Erfolgreiche Kämpfe

Wie die Gewerkschaften die Politik und Wirtschaft der Bundesrepublik geprägt haben
Plakat aus dem Jahr 1956. Foto: akg-images
Plakat aus dem Jahr 1956. Foto: akg-images
Gewerkschaften nehmen seit 1945 Einfluss auf die Arbeitswelt und die Arbeitsbedingungen in der Bundesrepublik. Die Felder Lohn und Arbeitszeit sind offensichtlich, aber auch der Einfluss auf die Sozialpolitik war und ist nicht zu unterschätzen. Stefan Müller, Historiker im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, blickt zurück.

Einen der wichtigsten gewerkschaftlichen Erfolge in der Geschichte der Bundesrepublik stellt ohne Zweifel die Verkürzung der Arbeitszeit dar. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert hatten sich die Arbeitszeiten zunächst erheblich verlängert. War Landarbeit vom Wechsel der Jahreszeiten und vom Tageslicht abhängig, veränderten technische Neuerungen wie die künstliche Beleuchtung die Arbeitsbedingungen zu ungunsten der Menschen. Der Arbeitstag dauerte an sieben Tagen in der Woche bis zu zwölf Stunden. Die Industrialisierung und der Ruf des Profits waren über den arbeitsfreien Sonntag hinweg marschiert. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde der Sonntag zwar wieder ein arbeitsfreier Tag, aber erst mit der Revolution 1918 wurde der gesetzliche Acht-Stunden-Tag eingeführt. Diese gesetzliche und vielfach auch reale 48-Stunden-Woche war der Ausgangspunkt des gewerkschaftlichen Kampfes um Arbeitszeitverkürzung in der Bundesrepublik. In den ersten beiden Jahrzehnten gelang es, im Rahmen von Tarifverträgen die Fünf-Tage-Woche und damit die 40-Stunden-Woche durchzusetzen. Der in den Fünfzigerjahren populäre Slogan lautete „Samstags gehört Vati mir“. Wie in anderen tarifpolitischen Bereichen wurde auch hier die IG Metall zur Vorreiterin. 1956 gelang mit einer Verkürzung der Arbeitszeit um drei Stunden der Einstieg in die 40-Stunden-Woche, die nach mehreren Schritten in der Metallindustrie schließlich 1967 Wirklichkeit wurde.

Ökonomische Krise

Der nächste Schritt, die Einführung der 35-Stunden-Woche, gestaltete sich deutlich schwieriger und dauerte länger. Das gesellschaftliche Klima hatte sich Ende der Siebzigerjahre gewandelt. Die ökonomische Krise und die zunehmende Massenarbeitslosigkeit bereiteten den Gewerkschaften Schwierigkeiten, ihre Forderungen in der Öffentlichkeit zu vertreten. 1979 überschritt die Arbeitslosigkeit nach zweieinhalb Jahrzehnten Prosperität erstmals wieder die Millionengrenze, und mit dem Regierungswechsel 1982 gelangte eine sozial-liberale Reformära an ihr Ende. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche wurde somit zu einer Auseinandersetzung um die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik. Arbeitszeitverkürzung wurde dabei zum zentralen Argument der Gewerkschaften gegen die Massenarbeitslosigkeit. Von Mitte April bis Anfang Juli 1984 waren die Arbeitskämpfe der IG Druck und Papier und der IG Metall das beherrschende Thema. Beiden Gewerkschaften gelang, obgleich sie sich einer geschlossenen Front aus Arbeitgebern und Bundesregierung gegenüber sahen, mit einer Verkürzung der Arbeitszeit um eineinhalb Stunden der Einstieg in die 35-Stunden-Woche. In mehreren nach der deutschen Einheit teils erneut heftig umkämpften Schritten wurde in beiden Branchen bis 1995 die 35-Stunden-Woche eingeführt, wobei der Streik für die Übernahme der 35 Stunden in der ostdeutschen Metallindustrie 2003 scheiterte.

