Der richtige Zeitpunkt

Pfarrer und Schafzüchter: Besuch bei Rainer Hennig im oberfränkischen Lauenstein
Rainer Hennig vor seinem Schafstall. Foto: Helmut Kremers
Rainer Hennig vor seinem Schafstall. Foto: Helmut Kremers
Rainer Hennig züchtet Schafe. Und er ist Pfarrer, inzwischen im Ruhestand. Wie und warum es zu dieser Kombination gekommen ist, danach fragte Helmut Kremers bei seinem Besuch.

Der Winter war hart. Noch jetzt, im April, erkennt man die Frostschäden auf den Weiden. Die Zäune sind da, wo sie von den gefrorenen Schneemassen eingedrückt worden sind, noch nicht überall repariert. Und es hat sich auch gezeigt, dass es kein gutes Jahr für die Schafzucht werden würde: Sieben von sechzehn der im Februar und März zur Welt gekommenen Lämmer müssen zusätzlich mit der Flasche gepäppelt werden, einige wurden von ihrer Mutter nicht angenommen. Viel Arbeit für den Schafzüchter.

Der hatte mich am Bahnhof Ludwigsstadt abgeholt. Hier waren nur einige Schulkinder ausgestiegen. Selbst wenn ich Rainer Hennig nicht schon gekannt hätte, wäre er in einer größeren Menschenmenge leicht zu erkennen gewesen, an seiner blauen Landwirts-Latzhose mit der Aufschrift "Pfarrschäferei".

Gleich machten wir uns auf, mit dem bejahrten VW Kombi, hinaus und hinauf zur Schafweide. Zunächst über die Landstraße nach Lauenstein. Zur Rechten Burg Lauenstein, die von einem Bergkegel aus die Landschaft beherrscht, ein wenig Manessische Liederhandschrift und mehr Wagner. Der Ort Lauenstein zieht sich den Berg empor, viel Renoviertes, aber zusammen mit der Landschaft ist genug Raues Typ "Heimat" übrig. Wir passieren die kleine Kirche und das stattliche Pfarrhaus, schließlich geht es auf einem Feldweg weiter.

Talentiertes Lamm

Schafe und Lämmer versammeln sich zur Begrüßung, kaum dass wir ausgestiegen sind. Das kleine da, das mit der verschorften Nase, sei von der Mutter nicht angenommen. Und dieses allerkleinste, gewissermaßen sein Lieblings- und Herzenslamm hat Hennig Mike getauft. "Erst gestern habe ich es mit ins Altersheim genommen, sehr zur Freude der Bewohner, Mike hat ein Talent zum öffentlichen Auftritt. Sie scheint die Menschen einfach zu mögen."

Die seltene Milchschafrasse "Lacaune" stammt aus Frankreich. Das braune Merinoschaf, mit schwarzem Gesicht, größer als die anderen, ein Geschenk, fällt zwischen den weißen auf, aber für die Rolle des sprichwörtlichen schwarzen Schafs ist es zu gemütlich. Im Gegensatz zu den Milchschafen hat es kein sichtbares Euter, das trägt es im Leib. Das hat auch Hennig erst lernen müssen.

Foto: Helmut Kremers
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Zwei der Lämmer, die mit dem Fläschchen gepäppelt werden mussten.

Foto: Helmut Kremers
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Das braune Merinoschaf, mit schwarzem Gesicht, größer als die anderen, ein Geschenk, fällt zwischen den weißen auf.

Foto: Helmut Kremers
Foto: Helmut Kremers

Die Lämmer warten ungeduldig auf Fütterung.

Was geschieht mit den Lämmern an Ostern? Ist das für sie nicht ein Schicksalsdatum wie der Martinstag für die Gänse? Sie sind zu klein, um Ostern geschlachtet zu werden, erfahre ich, ihnen bleibt eine Frist bis Pfingsten - und auch da wird es nicht allen ans Fell gehen. Sechs werden Gärten abweiden, drei Flaschenlämmer will das Altenheim übernehmen. Bei Besuchen mit ihnen war immer wieder festzustellen, wie aufmunternd die Tiere auf die alten Menschen wirken. Die anderen Lämmer aber müssen ans Messer. Dazu kommt extra ein Schlachter aus der Nachbarschaft, der Metzger im Ort mag nicht schlachten.

