Poet der Vielfalt

Navid Kermani wird mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet
Navid Kermani. Foto: picture-alliance/ZB
Navid Kermani. Foto: picture-alliance/ZB
Am 13. März hat zum ersten Mal ein Muslim die Buber-Rosenzweig-Medaille der deutschen Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit erhalten. Preisträger ist Navid Kermani. Der Journalist Martin Rothe porträtiert den 43-jährigen deutsch-iranischen Schriftsteller und Orientalisten.

Kairo in den späten Achtzigerjahren: Ein junger Mann aus dem westdeutschen Siegerland, der eigentlich ans Theater will, ist in die Nil-Metropole gekommen, um Arabisch zu lernen. Sein Studienfach, die Orientalistik, empfindet der junge Deutsch-Iraner als Fron. Bei seiner Ankunft ahnt er nicht, dass die Erfahrungen in Kairo ihn - Navid Kermani - auf sein Lebensgleis setzen werden.

"Neben unserer Wohnung lag eine Moschee, deren mannshoher Lautsprecher an meinem Balkon angebracht war. Die Moschee hatte einen Sänger, der jeden Morgen vor Sonnenaufgang den Koran vortrug. Anfangs wachte ich noch jedes Mal auf, ärgerte mich auch oder nahm mir vor, das Zimmer zu wechseln, aber nach und nach ging der Koran in meinen Träumen auf und bereitete mir im Dämmerzustand zwischen Schlafen und Erwachen ein, ja, so muss ich es nennen, paradiesisches Erleben, so friedlich und entrückt wie auf Wolken", berichtet Kermani im Rückblick. Zugleich aber hatte die Moschee einen Prediger, der täglich in höchster Tonlage und furchterregender Dramatik aus dem gleichen Lautsprecher kreischte. "Alles, was mir am Islam Unbehagen oder gar Abscheu bereitet, Aggressionen und die Reduzierung allen Lebens auf richtig und falsch, erlaubt und verboten, verbinde ich mit dieser Stimme, wegen der ich bis zum Ende des Studienjahres mit meinem Zimmer haderte."

Wie der paradiesische Gesang des Muezzin und das fanatische Geschrei des Predigers sich zu einander verhielten, begriff der Student Navid Kermani, als er in Kairo den Mann traf, der ihn wie nur wenige andere beeinflussen sollte. Dieser Mann, Kermanis Lehrer, war damals noch nicht vielen bekannt. Heu­te gilt er als einer der bedeutendsten Reformdenker des Islam: Nasr Hamid Abu Zaid (1943-2010). Der Spezialist für arabische Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Koranexegese eröffnete dem islamischen Denken den Anschluss an die Moderne, indem er Erkenntnisse der Hermeneutik auf den Koran übertrug.

Den Koran genossen

Kermani lernte von Abu Zaid, der 1995 vom ägyptischen Staatsislam zum Ketzer erklärt wurde, nicht nur das kritische Nachdenken über den theologischen Diskurs und über die Konfliktlinien innerhalb des Islam. Es war die Ästhetik des Koran, die beide begeisterte. Ihnen war deshalb klar: Wer den Koran auf ein wörtlich anzuwendendes Gesetz reduziert, macht den Islam zur Karikatur seiner selbst. "Mit der Moschee im Ohr und mit Abu Zaid als Augenöffner begriff ich, welche Aufgabe ich und nur ich in der Orientalistik zu verrichten hatte, der ich das Fachgebiet mit den Augen des Theatergängers betrat", berichtet Kermani. "Ich sah, dass der Koran gehört, erlebt und genossen werden wollte, wie es ringsum die Taxifahrer, Händler und Handwerker taten, die ich fragte, warum sie das Wort Gottes in den Rekorder geschoben hatten und nicht irgendeine Musik. Nicht weil die Botschaft so bedeutend und die Lehre so erbaulich - weil der Koran so schön sei, antworteten sie stets." "Gott ist schön" hieß denn auch Kermanis brilliante Dissertationsschrift von 1999 über das ästhetische Erleben des Koran.

"Er hat damit das entscheidende Buch geschrieben", sagt die Berliner Arabistin Angelika Neuwirth, "gewissermaßen die Programmschrift für eine sprachlich und literarisch fundierte Erforschung des Korans als eines ästhetischen Textes." Zugleich brachte Navid Kermani damit eine neue Perspektive in die Islamwissenschaft ein: Bisher hatten seine nichtmuslimischen Fachkollegen den Koran wie eine Bibel gelesen - anstatt zu fragen, wie eigentlich die Gläubigen ihr heiliges Buch empfinden. Kermani zufolge ist der Koran für die Muslime in erster Linie ein unnachahmliches poetisches Kunstwerk Gottes in arabischer Sprache. Lebendig ist dieses "Rede gewordene Gotteswort" nur im gemeinsamen Hören und in der persönlichen Rezitation - kaum jedoch als bloßer Lesetext oder gar als Übersetzung.

