Der lange Weg zur Religionsfreiheit

Es dauerte Jahrhunderte, bis alle Konfessionen und Weltanschauungen gleichberechtigt wurden
Demonstration gegen Christenverfolgung in muslimischen Ländern, Frankfurt/Main, 2011. Foto: epd/ Thomas Rohnke
Demonstration gegen Christenverfolgung in muslimischen Ländern, Frankfurt/Main, 2011. Foto: epd/ Thomas Rohnke
Die religionsrechtlichen Regelungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 bedeuteten das vorläufige Ende des langen Weges Deutschlands zur Religionsfreiheit und ihrer rechtlichen Garantie für den Einzelnen und die Religionsgemeinschaften. Dynamik und Etappen dieses Weges zeichnet Horst Dreier nach. Er ist Professor für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg.

Religionsfreiheit hat ihren Durchbruch in Deutschland nicht schlagartig in einem revolutionären Akt erzielt und ist auch nicht fanalhaft in einem einzigen großen Dokument verkündet worden. Vielmehr hat sie sich schrittweise in einem jahrhundertelangen Prozess entfaltet. Um die wichtigsten Etappen dieser Entwicklungsgeschichte zu rekonstruieren, müssen wir daher weit hinter die amerikanische und französische Revolution zurückgehen, die mit ihren großen Menschenrechtserklärungen gemeinhin den Beginn der modernen Grundrechtsgeschichte markieren. Denn die Religionsfreiheit hat ältere Wurzeln.

In der christlichen Einheitswelt des Mittelalters konnte sich die Frage nach Religionsfreiheit noch nicht stellen. Von der offiziellen Kirchenlehre abweichende Glaubensrichtungen wurden als Häresien oder Irrlehren bekämpft. Auf diese Weise wollte man anfangs auch der Reformation Martin Luthers begegnen, doch erwies sich dessen Lehre als ebenso beständig wie widerständig - und gewann viele Anhänger nicht zuletzt unter den deutschen Landesfürsten. Die daraufhin ausbrechenden kriegerischen Konflikte fanden ihr Ende zunächst im Augsburger Religionsfrieden von 1555. Freilich brachte dieser, um eine prägnante Formulierung des Weimarer Staatsrechtslehrers Gerhard Anschütz zu verwenden, „nicht Glaubensfreiheit, sondern Glaubenszweiheit“ - und selbst diese nur auf der Ebene des Reiches, das allein dadurch vor dem Zerfall bewahrt werden konnte. Reichsrechtlich waren jetzt zwei Glaubensbekenntnisse anerkannt: das katholische und das evangelische. Doch bedeutete diese Glaubenszweiheit eben noch keine Glaubensfreiheit für die Menschen. Ein solches Wahlrecht zwischen den beiden Bekenntnissen stand nur den Territorialherren zu. Gemäß dem Grundsatz des cuius regio, eius religio (frei übersetzt: wem das Land gehört, der bestimmt den Glauben) konnten sie den Glaubensstand für die Untertanen verbindlich festlegen (ius reformandi) - und durften Andersgläubige vertreiben. Wenn man so will, gab es hier Glaubensfreiheit nicht gegen die Obrigkeit, sondern als Herrschaftsrecht. Angesichts der strengen konfessionellen Geschlossenheit in den Territorien fehlte also von Religionsfreiheit jede Spur. Und doch brachte der Frieden von 1555 etwas mit sich, das als bescheidener Anfang wenn nicht religiöser Freiheit, so doch religiöser Freizügigkeit (Martin Heckel) angesehen werden kann: die ausdrücklich als subjektives Recht ausgestaltete Auswanderungsfreiheit konfessionsverschiedener Untertanen. Die Bedeutung dieses Emigrationsrechts war im föderal strukturierten Reich mit seiner Vielzahl an Territorien und Herrschaftsverbänden nicht zu unterschätzen.