Aber wie kam Rainer Hennig zur Schafzucht? Schließlich ist er Pfarrer. Ich kenne ihn noch aus den Neunzigerjahren als Umweltbeauftragten der Bayerischen Landeskirche. 2002, nach dem Ende seiner Beauftragung, wollte er sich einen alten Wunsch erfüllen, nämlich ein Pfarramt mit der Landwirtschaft verbinden. Ein Jahr später fand er hier in Lauenstein das Richtige: eine halbe Pfarrstelle. Genug Zeit, sich nebenbei der Schafzucht zu widmen. Das hatte für ihn durchaus etwas mit der Sehnsucht nach alternativem Leben zu tun, der Suche nach der eigenen Mitte, der Verbindung von Theologie und Bodenhaftung. So etwas geht nicht ohne Sich-Aufraffen. Nicht zum ersten Mal folgte er diesem Ruf.

Pietistische Jugend

Aber beginnen wir am Anfang: Geboren und aufgewachsen ist Rainer Hennig nicht weit von hier, in dem Dorf Lippertsgrün bei Bad Steben, heute zu Naila gehörig. Da war naturgemäß nicht viel los. So landete er wie andere Altersgenossen in einer pietistischen Jugendgruppe. Aber keineswegs nur aus Langeweile. Vielmehr gab es da einen Bäckermeister, der die Gruppe eher um sich versammelte als leitete, ein Mann mit Charisma. Er erwies sich als eine der Persönlichkeiten, die, oft zu unserem Glück, an unseren biographischen Kreuzwegen auftauchen. Bei ihm habe er einen frommen, aber nicht unfreien Geist kennen gelernt, sagt Hennig. Damals sei sein Entschluss gereift, Theologie zu studieren. Das tat er von 1964 bis 1971 in Neuendettelsau, Hamburg und München, dann besuchte er ein Jahr das Predigerseminar in Nürnberg, wurde anschließend Assistent des Neutestamentlers Leonhard Goppelt in München. Allmählich löste er sich aus den pietistischen Bindungen, ohne sie im Nachhinein als Fesseln zu schmähen.

Foto: Helmut Kremers
Foto: Helmut Kremers

Burg Lauenstein, deren Ursprung wohl im 12. Jahrhundert liegt. Burgherr Friedrich von Thüna, kursächsischer Geheimer Rat, begleitete 1521 Martin Luther auf den Reichstag zu Worms.

Seine Doktorarbeit schrieb er über das Matthäus-Evangelium, vertiefte sich aber gleichzeitig in Teilhard de Chardin, diesen Paradiesvogel unter den katholischen Theologen (1880-1955), dessen spekulative Verbindung von Kosmologie und Gottesschau Hennig faszinierte und inspirierte. 1975/76 Vikar in Augsburg, dann dort Studentenpfarrer bis 1982. Auf eine Gemeindepfarrstelle zog es ihn noch nicht: zu festgelegt wäre ihm das erschienen, nun ja, zu bürgerlich. Die pietistische Suche nach dem rechten, wohl auch schmalen Weg mündete zusammen mit den Impulsen aus dem Chardin-Studium in dem Interesse an ökologischen Themen - aber auch an der Lage von Minderheiten in der Kirche.

Seine Frage war: Was lohnt es, ernst genommen zu werden, wo kann man etwas verändern? So engagierte er sich schon damals in Augsburg für die Gruppe "Homosexualität und Kirche". Und das in Bayern. Den Amtsträgern habe es zunächst partout nicht in den Kopf gewollt, dass er nicht in eigener Sache sprach. 1985 bis 1987 erteilte er evangelischen Religionsunterricht an einer Privatschule des Katholischen Familienwerks in Pullach.

