Die Lücke schließen

Warum wir die Bibel um aktuelle Schriften erweitern sollten
Foto: Privat

Warum? Die Antwort auf die Frage nach dem Warum ist bei Pastorinnen und Pastoren sehr oft ein Zitat – ein Zitat aus der Bibel, einem reformatorischen Text, einem kirchlichen Beschlusspapier. Aber was, wenn man mit dieser Technik auf einen trifft, der die Autorität der zitierten Quelle in Frage stellt? So einer bin ich. Ich habe vor kurzem ein Buch über die evangelische Kirche geschrieben und ich freue mich sehr über die Reaktionen. Denn zum ersten Mal habe ich es geschafft, eine kritische Schrift über die Kirche zu schreiben, bei der nicht alle einfach nur „Danke, dass Sie es aussprechen, aber...“ schreiben, sondern mancher Pastor öffentlich gar direkt beleidigend ausfallend wird. Gott sei Dank, es ist noch Leben da! Die Provokation ist für mich schon immer ein gutes Mittel zum Zweck. Sie erschafft ein tosendes Treiben, in dem die Argumente aufeinanderprallen und im besten Fall durch Reibung neue Kraft erzeugen. Beleidigt mich lieber, als euch zu bedanken. Streitet mit mir, statt nur mit den Schultern zu zucken! Wir haben alle mehr davon. Ich habe mich entschieden, einen radikalen Traditionsbruch zu formulieren. Ich spreche aus, was für die Masse der Christenheit längst innere Normalität geworden ist: Die Bibel ist kein Argument mehr. Die Bibel ist entzaubert. Ihren Widerstand kenne ich schon. Er ist gut gelernt und schnell gesprochen: „Die Bibel ist das Wort Gottes. Wer nicht an sie glaubt, der ist kein Christ.“ – Erlauben Sie mir dennoch eine Rückfrage: Ist dem wirklich so? Wissen Sie wirklich, dass die Bibel das Wort Gottes ist oder haben nicht auch Sie längst anderes über die Bibel gelernt? Haben Sie selbst nicht schon hunderte Predigten darüber gehört oder gehalten, wie man diesen Text einordnen muss, wer ihn schrieb und aus welchem Interesse heraus, was man hinter den Zeilen verstehen kann, welchen älteren Texten anderer Völker er entlehnt ist und welchen Übertrag man aus der Geschichte heraus machen muss? – Die Bibel ist das Wort Gottes. Glauben Sie’s? Wie brüchig die Hülle all der Tradition und geprägten Sprache geworden ist, merkt man erst, wenn man an dieser Hülle einmal kräftig rüttelt und sie plötzlich in sich zusammenfällt. Man merkt es, wenn man Pastorinnen und Pastoren, nachdem sie das Credo sprachen, fragt: „Auferstanden von den Toten? Wie genau?“ und sie nicht sagen, dass sich ein toter Leib im Grab erhob, sondern sie ausholen, um im geistigen Sinne zu beschreiben, was man vielleicht an einer Auferstehung verstehen könnte, was nicht daherkommt wie ein Toter, der lebendig ward. Dass man all das doch im übertragenen Sinne verstehen müsse, als Zeugnis eines nicht näher zu erfassenden, überwältigenden Etwas, das damals passierte und sich seither forterzählt. Bemerken Sie die Diskrepanz zwischen all den Bibelworten und den Predigttexten, die Sie sprechen? Bemerken Sie, dass der Text der Erklärungen sich in den Gottesdiensten von Woche zu Woche mehr in die Länge zieht, weil man immer verzweifelter versucht die klaren Aussagen der Schrift in Verbindung zu bringen mit unserem so sehr in der Rationalität geübten Geist? Das Drama unserer heutigen Christenheit ist, dass zwischen dem, was im Wort Gottes wörtlich steht, und dem, was wir darin verstehen, eine solch breite Lücke klafft, dass es viel zu viel Zeit braucht, um über diese Differenz eine erklärende Brücke zu bauen. Nicht selten genug kracht diese Brücke, noch während sie im Errichten begriffen ist, in sich zusammen. Die Hörerinnen und Hörer bleiben verwirrt zurück in einem Gewirr der Wörter und Phrasen. Es gibt nur zwei mögliche Lösungen für dieses Dilemma. Beide sind legitim. Die eine ist, die Erkenntnisse der Theologie unserer Zeit beiseite zu schieben und zurückzukehren zu dem Wort, das heilig ist. Evangelikal nennt man das. Man nimmt die Schrift als heilig an. Zugegeben, dieser Weg ist vielen, die die Erkenntnisse der Theologie schätzen, zuwider. Genauso mir. Ich weigere mich, nicht zu hinterfragen, was mir überliefert wurde. Damit wir mit diesem Hinterfragen aber nicht ständig von den beharrenden Kräften in die Ecke gedrängt werden, die uns wortwörtlich den zitierten Bibeltext entgegen halten, den zu hinterfragen sie sich weigern, müssen wir die Bibel erweitern. Nicht, indem wir einfach drauf losschreiben, sondern indem wir – genau wie es unsere Vorväter taten – ernsthaft synodal prüfen, welche Glaubenstexte unserer Zeit so wertvoll sind, dass sie Teil der immerwährenden Überlieferung werden sollten. Indem wir anheften, was wir über Gott und die Welt erkannten, wie es Generationen vor uns taten, als sie die biblischen Geschichten weiterschrieben.

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