Insbesondere die IG Metall erkaufte sich diesen gegenwärtig letzten Schritt der Arbeitszeitverkürzung mit einer erheblichen betrieblichen Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Zudem änderte die Bundesregierung 1986 das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) als Reaktion auf die Streiktaktik der IG Metall. Mit Schwerpunktstreiks in sensiblen Betrieben hatte die IG Metall 1984 ganze Lieferketten lahmgelegt. Das geänderte AFG verhindert seitdem die Zahlung von Arbeitslosengeld an Beschäftigte, denen aufgrund solcher Streiks in ihren Unternehmen die Arbeit ausgeht. Dies mussten die Gewerkschaften fortan in ihrer Streiktaktik berücksichtigen. Weitaus weniger bekannt als der Konflikt um Arbeitszeit und auch nicht im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik verankert ist die sozialpolitische Rolle der Gewerkschaften. Anhand des Streiks der IG Metall 1956/1957 in Schleswig-Holstein um die Fortzahlung des Lohns durch den Arbeitgeber im Krankheitsfall lässt sich diese jedoch beispielhaft darstellen. Ausgangspunkt war ein von den Gewerkschaften beschlossenes Aktionsprogramm für eine andere Lohn- und Arbeitszeitpolitik. In Schleswig-Holstein ging die IG Metall 1956 mit Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung und mehr Urlaub, aber eben auch nach der Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in die Auseinandersetzung.

Lohn trotz Krankheit

Während erkrankten Angestellten bereits im Kaiserreich für sechs Wochen ein Teil des Gehalts weitergezahlt wurde, war diese Regelung für Arbeiter nicht zwingend. Unternehmen nutzten weidlich die Regelung, die Lohnfortzahlung im Arbeitsvertrag ausschließen zu können. 1931 beschloss die Reichsregierung für Angestellte die hundertprozentige Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber - für Arbeiter galt diese Regelung jedoch weiterhin nicht. In dem ab Oktober 1956 über 16 Wochen geführten Streik ging es mithin nicht nur um die finanzielle und sozialpolitische Seite, sondern auch um Gleichbehandlung und Würde. Der Streik, an dem sich am Ende 34.000 von rund 45.000 Arbeitnehmern beteiligten, wurde zu einem Politikum und der IG Metall blies der öffentliche Wind entgegen: Bundeskanzler Konrad Adenauer und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard drohten mit einem Gewerkschaftsgesetz und der staatlichen Zwangsschlichtung.

Die IG Metall konnte sich am Ende zwar tariflich nicht mit allen Forderungen durchsetzen, erreichte aber, dass der Bundestag im Juni 1957 mit dem „Arbeiterkrankheitsgesetz“ den Einstieg für die verpflichtende Lohnfortzahlung beschloss. Die Unternehmen mussten nun ab dem dritten Krankheitstag die Krankenkassenleistungen auf 90 Prozent des Nettolohns angleichen. Die vollständige Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten beschloss schließlich die Große Koalition 1969. Allerdings folgte dem Sieg für die IG Metall eine empfindliche Niederlage. Die Arbeitgeber klagten erfolgreich auf Schadensersatz, da die Gewerkschaft eine Frist zwischen Ende der Verhandlung und der Abstimmung über den Streik nicht eingehalten habe. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) verurteilte im Oktober 1958 die IG Metall auf Ersatz des gesamten unternehmerischen Schadens, der von den Arbeitgebern auf 38 Millionen DM beziffert wurde. Den Vorsitz des BAG führte Hans-Carl Nipperdey - Mitverfasser des Rechtskommentars zum „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ von 1934.

Nach Androhung einer Verfassungsbeschwerde durch die IG Metall gelang es jedoch, den Arbeitgeberverband in Schleswig-Holstein zu überzeugen, von den Schadensersatzforderungen abzusehen. Bis 1963 hing dieses Damoklesschwert über der IG Metall. Knapp drei Jahrzehnte später stand die Lohnfortzahlung erneut auf der Agenda, als die Bundesregierung unter Helmut Kohl 1996 diese auf achtzig Prozent reduzierte. Nachdem Daimler-Benz das neue Gesetz anzuwenden drohte, traten Ende September 23.000 Beschäftigte in einen spontanen Streik. In den folgenden Wochen konnte auf tariflicher Ebene für rund neun Millionen Beschäftigte in dreißig Wirtschaftszweigen die volle Lohnfortzahlung gesichert werden. Die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder nahm die gesetzlichen Kürzungen dann 1998 wieder zurück.