Unbezahlter Knecht

Dann ein Ausbruch oder doch ein Ausscheren auf Zeit: Er ließ sich beurlauben und zog aus, um Kommunitäten in ganz Europa zu besuchen und eine zeitlang dort zu leben. So engagierte er sich in einer Anti-Atomkraft-Gruppe der Schottischen Kirche, die ihr Buchmanifest "Not in my backyard" betitelte. Von 1991 bis 2002 schließlich war er Umweltbeauftragter der bayerischen Landeskirche, mit Sitz in München: eine schöne und reiche Zeit für ihn, viel war zu tun und anzustoßen, und die Zusammenarbeit mit dem katholischen Gegenüber empfand er als ein ökumenisches Musterstück. Als seine Amtszeit 2002 endete, zog es ihn wieder hinaus aufs Land: "Ich zog als unbezahlter Knecht durch Thüringen und Sachsen."

So kam er auch auf einen anthroposophischen Hof; von der Bäuerin ein wenig misstrauisch beäugt, lernte er doch, die Anthroposophen nicht nur für Spinner zu halten. Von dort ging es in die Kommunität Volkenroda, wo er sich mit der Milchschafhaltung vertraut machte. 2003 wurde er Pfarrer in Lauenstein, zu Ludwigsstadt gehörig, im Frankenwald, da, wo Bayern nach Thüringen hineinragt und der Rennsteig sich ein Stück über bayerisches Gebiet zieht. Damals begann er mit der Schafszucht, zusammen mit einem Kompagnon, Manfred Löffler. Der ist eigentlich Werkzeugmacher, aber, so lobt ihn Hennig, mit seinen Händen kann der alles, er ist auch überall gefragt.

Foto: Helmut Kremers
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Die Einsamkeit des Bocks im Sommer.

Foto: Helmut Kremers
Foto: Helmut Kremers

Die seltene Milchschafrasse "Lacaune" stammt aus Frankreich.

Während er das erzählt, sitzen wir auf den Bänken vor dem Schafstall, oben auf den Höhen. 29 Schafe und Lämmer ergehen sich auf der Wiese. Die Sonne steht im Südwesten, es ist ein warmer Frühlingstag. Drüben jenseits der Weide, am Rande eines Gehölzes, steht eine Art Schäferwagen. In ihm wohnt der Schafbock. Zwischendurch tritt er wie ein Wirt, der nach Gästen Ausschau hält, auf die Schwelle und schaut sehnsüchtig herüber. Aber er darf erst wieder in der Paarungszeit zu den Schafen.

Über Mittag streife ich durch Ludwigsstadt, eines jener pittoresken Städtchen, durch die man gern einen Nachmittag lang spaziert - ohne die Verpflichtung, bleiben zu müssen. Nein, zum Touristenzentrum eignet sich die Stadt nicht, daran ändert auch die kühne Stahlkonstruktion einer Eisenbahnbrücke nichts, die gleich neben dem Marktplatz die Stadt überquert und die man hier als zusätzliche Attraktion zu schätzen gelernt hat. Aber es lässt sich nicht leugnen, Ludwigstadt gehört heute zu den noch nicht ganz vergessenen Winkeln Deutschlands.

Gelindes Gruseln

Einst war hier einer der Grenzübergänge in die DDR. Damals herrschte hier Trubel, ein reger Touristenverkehr von Leuten, die nicht über, aber an die Grenze wollten. Noch von der Schafweide aus hatte mich Hennig auf einen Aussichtsturm aufmerksam gemacht, der heute kaum noch die Baumkronen überragt: Von dort aus beschaute man sich die Grenzbefestigung der DDR, um sich gelinde zu gruseln.

In Lauenstein gibt es noch einen überdimensionieren Busparkplatz. Und im Hotel finden sich an den Wänden Fotos gesamtdeutsch bewegter Politiker von Erich Mende bis Karl Carstens. Vor wenigen Jahrzehnten wurde das Haus mit viel Geld ausgebaut; heute ist es längst nicht mehr ausgelastet.