Einen entscheidenden Schritt fort vom geschlossenen Konfessionsstaat hin zur Anerkennung verschiedener Glaubensbekenntnisse ging ein Jahrhundert später der Westfälische Frieden von 1648. Er schränkte zum einen das ius reformandi des Landesherrn durch die Fixierung eines sogenannten Normaljahres empfindlich ein. Die Religionsausübung sollte in Zukunft in dem Umfang gewährleistet sein, in dem die Bekenntnisse 1624 öffentlich hatten ausgeübt werden dürfen. Diese Regelung konservierte den im Normaljahr praktizierten Glaubensstand und entzog ihn dem verändernden Zugriff des Landesherrn. Er musste nunmehr im Unterschied zu 1555 dulden, dass zu seinen Untertanen konfessionsverschiedene Personen gehörten. Noch wichtiger war vielleicht eine weitere religiöse Mindestgarantie, die Hausandacht (devotio domestica). Sie kam jenen andersgläubigen Untertanen zugute, die nicht unter dem Schutz der Normaljahrsregelung standen. Bezeichnenderweise taucht hier zum ersten Mal im Reichsverfassungsrecht der Begriff der Gewissensfreiheit (libertas conscientiae) auf - wird doch mit dieser Regelung der Gewissensnot des Andersgläubigen abgeholfen, der nun in privater Abgeschiedenheit mit Familie und Gesinde gemäß den Regeln seiner Konfession beten und Andacht halten kann. Eine öffentliche Bekundung, also ungestörte Religionsausübung, blieb freilich ausgeschlossen. Die öffentliche Präsenz Andersgläubiger mit womöglich demonstrativer Zurschaustellung ihrer Andersartigkeit galt als Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Ordnung. Man sieht, dass die Religionsfreiheit hier noch eine gestufte ist: über der Hausandacht als unterster Stufe stehen das exercitium privatum und das exercitium publicum. Und sie ist eine in der thematischen Reichweite beschränkte, da die schützenden Normen des Westfälischen Friedens nicht etwa für die sogenannten Sekten, sondern allein (aber immerhin) für Katholiken, Lutheraner und Reformierte gelten.

Paritätische Pluralisierung

Diese drei christlichen Konfessionen waren es auch, die das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 im Geiste einer - wohlgemerkt immer noch innerchristlichen - paritätischen Pluralisierung gleichstellte. Sie hatten den Status von öffentlich-rechtlichen Korporationen inne, und ihnen stand gleichermaßen die öffentliche Religionsausübung mit „Turm und Glocken“ zu. Ganz entgegen landläufiger Vorstellungen von Preußen als ewigem Hort der Reaktion sind in der Kodifikation als Frucht der Aufklärung bemerkenswert liberale Grundsätze niedergelegt, ja lassen sich hier kräftige „Wurzeln der Religionsfreiheit“ (Gerhard Anschütz) finden. Die Begriffe „von Gott und den göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen seyn“, heißt es da etwa, und ferner: „Jedem Einwohner im Staate muß eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreyheit gestattet werden.“ Damit war etwa das reichsrechtliche Verbot von Sekten für die preußische Monarchie für unwirksam erklärt. Desgleichen war der Kirchenaustritt geregelt („Jedem Bürger des Staats, welchen die Gesetze fähig erkennen, für sich selbst zu urtheilen, soll die Wahl der Religionspartey, zu welcher er sich halten will, frey stehn“), auch wenn es ihn nur als Kirchenübertritt gab („Der Übergang von einer Religionspartey zu einer andern geschieht in der Regel durch ausdrückliche Erklärung“).

