Parforceritt

Geschichte des Protestantismus
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Martin Greschat hat kirchliches Agieren, Taktieren und Diskutieren in den jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext eingebettet und damit einmal mehr die gesellschaftliche Verwobenheit und Bedingtheit der verfassten evangelischen Kirche und ihrer Gemeinden verdeutlicht.

Auf knapp 250 Seiten nimmt der emeritierte Kirchenhistoriker Martin Greschat seine Leserinnen und Leser zu einem regelrechten Parforceritt durch die Geschichte des Protestantismus in der Bundesrepublik vom Kriegsende bis heute mit. Beginnend mit einer knappen Skizze der nach der Befreiung um jegliches moralisches Kapital entblößten "Zusammenbruchgesellschaft", in der beiden Kirchen eine einigende und integrierende Funktion zugewiesen wurde, beschreibt Greschat die Schwierigkeiten beim Aufbau einer organisationspolitischen Einheit der evangelischen Kirche. Diese war zwar von allen Landeskirchen gewollt, in ihrer konfessionellen Ausrichtung jedoch heftig umstritten. Mit der Gründung der EKD entstand 1945 schließlich ein "Bund eigenständiger und konfessionsverschiedener Kirchen", der sich aber erst im Juli 1948 eine Grundordnung gab.

Kenntnisreich beschreibt der Autor auch die späteren Auseinandersetzungen innerhalb der EKD um eine konsensuale und tragfähige Position hinsichtlich der von Konrad Adenauer teilweise im Alleingang betriebenen Politik der Westintegration und Wiederbewaffnung. Dabei fördert Greschat vergessene Perlen zutage, etwa das Bonmot Martin Niemöllers, der den Kirchentag von 1952 als einen "'Parteitag der CDU' und der 'Adenauer-Horde'" qualifizierte.

Bewegte Pfarrer

Im Kapitel über die Studentenproteste, deren Exponenten Greschat - im Gefolge von Götz Aly - eine gewisse Selbstgerechtigkeit attestiert, bringt der Autor das streitbare Engagement der Evangelischen Studentengemeinden und von evangelischen Pfarrern in Erinnerung, die mit Transparenten mit der Aufschrift "1933 Ermächtigungsgesetz - 1968 NS-Verfassung" auf die Straße gingen, um den Kampf gegen die Notstandsgesetze zu unterstützen.

Ebenfalls lesenswert sind Greschats Ausführungen zu neuen sozialen Initiativen wie der Anti-Atomkraft-, Frauen- oder Ökobewegung, in denen von Anfang an auch evangelische Christen und Christinnen - die der Autor sprachlich unterschlägt - mitwirkten und sie nachhaltig prägten. Diese basisdemokratisch orientierten gesellschaftlichen Prozesse schlugen sich auch in der Ausgestaltung der Kirchentage nieder. Erstmals 1975 bot ein "Markt der Möglichkeiten" eine weit aufgefächerte Diskussionsplattform auf einem Kirchentag, ein Angebot, ohne das ein heutiger Kirchentag undenkbar wäre.

Kirche in der DDR

Im Schlusskapitel skizziert Greschat die letzten Tage der DDR und beschreibt auch den rasanten Bedeutungsverlust der dortigen evangelischen Kirche. Hatten sich einst Oppositionelle schutzsuchend unter ihrem Dach versammelt und die Infrastruktur der Gemeinden genutzt, so wurden diese ehemals existentiellen Hilfeleistungen nun nicht länger benötigt. Zugleich erschütterten etliche Stasi-Skandale die Glaubwürdigkeit der evangelischen Kirche in Ostdeutschland. 1990/91 erfolgte die Fusion - Greschat nennt sie zunächst "Anschluss" - des 1969 gegründeten Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit der EKD. Mit einem 2006 entwickelten Papier zu den "Perspektiven der evangelischen Kirchen im Jahre 2030" setzte die EKD inhaltliche Maßstäbe für ihre weitere Arbeit. Es bleibt abzuwarten, ob diese "Qualitätsoffensive" die gewünschten Erfolge in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft zeitigen wird.

Martin Greschat hat kirchliches Agieren, Taktieren und Diskutieren in den jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext eingebettet und damit einmal mehr die gesellschaftliche Verwobenheit und Bedingtheit der verfassten evangelischen Kirche und ihrer Gemeinden verdeutlicht. Nicht zuletzt ist so - gleichsam nebenbei - eine kleine politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entstanden, deren Lektüre ebenso instruktiv wie erfrischend ist. Auch wenn man das eine oder andere Kapitel, etwa zur Politik Adenauers, schon ausführlich in Greschats ebenfalls 2010 erschienenem Buch Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945-1963 gelesen hat, folgt man dem Autor doch gerne auf seinem Gang durch die Geschichte des Protestantismus, der - so scheint es - früher lauter, streitbarer, mutiger und direkter war und weniger Rücksichten auf die Befindlichkeiten der politischen Eliten nahm. "Christen sollten wissen, woher sie kommen", schreibt Martin Greschat in seiner Einleitung. Er hat es auf eine kurzweilige, detailgesättigte und informative Weise gezeigt

Martin Greschat: Der Protes­tantismus in der Bundes­republik Deutschland (1945-2005). Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2010, 288 Seiten, Euro 38,-.

Ulrike Winkler

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