Kuh und Ziegenbock

Marc Chagalls Lebenslinien in Hamburg zeigen 150 Bilder
Marc Chagall:"On dit. Der Rabbiner", 1912. (Foto: VG Bild-Kunst)
Marc Chagall:"On dit. Der Rabbiner", 1912. (Foto: VG Bild-Kunst)
Seine eindringlichen, in leuchtende Farben getauchten Urgestalten des Mose oder des über der Stadt schwebenden David sind weltbekannt. Nun zeigt das Bucerius Kunst Forum in Hamburg 150 Bilder aus den wichtigsten Schaffensphasen Marc Chagalls .

Wie in wiederkehrenden Träumen tauchen in den Bildern Marc Chagalls bestimmte Gestalten und Gegenstände auf: das Liebespaar, das Doppelgesicht von Mann und Frau, der Geiger auf dem Dach, die musizierende Kuh, der Ziegenbock und die Häuser der heimischen Pokrowskaja-Straße am Rand des weißrussischen Witebsk.

Chagall malte aus der Erinnerung. Aus diesem Material formte er eine Welt voller Seltsamkeiten, heiter, originell. Er malte unser Bild vom Schtetl Osteuropas. Das Gemälde "Über Witebsk" auf dem Ausstellungsplakat des Hamburger Bucerius Kunst Forums zeigt den bekannten Chagall. Vor das intensive Blau des Himmels hat der Künstler den Ausblick auf die Stadt gesetzt, wie er sich ihm vom Fenster seines Quartiers aus bot: mit orthodoxer Kirche, Straße, Liebespaar. Mitten im Bild: ein "Luftmensch", ein Wanderer mit Stab und Rucksack, der zwischen Himmel und Erde dahinschreitet. Das Gemälde ist undatiert.

1915 war Chagall von seinem Studienaufenthalt in Paris nach Witebsk zurückgekehrt. Er begrüßte zunächst die Oktoberrevolution, arbeitete als Kommissar für bildende Künste, später in einer Waisenkolonie und am jüdischen Theater. Er fand wenig Anerkennung und verließ Russland 1922 mit Frau und Tochter endgültig.

Innige Beziehung zur ersten Frau Bella

Die Hamburger Ausstellung "Marc Chagall. Lebenslinien" zeigt rund 150 Bilder, Zeichnungen und Grafiken aus wichtigen Schaffensphasen. Sie folgt Chagalls Leben von Witebsk, wo Mowscha (Mose) im Jahr 1887 als ältestes von neun Kindern einer jüdischen Familie geboren wurde, bis in die Sechzigerjahre hinein, das Spätwerk spart sie aus. Sie betont Bellas Bedeutung für seine Kunst, widmet der innigen Beziehung des Malers zu seiner ersten Frau breiten Raum. Gemälde wie "Der Geburtstag" mit dem schwebenden Paar verströmen Glück, Poesie und scheinbare Naivität. Sie zeigen eine fraglose Zusammengehörigkeit, ein Verschmelzen verwandter Seelen.

In vielen Werken trotzt die familiäre Idylle einer sich im Hintergrund abzeichnenden Bedrohung. Chagall-Biographin Jackie Wullschlager sieht in Bella nicht nur die Gefährtin und Beschützerin seines Exils, sondern auch die Mitgestalterin seiner Kunst. In "Doppelporträt mit Weinglas", entstanden nach der russischen Revolution, trägt eine starke Bella-Gestalt den Künstler auf ihren Schultern.

Erstmalig präsentiert das Israel Museum in Jerusalem seine Chagall-Sammlung in Deutschland, darunter wertvolle Bilder aus dem Besitz der Tochter des Künstlers. Der deutsche "Verein zur Förderung des Israel Museums in Jerusalem" hat sich für das Zustandekommen der Kooperation engagiert. In einem umfangreichen Rahmenprogramm stellen sich die jüdischen Gemeinden Hamburgs vor, und namhafte Persönlichkeiten diskutieren über den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Der Maler, der sich in seiner Kunst über ideologische und religiöse Gräben hinwegsetzte, rückt so in die Rolle des Vermittlers zwischen einander feindlich gesinnten Welten.