Die Gewerkschaften agierten in der alten Bundesrepublik auch als Unternehmen. Die Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“ und die Handelskette „co op“ mit seinen Supermärkten prägten vielerorts das Stadtbild; die „Bank für Gemeinwirtschaft“ (BfG) und die Versicherungsgesellschaft „Volksfürsorge“ waren feste Bestandteile des Alltagslebens von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Die Ursprünge dieses breiten unternehmerischen Engagements liegen in den Anfängen der Arbeiterbewegung. Das Leben von Arbeiterinnen und Arbeitern war von großer Unsicherheit geprägt. Krankheit konnte von einem Tag zum nächsten zum Verlust der Arbeit führen und die Familie ins Elend stürzen. Noch bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges gaben die Menschen etwa die Hälfte ihres Lohns für Grundnahrungsmittel aus, ein weiteres Viertel für zumeist alte und feuchte Wohnungen (wobei Heizung und Licht noch hinzukamen). An die Bildung von Rücklagen war unter diesen Bedingungen nicht zu denken.

Krankenkassen und Sterbeversicherungen, kooperative Einkaufsgemeinschaften und Betriebe bis hin zu großen Genossenschaften bildeten eines von mehreren Standbeinen der Arbeiterbewegung - neben den Kultur- und Sportvereinen, den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Waren diese vielfältigen, die Lebenswelt der Arbeiterinnen und Arbeiter prägenden Strukturen noch mit dem Fernziel des Sozialismus verbunden, so wurden sie nach 1945 in die Idee der Gemeinwirtschaft eingebettet. Kooperativ betriebene Unternehmen ohne Gewinnabsicht sollten Wirtschaft und Gesellschaft demokratisieren und einen Beitrag für ein solidarisches Miteinander leisten.

Gescheiterte Unternehmen

Bis in die Siebzigerjahre profitierten die gewerkschaftlichen Unternehmen vom Nachkriegsaufschwung, gerieten dann aber, so wie andere Unternehmen, in die Krise. Die gewerkschaftlichen Unternehmen zielten auf eine demokratisch orientierte Ökonomie, konnten sich aber Marktzwängen und Marktmechanismen nicht entziehen. Hinzu kamen Missmanagement und - was den Gewerkschaften in besonderer Weise angelastet wurde - Betrug. So folgte ab Mitte der Achtzigerjahre die Auflösung der „Neuen Heimat“ und der „co op“; BfG und „Volksfürsorge“ wurden im Zuge dieser Krise veräußert.

Lohn- und Arbeitszeit stehen im Mittelpunkt gewerkschaftlicher Tarifpolitik und auch die Sozialpolitik oder hier nicht diskutierte Arbeitsfelder wie die Berufsbildung zählten und werden weiterhin zu gewerkschaftlichen Kernaufgaben zählen. Gemeinwirtschaftliche Anstrengungen wurden dagegen nicht zuletzt aufgrund hausgemachter Fehler eingestellt. Angesichts von Mietpreisexplosion, steigender Nachfrage bei den Tafeln und anderen Formen neuer Armut könnte dagegen die eigene Geschichte Anregungen geben, alte Ideale und Konzepte wieder aufzugreifen. Diese Politikfelder wurden dagegen von den neuen sozialen Bewegungen seit den Sechzigerjahren aufgegriffen, wozu auch die aktuelle Klimabewegung gerechnet werden kann. Auch wenn Gewerkschaften (als alte soziale Bewegung) und die neuen Bewegungen häufig noch fremdeln, so bietet die Geschichte der Arbeiterbewegung vielfältige Anknüpfungspunkte für gemeinsame Diskussionen und inhaltliche Überschneidungen. So ist beispielsweise das Eintreten für die menschliche Gestaltung von Arbeit, zu der auch Arbeits- und Gesundheitsschutz zählen, fest in der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften verwurzelt.

Stefan Müller

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