Mikrofarm löst Makroprobleme

Warum ein kleiner Gemüsehof in der Normandie weltweit beachtet wird
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Mit naturnahen Anbautechniken aus aller Welt und ohne den Einsatz von Maschinen erzielt ein Gemüsehof in der französischen Normandie erstaunliche Erträge. Agrarwissenschaftler sind begeistert. Lässt sich so in Zukunft die wachsende Weltbevölkerung ernähren?

Das wichtigste Werkzeug von Charles Hervé-Gruyer sieht aus wie eine sehr breite Forke, gekreuzt mit einer überdimensionierten Nudelmaschine auf Rädern. Mit dem Fuß drückt er die achtzig Zentimeter lange Reihe Zinken in die Erde. Dann zieht der Farmer das Gerät an zwei langen Stielen zu sich heran. Es bewegt sich ein Stück nach vorne, die Zinken tauchen wieder auf. Und der satte, feuchte Duft fruchtbarer Erde steigt auf. „So lockern und belüften wir den Boden, ohne ihn umzugraben“, erklärt der 60-Jährige Betreiber der Farm Bec Hellouin im gleichnamigen Ort in der französischen Normandie. „Würmer, Asseln, Käfer, Mikroorganismen, die Vielfalt der Natur bleibt ungestört, schließlich sind wir nur die Diener des Bodens.“

Charles Hervé-Gruyer zeigt auf den achtzig Zentimeter breiten, zehn Meter langen Streifen schwarzer Erde, eine der wenigen nicht bedeckten Flächen auf der Farm. Rund herum schlängeln sich die Stengel von Kürbis-Pflanzen über Misthaufen und Dämme, blühen Zucchini, wuchern Basilikum und andere Kräuter. Rüben, Kohl, Porree, Mangold und Topinambur wachsen unter Obst- und Wallnussbäumen mit prallen Früchten. An Maispflanzen ranken sich Bohnen in den Himmel, über den der Wind schwarze und weiße Wolken treibt. Und wo gerade nichts wächst, verrotten Mulch oder Pflanzenreste auf den Beeten.

Alles von Hand

Einen Traktor oder Pflug sucht man an diesem Ort ständigen Wachstums und Verfalls vergeblich. Charles Hervé-Gruyer und seine Frau Perrine bearbeiten die Beete ihres Betriebes ausschließlich von Hand. Sie wollen keinen fossilen Treibstoff einsetzen, ebensowenig wie Kunstdünger und Pestizide. So weit wie das Ehepaar geht sonst kein Biobauer. Geräte wie den oben beschriebenen Boden-Belüfter mussten sie sich selbst konstruieren.

Die Handarbeit spart nicht nur Kosten und verbessert die Klimabilanz ihres Gemüses. Sie ermöglicht Techniken und Kniffe, die Maschinen nicht zulassen. „Ein Traktor könnte auf diesem Streifen nicht mehr als drei Reihen Karotten pflanzen, wir kultivieren darauf Radieschen, Karotten, Salat und Kohl in zwölf Reihen.“

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Aber wie kann so viel verschiedenes Gemüse auf so kleinem Raum gedeihen? Die Radieschen wachsen schnell und spenden Schatten für die Karotten, die ein kühles und feuchtes Mikroklima brauchen. Weil das Beet dicht bewachsen ist, finden unerwünschte Pflanzen, auch Unkraut genannt, keinen Platz. Wenn die Radieschen und der Salat nach sechs bis sieben Wochen aus dem Boden kommen, füllen die Gärtner den Platz mit Kohl. Die Karotten ziehen sie sukzessive heraus, zunächst die kleinen in Bündeln. „Die verkaufen sich gut, und die Verbliebenen haben ausreichend Platz, um groß zu wachsen.“

Mit ihrer Farm erzielen Charles und Perrine Hervé-Gruyer erstaunliche Erträge: Auf gerade einmal 10.000 Quadratmetern, der Fläche eines Fußballfeldes, ernten sie genug, um einhundert Menschen das ganze Jahr hindurch mit Biogemüse allerbester Qualität zu versorgen. Zu den Verbrauchern zählen Privathaushalte sowie die Küchen von Restaurants in der nahen Seine-Stadt Rouen. Zudem ernährt die Farm ihre Betreiber und deren zehn und zwölf Jahre alten Töchter, die zwei Gartenhelfer, die Bürokraft und den Koch, der in der Hofküche Obst und Gemüse in große Weckgläser für den hofeigenen Laden einkocht.