Für die Ausbildung der Religionsfreiheit als subjektives Recht des Individuums spielt Preußen also insgesamt eine echte Vorreiterrolle. All das hinderte den spätabsolutistischen preußischen Staat freilich nicht daran, ein strenges Aufsichtsrecht über die Kirchen zu führen, sie ganz offen in den Dienst staatlichen Untertanengeistes zu stellen und ein landesherrliches Kirchenregiment zu errichten. An eine Trennung von Staat und Kirche war noch nicht gedacht. Das geschieht erst in der Paulskirchenverfassung von 1848/49, die in ihrer geradezu spektakulären Modernität auch diesen Schritt ging und im Übrigen ein klares und konsequent liberales Religionsprogramm ausformulierte: volle Glaubens- und Gewissensfreiheit für jedermann (§ 144), unbeschränkte häusliche und öffentliche Übung der Religion (§ 145), freie Bildung neuer Religionsgemeinschaften ohne Anerkennung durch den Staat (§ 147 Absatz 3). Damit war die stilbildende Trias der Religionsfreiheit etabliert: Glaubens- und Gewissensfreiheit, Kultusfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Zur Abrundung der institutionellen Seite heißt es dann, wie angedeutet, noch in § 147 Absatz 2: „Keine Religionsgemeinschaft genießt vor andern Vorrechte durch den Staat; es besteht fernerhin keine Staatskirche.“ Entfallen ist mit alledem die Privilegierung der christlichen Konfessionen, entfallen ferner die staatliche Aufsicht über die Religionsgemeinschaften, entfallen schließlich das abgestufte System von exercitium publicum, exercitium privatum und Hausandacht, entfallen letzthin jede Identifikation des Staates mit einer bestimmten Glaubensrichtung. Treffend hat man das Religionsprogramm der Paulskirchenverfassung als Ausdruck einer „aufgeklärten Säkularität“ bezeichnet (Wolfgang Huber), weil es auf Entfaltung der Religionsfreiheit abzielt, dem Staat aber weder religiöse Funktionen zuschreibt noch ihm umgekehrt die Befreiung von der Religion zur Aufgabe macht.

Nun ist bekannt, dass die Paulskirchenverfassung niemals in Kraft trat, sondern den wiedererstarkenden restaurativen politischen Kräften zum Opfer fiel. Aber sie strahlte weit und wirkmächtig aus, und das nicht nur langfristig. Einige Regelungen fanden bereits Eingang in die bis 1918 gültige Preußische Verfassungsurkunde von 1850. So gewährleistete Artikel 12 die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften und erstreckte die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte auf alle Staatsbürger ohne Unterschied der Religion: „Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften […] und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsausübung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse.“ Gleichwohl wird mit Blick auf diese Epoche oft vorschnell und viel zu pauschal von Preußen als einem „christlichen Staat“ gesprochen, und zwar wegen des Artikels 14 dieser Verfassung: „Die christliche Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staats, welche mit der Religionsübung im Zusammenhange stehen, unbeschadet der im Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit, zum Grunde gelegt.“ Indes ist dreierlei zu bedenken. Erstens sind damit die viel weitergehenden Vorstellungen, die der hochkonservative Politiker und Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl in seiner Programmschrift von 1847 („Der christliche Staat“) vertreten hatte, nicht realisiert. Zweitens wird das Christentum oder eine bestimmte Konfession nicht als Staatsreligion etabliert, wie das etwa bei der Charte Constitutionelle Française von 1814 der Fall gewesen war („Indessen ist die römisch-katholische Religion die Religion des Staats“). Drittens standen hinter dem nicht leicht zu interpretierenden Artikel 14 konkrete Befürchtungen, dass ohne eine solche explizite Bestimmung die staatliche Anordnung der Sonntagsruhe, der christlichen Feiertage oder der christlichen Militärseelsorge nicht mehr unangreifbar seien.

Obwohl das 19. Jahrhundert insgesamt deutliche Fortschritte in Richtung Religionsfreiheit brachte, gestalteten sich die Verhältnisse in den zahlreichen deutschen Staaten doch sehr unterschiedlich. Bei weitem nicht alle waren so modern wie Preußen - das allerdings seinerseits im so genannten Kulturkampf ab 1871 zentrale Errungenschaften explizit oder implizit zurücknahm.