Dabei hat die Gegend einiges zu bieten für Leute, die Natur und Kultur lieben: der Thüringer Wald vor der Tür, die Stätten deutscher Klassik nicht allzu weit entfernt. Wir sind hier überhaupt so ziemlich in der geographischen Mitte Deutschlands.

Auf der Fahrt zur spätnachmittäglichen Fütterung schauen wir noch bei der Burg vorbei, deren Ursprung wohl im 12. Jahrhundert liegt. Burgherr Friedrich von Thüna, kursächsischer Geheimer Rat, begleitete 1521 Martin Luther auf den Reichstag zu Worms und spielte eine Rolle bei dessen Festsetzung auf der Wartburg. Dass die Burg noch steht, ist einem sächsischen Fabrikanten zu verdanken, der nach 1896 sein Vermögen ins Gemäuer investierte. Das Hotel, das hier oben nebst einem Museum untergebracht ist, war einmal ein Anziehungspunkt erster Ordnung. Heute steht es seit Jahren leer, im Augenblick richtet sich die Hoffnung auf einen neuen Investor.

Foto: Helmut Kremers
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Eines der Lämmer, die mit der Flasche gepäppelt werden müssen.

Foto: Helmut Kremers
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Lämmer hatten es gerade wegen ihrer christlich-ikonographischen Bedeutung nie leicht.

Nun aber zurück auf die Weide, zur Fütterung. Immer noch strahlt die Sonne. Die Lämmer kommen uns ungeduldig entgegen. Das Küsterehepaar Ziener wartet schon, um zu helfen. Frau Ziener versteht die Kunst, beidhändig je einem Lamm die Flasche zu geben. In Zeiten, wo es keine Lämmer zu säugen gibt, wäre jetzt die Stunde des Melkens. Die Prozedur ist bei den Schafen beliebt, erfahre ich, sie stehen dann Schlange, um ihren Kopf in ein Brett - wie das eines Prangers - zu stecken und so, während sie gemolken werden, eine Extraration Hafer zu mampfen. Heute muss nur ein Schaf gemolken werden, das sein Lamm nicht angenommen hat. Hier im Melkstand darf das Kleine auch mal nuckeln, geschickt weicht es den Tritten der Mutter aus.

Wieder ein Neuanfang

Am nächsten Morgen treffe ich Rainer Hennig noch einmal. Das Wetter ist umgeschlagen, es ist kalt und regnerisch. Hennig erzählt von seinem Plan, in diesem Jahr die Schafzucht aufzugeben. Er ist jetzt 66, redet aber nicht von der Beschwerlichkeit, bei jedem Wind und Wetter auf die Weide zu müssen, sondern sagt: "Ich habe das Gefühl, es ist der richtige Zeitpunkt." Doch hegt er die Hoffnung, dass die Schafe nicht ganz verschwinden. Die Sache müsse nur so organisiert werden, dass das tägliche Melken wegfällt, etwa indem man nur gekaufte Lämmer in den Monaten April bis Oktober aufzieht.

Aber Hennig wird nicht untätig bleiben. Ohnehin war er die Jahre über immer noch gefragt für Vorträge zu Umweltfragen. Das wird so bald nicht aufhören. Und: Der große Garten des Pfarrhauses in Lauenstein, in dem Hennig wohnt (der neue Stelleninhaber, Pfarrer Johann Beck, residiert im benachbarten Ebersdorf), liegt so ziemlich verwildert da. Den würde er gern neu gestalten.

Als der Zug aus dem Bahnhof dampft (aber natürlich dampft er nicht wirklich), hat sich die Sonne wieder hervorgewagt. Rainer Hennig winkt. Es gebe noch vieles, was er mir hier gern zeigen würde, hat er zum Abschied gesagt. Gern, habe ich geantwortet, und nehme mir vor wiederzukommen. Auch wenn ich weiß, wie das so ist mit den Vorsätzen zur Wiederkehr.

Helmut Kremers (Text und Fotos)

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