meinte Marquardt noch eine Sprachform für die Kirche in der Welt nach Auschwitz finden zu können. Mit dem anbrechenden 21. Jahrhundert ist die Möglichkeit der Gottesrede vor zusätzliche Herausforderungen gestellt. Die Brüchigkeit der Zivilisation ist von der geschichtlichen Erfahrung zu einer erdgeschichtlichen Möglichkeit geworden. Das hatte sich zwar schon mit dem ZerstörungsPotenzial der Nukleartechnologie und ihrer Vernichtungswaffen angekündigt. Mit der zunehmenden Eingriffstiefe der menschlichen Zivilisation in die planetarischen Lebensverhältnisse (menschengemachter Klimawandel, Eingriffe in die menschliche Keimbahn, Verschmelzung von Mensch, Maschine und Tier) ist die daraus resultierende Bedrohung nun zu einer Existenzbedingung geworden. Der vierfach gekränkte Mensch hat sich aufgemacht die Erde nach seinem Bild umzuformen. Wir leben im Anthropozän, dem Weltzeitalter, in dem das Sein zum Design geworden ist.

Diesen Prozess der Verwandlung der Weltgestaltung und der Welterfahrung haben die Geistes- und Humanwissenschaften insgesamt reflektiert. In immer neuen „turns“ hat sich die Festigkeit des „Seins“ in eine kaum mehr überschaubare Vielfalt der „Konstruktionen“ und „Dekonstruktionen“ von Wirklichkeit transformiert. Versuche dagegen an einem vorgegebenen natürlichen oder göttlichen „Grund des Seins“ festzuhalten, sind dadurch nur mehr als Entwürfe von Sein zu verstehen, als Design.

Macht des Designs

Das mag etwas zu flott die bewundernswerten Denkanstrengungen in der so genannten Postmoderne zusammenfassen. Aber eine zentrale Erfahrung heutigen menschlichen Lebens ist damit gut zu erfassen. Die Macht des Designs ist die besondere Charakteristik des Lebens im „kulturellen Kapitalismus“, wie ihn etwa Andreas Reckwitz („Die Gesellschaft der Singularitäten“) oder Luc Boltanski und Arnaud Esquerre („Bereicherung. Eine Kritik der Ware“) analysiert haben. Dabei geht es nicht nur um die Warenform, das heißt, die Aufladung von Waren mit Bedeutung, sondern um die Umformung des Menschen selbst zur Ware, deren Wert sich durch die Möglichkeiten bestimmt, das eigene Leben zu „designen“.

Der Entwurf des eigenen Lebens, das Design der eigenen Profile in den Kommunikationsmedien unserer Zeit, wird entscheidend für die sozialen Positionen und gesellschaftlichen Chancen. Im Vollzug des digitalen Wandels stehen heute ganz neue technische Möglichkeiten zur Verfügung, die das designte Leben zu ständig abrufbaren Simulationen machen. Mit der Menge an Daten, den Rechenleistungen von Prozessoren und immer weiter entwickelten Algorithmen lässt sich das Leben immer umfassender digitalisieren und als Simulation beliebig reproduzieren. Der Mensch lebt im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit. Die umfassende Datenerhebung in China macht es so inzwischen möglich, dass rechnerische Simulationen einer Lebensgeschichte durch den Staat zum Grund der Entscheidung über diese Lebensgeschichte werden. Hier gilt: Wer die Macht über sein Profil, sein Lebens-Design verliert, verliert die Macht über das eigene Leben. Es wird von anderen simuliert.

Unter diesen Bedingungen wird Gottesrede als Imagination, als Hineinerzählen der anderen Wirklichkeit Gottes in die menschliche Wirklichkeit, vor neue Herausforderungen gestellt. Die Welt-Simulationen des digitalen Zeitalters saugen uns weit stärker auf, als es die Imaginationen der Sprache und des Buches, ja sogar der Klang- und Bildmedien vermochten. So genannte „Virtual-Reality-Brillen“ stehen für ein Bewusstsein, das simulierte Welten als Realität begreift - vielleicht auch für den Fall, dass der Planet zur lebensfeindlichen Welt wird.

Eine christliche Gegenerzählung, eine kirchliche Dogmatik, wäre dann fast genötigt, das Kommen Gottes als Einbruch der realen Welt Gottes in die vom Menschen designte und als Simulation erlebte Welt zu behaupten. Dogmatik müsste dann die beschädigte Schöpfung als jene Realität verstehen, in der Gott zur Welt kommt. Sie müsste ihre Sprache in den Brüchen der terrestrischen Zivilisation suchen und darin jene Welt imaginieren, die sich Gott erwählt hat.

Dogmatik hätte also die Aufgabe, die Preisgabe des Planeten und die Flucht in simulierte Welten als ihren Kontext zu begreifen. Indem sie dies tut, stellt sie sich der Notwendigkeit, das Fehlen des Gottes ernst zu nehmen, der sich das Leben erwählt und sich selbst an seine Kreatur gebunden hat. In einer ganz vom Menschen designten Welt, in der Gott keine Herberge mehr findet und in der das Leben der Kreatur, mit der sich Gott verbündet hat (vom terrestrischen Bund über die Bündnisse mit Abraham, Mose und Christus), so eklatant durchkreuzt wird, ist Gottes Lebensmächtigkeit und Lebendigkeit fraglich. Dagegen kann die Hoffnung stark gemacht werden, dass Gott uns einen Raum bereitet, in den auch Christus voraus gegangen ist, um die Kreatur dort zu beheimaten. Anders kann Gott nicht mehr behauptet werden. Ob sich dieser Gott des Lebens jedoch bewahrheitet, wird eine kirchliche Dogmatik als ganz offene Frage mitführen müssen. Vielleicht ist sie deshalb in letzter Konsequenz als Denken aus dem Gebet kenntlich zu machen, und ihre sich Gott in die Arme werfenden Äußerungen am Rande als doxologisch zu verstehen. Denn die Sehnsucht, dass Gott uns nicht fehlen (und das göttliche Angesicht nicht von uns abwenden) möge und der Kreatur einen unzerstörbaren Lebensraum bereitet, ist nichts, aus dem systematisch-theologische Ableitungen möglich sind.

Nach wie vor wird solche Dogmatik ihre Sprachmächtigkeit aus den biblischen Texten gewinnen müssen und können. Denn auch diese Texte gewannen ihre Kraft zur Gottesrede aus einer neuen Gotteserfahrung in den Brüchen des Lebens, zentral der Exilierung des Gottesvolkes und der Kreuzigung des Gottessohnes. Gott als Virtual Reality der Welt konnte dabei nur mit den Mitteln und Erfahrungen dieser Welt zur Sprache gebracht werden. Eben deshalb eignen sich die Erzählungen von der himmlischen Garten-Stadt, vom hochzeitlichen Festmahl und vom Jubilieren der erlösten Kreatur auch für eine kirchliche Dogmatik im Anthropozän. Sie erzählt dem vierfach gekränkten Menschen, der sich angesichts des Bösen, des Todes und der Sünde als überforderter Welt-Designer versucht, von einem Gott, der den Kosmos schon designiert hat - zur Neuschöpfung.

Peter Scherle

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Foto: privat

Peter Scherle

Peter Scherle, Jhg. 1956, ist Pfarrer i.R. der EKHN. Er war bis 2020  Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar Herborn und Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Irish School of Ecumenics (Trinity College Dublin).


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