Im Kaiserreich hielt sich die Vereinheitlichung durch reichsgesetzliche Regelungen in Grenzen. Das einschlägige Gesetz zur Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung (1869/71) bezog sich auf die Individuen, nicht auf die Religionsgemeinschaften. Während die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter und die Wahlberechtigung für Gemeinde- und Landesvertretungen nunmehr reichsweit unabhängig vom religiösen Bekenntnis waren, konnten bis zum Ende des Kaiserreiches Länder wie Bayern und Sachsen an Beschränkungen der religiösen Vereinigungsfreiheit festhalten und bestimmten Kirchen Vorrechte bei der öffentlichen Religionsausübung einräumen. Ferner blieb es bei der religiösen Prägung der Eidesformeln, die auch für jene obligatorisch waren, die in der Anrufung Gottes einen Gewissenszwang sahen. Schließlich hielt man an der Erstreckung der Schulpflicht auf den Religionsunterricht fest: weder hatten die Eltern einen Anspruch auf Befreiung ihrer Kinder noch hatten die Lehrer das Recht, die Erteilung dieses Unterrichtsfaches abzulehnen.

Tragfähiger Kompromiss

Alledem bereitet erst die Weimarer Reichsverfassung (wrv) von 1919 ein Ende. Sie markiert eine „Epochenschwelle“ (Martin Heckel) und den endgültigen Durchbruch zu einem säkularen Religionsverfassungsrecht, auch wenn man in mancherlei Hinsicht an vorhandene Regelungen und Konzepte anknüpfen konnte. Die individualrechtlichen Garantien der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Kultusfreiheit und der Vereinigungsfreiheit (Art. 135, 137 Absatz 2 wrv) werden fast wörtlich aus der Paulskirchenverfassung übernommen. Eidesleistungen dürfen nun ohne den Zusatz „So wahr mir Gott helfe“ erbracht werden (Art. 136 Absatz 4 wrv). Mit dem ebenso schlichten wie kategorischen Satz „Es besteht keine Staatskirche“ (Art. 137 Absatz 1 wrv) ist zudem das jahrhundertealte System des landesherrlichen Kirchenregiments beseitigt. Vor allem aber gelang es, für viele der heftig umstrittenen Fragen in der Nationalversammlung einen tragfähigen Kompromiss zu finden. Konkret bedeutet dieser „Weimarer Kirchenkompromiß“, dass es weder, wie konservative kirchliche Kreise dies anstrebten, bei weitestgehender Besitzstandswahrung und Privilegierung der Großkirchen blieb, noch, was die sozialistische Linke anstrebte, ein laizistisches Trennungssystem nach französischem Muster etabliert wurde. Um nur zwei besonders wichtige Beispiele zu nennen: Der Religionsunterricht blieb ordentliches Lehrfach und insofern Pflichtfach für die Schule, aber nicht länger für Schüler und Lehrer (Art. 149 wrv). Die großen Kirchen blieben, was ihnen besonders wichtig war, Körperschaften des öffentlichen Rechts, doch wurde dieser Status bei Erfüllung gewisser organisatorischer Mindestvoraussetzungen nun für andere Religionsgemeinschaften geöffnet; bedeutsam war insofern die ausdrückliche Gleichstellung der Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 137 Absatz 5 und 7 wrv).

Wie klug und wohlproportioniert man diesen Kompromiss austariert hatte, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass der Parlamentarische Rat im Jahre 1949 mit Artikel 140 des Grundgesetzes die entsprechenden Bestimmungen inkorporierte. Mit diesem „doppelten Kompromiß“ (Alexander Hollerbach) lebt ein wesentliches Stück der Weimarer Reichsverfassung in unserer Verfassung fort.

Literatur

Horst Dreier: „Staat ohne Gott - Religion in der säkularen Moderne“, Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, C.H. Beck Verlag, München 2018, Euro 26,95.

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Horst Dreier

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