Portrait Makschies
epd/Norbert Neetz

Die erstaunliche Effizienz der handbetriebenen Mikrofarm hat die Forscher des nationalen französischen Agrarforschungsinstitut Inra in Erstaunen versetzt. Über vier Jahre haben sie penibel die Erträge auf Bec Hellouin gezählt und gewogen. „Das Ergebnis wollten sie zunächst gar nicht glauben.“ Charles schmunzelt. Orientiert an den Preisen für Gemüse aus Biolandwirtschaft in der Normandie ergab sich ein Quadratmeterertrag der Farm von 55 Euro pro Jahr. Das ist ein Vielfaches dessen, was konventionelle, mit Maschinen arbeitende Betriebe erwirtschaften.

Seit der vor zwei Jahren veröffentlichten Studie sind die Fortbildungen des Ehepaars ausgebucht und zu einer zusätzlichen Einkommensquelle geworden. Besucher aus aller Welt kommen auf die Farm, darunter nicht wenige Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Ministerien laden die Gemüsebauern ein. Sie haben Mikrofarmen im Rahmen der Pariser Klimakonferenz gestaltet und für den Park eines der bekanntesten Loireschlösser. „Nur das Landwirtschaftsministerium hat noch keinen Kontakt zu uns aufgenommen.“ Charles lächelt süffisant.

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Im Wesentlichen funktioniert die Farm nach den Prinzipien der Permanent Agriculture, auch Permakultur genannt. Bei dauerhafter Landnutzung gedeihen die Pflanzen in einem sich selbst erhaltenen Kreislauf nach dem Vorbild eines Waldes. Auf einer dicken Humusschicht wächst eine naturnahe Vielfalt voller komplexer Wechselwirkungen. Die Pflanzen nutzen in unterschiedlichen Höhen das Sonnenlicht, spenden sich gegenseitig Schatten, bereiten einander mit ihren Wurzeln den Boden vor, binden oder verbrauchen Nährstoffe. Nützlinge schützen sie vor Schädlingen.

Statt einer einseitig ausgerichteten Landwirtschaftsfläche entsteht ein Naturraum, in dem wilde Flora und Fauna Platz finden. Die über zwanzig Teiche auf Bec Hellouin zum Beispiel sorgen für Luftfeuchtigkeit in den Gemüsebeeten und können für die Bewässerung genutzt werden. Sie sind aber auch Lebensraum seltener Libellenarten und zahlreicher Wasservögel. Wilde Bienen tanken in ihnen Wasser.

Mischkulturen

„Die Permakultur ist ein Rahmen, den wir sehr vielseitig auffüllen.“ Perrine steht in dem Gewächshaus der Farm oder besser gesagt: Sie wuselt zwischen den Hochbeeten herum, in denen unter anderem acht Sorten Tomaten, zehn Sorten Basilikum, sieben Sorten Paprika, Feigen, Gurken, Lavendel, Wein, Chinakohl, Spinat, Ingwer, Auberginen, Kurkuma, Bananen, Zwiebeln, Knoblauch und Zitrusfrüchte wachsen. Die besten Kniffe für Mischkulturen haben die Beiden aus Büchern der Pariser Marktgärtner des 19. Jahrhunderts gelernt. „Die waren in der Lage, mit Gemüseanbau auf engstem Raum die Stadtbevölkerung zu ernähren.“

Immer wieder verschwindet Perrine in dem Dschungel des Gewächshauses, verlegt einen Bewässerungsschlauch, schneidet Gemüse ab, zieht welke Blätter aus dem Dickicht und taucht wieder auf. „Andere Einflüsse sind die Waldbauern Amazoniens, asiatische Forschungen zu effizienten Mikroorganismen oder die biointensive Landwirtschaft des US-Amerikaners Eliot Coleman.“ Nützlich seien Jahrtausende alte Methoden ebenso wie moderne Erkenntnisse, wie etwa über die Kommunikation zwischen den Wurzelsystemen von Pflanzen. „Schließlich verdoppelt sich alle fünf Jahre das Wissen über die Vorgänge in der Natur.“