Über religiöse Gräben hinweg

Um den Besuchern den biographischen Zugang zum Werk Chagalls zu eröffnen, stellen die Ausstellungsmacherinnen Texte, Radierungen und Tuschezeichnungen von Marc und Bella Chagall an den Anfang. Bereits in den Jahren 1921/22 hatte der Maler seine Autobiographie Mein Leben verfasst, im amerikanischen Exil schrieb Bella später ihre Erinnerungsbücher Brennende Lichter und Erste Begegnung, die er illustrierte. Gemeinsam erinnerten sie sich an das Schtetl, wo elementare Ereignisse, Geburt, Hochzeit, Tod, die Familie und religiöse Riten das Leben bestimmten. Zu sehen sind kleine Familien- und Straßenszenen: die Mutter, nackt auf dem Bett liegend, während die Hebamme das neu geborene Geschwisterkind badet, die kleine, in Kopftuch und Rock fast verschwindende Gestalt der Großmutter, schiefe Häuser, die zu tanzen scheinen. Es erscheinen der Vorbeter beim Versöhnungsfest, die Familie beim Sederabend.

In seinen frühen Studienjahren in Paris hatte Chagall die Suche westlicher Künstler nach neuem Bildmaterial erlebt. Das Fremde, Exotische, das andere Maler wie Gauguin und Nolde aus fernen Ländern mitbrachten, begeisterte gerade die Kunstszene. Chagall erkannte, dass er dieses Fremde nicht in fernen Ländern suchen musste, sondern in seiner eigenen Erinnerung an Kindheit und Jugend bei sich trug. Seine in Russland entstandenen Bilder malte er noch einmal neu, ließ sich dabei aber von westlichen Kunstrichtungen inspirieren. Seine Gegenstände zerlegte er in Dreiecke und Kuben wie die Kubisten, er verrückte die Proportionen, wie es erst nach ihm die Surrealisten taten, seine Farben wurden hell und leuchtend wie in der Farbgebung der Fauvisten. Sein Hauptmotiv blieb das jüdische Leben.

Aber als Künstler schöpfte er frei aus dem Fundus religiöser und kultureller Traditionen. "Er wollte kein jüdischer Künstler sein, er wollte ein Künstler sein", sagte seine Enkelin Meret Meyer bei der Eröffnung der Hamburger Ausstellung. Schließlich hatte er das Schtetl und dessen provinzielle Enge verlassen. Nicht umsonst rühmte er die Stadt Paris für ihr "Freiheitslicht". In seinem "Selbstbildnis mit sieben Fingern" sieht er sich zwischen Russland, Paris und Judentum gezwängt.

Sinnenfreudige Tradition

Groß geworden aber war er in einer lebendigen, sinnenfreudigen Tradition. Seine Familie gehörte der chassidischen Bewegung an. Ihr Begründer Baal Shem Tow lehrte, dass sich die Menschen durch Gebet, Gesang und Tanz mit Gott vereinen können. In den schweren Zeiten antijüdischer Pogrome half den Menschen diese "spirituelle Währung", sich über die Sorge ums nackte Überleben zu erheben - durch trotzige Vitalität und Sinn für Gerechtigkeit, so Chagall-Biografin Jackie Wullschlager. Mit dieser Erfahrung gelang es Chagall, das ärmliche Schtetl auf der Leinwand in einen mythischen Ort voller Leben und Verbundenheit zu verwandeln - in Bilder, die bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren haben.

Der letzte Teil der Ausstellung ist Chagalls Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Bibelillustrationen gewidmet. Der Maler erhob den Gekreuzigten zum Symbol für die Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa. Immer wieder hat er ihn so gemalt und unmissverständlich als Juden gekennzeichnet, etwa durch den Gebetsmantel. In "Die Kreuzigung" von 1944 zeigt er den Ort, der einmal seine Stadt war. Die verschneite Straße ist von Gekreuzigten gesäumt. Einer trägt ein Schild um den Hals "Ich bin Jude", wie es die Nationalsozialisten Juden aufgezwungen hatten. Ein Lebender, sein "Jude mit Thorarolle", betrachtet vom Dach eines Hauses das Werk der Zerstörung.

Auf anderen Bildern deutet Chagall die Geschehnisse seiner Zeit mit Hilfe der großen biblischen Mythen wie dem Exodus. Ein Auftrag, die Bibel zu illustrieren, gab ihm über Jahrzehnte Gelegenheit, an jüdischen Themen zu arbeiten. In Hamburg können Besucher seine eindringlichen, in leuchtende Farben getauchten Urgestalten des Mose oder des über der Stadt schwebenden David bewundern.

INFORMATION:

Marc Chagall. Lebenslinien. Hamburg, Bucerius Kunst Forum, Rathausplatz 2, bis 16. Januar 2011, täglich 11 bis 19, donnerstags bis 21 Uhr geöffnet.

Eintrittspreis: 8 Euro, ermässigt 5 Euro. Expresstickets 10 Euro.

www.buceriuskunstforum.de

Hedwig Gafga

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