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Als Perrine und Charles Hervé-Gruyer das Land kauften, war es aufgrund seiner dünnen Humusschicht nur als Weide zu gebrauchen. Überwiegend mit Biomasse von der eigenen Farm schufen sie innerhalb von zehn Jahren die nährstoffreichsten Böden der Umgebung. Auch das wurde langfristig untersucht und belegt durch die Studie eines belgischen Wissenschaftlers.

Mit Intuition

Auf Tafeln und Plänen im Gewächshaus steht geschrieben und gezeichnet, wo was wann wächst und zu tun ist, ein Netz von Strichen und Linien unterteilt die Farm in Hunderte Kleinst-Einheiten. „Der Plan ist vor allem für die beiden Helfer, ich erledige das meiste aus dem Kopf und lasse mich von meiner Intuition leiten“, erklärt Perrine. „So kann ich flexibel reagieren auf das, was die Natur vorgibt.“ Professor Zufall ist dabei ein wichtiger Lehrer auf Bec Hellouin.

Eigentlich sind die Beiden Aussteiger. Charles betrieb ein Schiff, um mit Jugendlichen jeweils für ein Jahr um die Welt zu segeln. Das schwimmende Klassenzimmer machte unter anderem bei Ureinwohnern in Französisch Guyana halt, deren nachhaltige Lebensweise ihn tief beeindruckte. Von den Segeltörns produzierte er international beachtete Filme.

Die fünfzehn Jahre jüngere Perrine arbeitete als Business-Anwältin, unter anderem in Tokio. Sportbegeistert und gesundheitsbewusst, interessierte sie sich für naturnahe Ernährung und darüber für Landwirtschaft. Beide waren unzufrieden mit ihrem bisherigen Leben. Das erste Land in der kleinen Gemeinde Bec Hellouin kauften sie vor zwölf Jahren, zunächst um sich selbst zu versorgen. Sie mussten viel harte Arbeit in die Farm stecken. Und sehr viele Rückschlägen einstecken. Die ersten Jahre lebte das Paar von Ersparnissen und Tantiemen von Charles Filmen.

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Die Geduld hat sich ausgezahlt. In den vergangenen Jahre sei die Vielfalt gewachsen und mit ihr das Einkommen, sagt Charles. „Selbst wenn in einem Teil der Farm etwas passiert, ein Sturmschaden, Krankheiten oder Schädlingsbefall, wird das an anderer Stelle ausgeglichen.“ Auch einen extrem trockenen Sommer wie den letzten übersteht die Farm ohne große Probleme. „Unsere Böden, das vielfältige Wurzelgeflecht und der dichte Bewuchs sind wie ein großer Schwamm, der die Feuchtigkeit speichert.“ Zudem binden die Böden ein Vielfaches an Kohlendioxid im Vergleich zu anderen, landwirtschaftlich genutzten Flächen.

„Viele meinen, wir wollten zurück in die Steinzeit, dabei geht es um die Zukunft“, sagt Charles trotzig. Denn die Frage, wie eine immer weiter wachsende Weltbevölkerung versorgt werden soll, steht ja im Raum. Charles verweist darauf, dass sich der Großteil der Menschen auf der südlichen Halbkugel immer noch von Mikrofarmen ernähre, die sie überwiegend von Hand bearbeiten müssten.

Am Abend kommt die Sonne wieder durch die Wolken. Im Garten explodieren auf kleinstem Raum die Gerüche. Auf einer Bank aus verwittertem, von Flechten überzogenen Holz lässt es sich bestens über das Gelände blicken. Sollten Mikrofarmen wie Bec Hellouin in Zukunft für unser Essen sorgen, wäre das ökologisch sinnvoll. Und sehr schön anzusehen.

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Klaus Sieg (Text) und Martin Egbert (Fotos)

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