In "Gott ist schön" schildert Kermani, welch überwältigende Wirkung die Koranrezitation auf Mohammeds Zeitgenossen hatte. 2005 veröffentlicht er komplementär dazu sein Buch Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, das erschütternde Porträts von Menschen zeichnet, die mit der dunklen Seite Gottes rangen. Vom Schrecken und der Schönheit der gottgeschaffenen Welt handeln zugleich Kermanis poetische Werke - zum Beispiel die Bücher "Du sollst" und "Kurzmitteilung". Voraussichtlich im Herbst 2011 wird ein über eintausend Seiten starker Roman erscheinen. Navid Kermanis poetisches Schaffen lässt sich - bei allen modernen Brechungen - dem metaphysisch aufgeschlossenen Strang der deutschen Literaturgeschichte zuordnen.

Ohne den Glauben an eine irgendwie geartete Ordnung der Welt, schreibt er, ohne den Glauben an die Fäden, die alles mit allem verbinden, komme die Literatur nicht aus. Ja, mehr noch: Vielleicht schaffe die Behauptung einer Struktur in der Wirklichkeit - in Form der Literatur, der Kunst, in religiösen Vergegenwärtungsritualen - eben diese Strukturiertheit erst. Diejenigen Romane der Literaturgeschichte, denen Kermanis besonderes Interesse gilt, entfalten das bunte babylonische Gewimmel der comédie humaine und lassen zugleich erkennen, wie den Menschen manchmal das Glück zu teil wird, jene Fäden zu erblicken, die alles mit allem verbinden.

Vielvölkerstaat als Ideal

Der multikulturelle Vielvölkerstaat ist Navid Kermanis Ideal - allerdings einer, der von einer gemeinsamen verfassungspatriotischen Leitkultur zusammengehalten wird. "Dass Menschen gleichzeitig in verschiedenen Kulturen, Loyalitäten, Identitäten und Sprachen leben können, scheint in Deutschland immer noch Staunen hervorzurufen - dabei ist es kulturgeschichtlich eher die Regel als die Ausnahme." Ohne Parallelgesellschaft hätten beispielsweise die Christen im Nahen Osten kaum ihre Religion, Kultur und Sprachen erhalten können. Ihr heutiger Exodus habe viel mit dem verhängnisvollen Drang - mal der Mehrheitsgesellschaft, mal der Staatsführer, mal von ein paar hundert Terroristen - zu tun, Einheitlichkeit herzustellen und kulturelle Nischen auszumerzen.

In seinen Essays feiert Navid Kermani darum das persisch-armenisch-jüdische Kaleidoskop seiner Elternstadt Isfahan und die kulturelle und religiöse Vielfalt seines Heimatkiezes Köln-Eigelstein. Solche Partikularität gelte es zu bejahen und zu schützen. Hier dürfte die verspätete Nation Deutschland noch viel Nachholbedarf haben, verwechseln doch deren Ureinwohner Integration oft mit Assimilation. In seinem faszinierenden Buch "Wer ist Wir? - Deutschland und seine Muslime" verdeutlicht Kermani, dass er einem nai­ven Laissez-faire-Multikulturalismus, wie ihn sich Konservative und Islamkritiker gern als Zielscheibe zurechtzimmern, keineswegs das Wort redet: Unabdingbar sei das einigende Band eines lebendigen Verfassungspatriotismus im Sinne der säkularen Werte Demokratie, Gewaltenteilung, weltanschauliche Neu­tralität des Staates, Toleranz, Menschenrechte und Gleichberechtigung der Geschlechter.

Diese Prinzipien hätten sich zwar im Westen herausgebildet, seien aber universell gültig, betont der 43-jährige Deutsch-Iraner, dessen Angehörige erst vom Schah, dann von den Ayatollahs und zuletzt von Ahmadinedschads Milizen verfolgt wurden. "Der Westen muss diese Werte in keinem Dialog der Kulturen aufgeben oder sie relativieren. Im Gegenteil: Er sollte für sie einstehen und sie missionarisch vertreten." Freilich immer unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Der Aufstand erst der Iraner, dann der Araber für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sollte nicht als Wunsch nach Verwestlichung missverstanden werden.

Philosophie als Selbstkritik

Echtes gesellschaftliches oder philosophisches Denken heißt für Kermani prinzipiell Selbstkritik. Für ihn selbst als Bürger zweier Kulturen bedeutet das gleichermaßen die Kritik am innerwestlichen wie am innermuslimischen Diskurs. So nimmt er unreflektiertes Gerede deutscher Talkshows und Dialogforen aufs Korn. Dort heiße es oft: Wie können ,wir mit dem Islam umgehen? Müssen ,wir Angst haben vor den Muslimen? Dass zu diesem "Wir" auch Muslime gehören könnten, scheine den Talkgästen beinahe undenkbar zu sein.Mehrfachidentitäten müssten aber endlich zur Kenntnis genommen und bejaht werden.

Navid Kermani selbst fühlt sich im gesprochenen Persisch ebenso heimisch wie im geschriebenen Deutsch; Heimat ist ihm Hölderlin, aber auch der 1. FC Köln. Er sei Muslim, aber auch noch vieles andere, sagt er. "So widersprüchlich sind wir alle. Jede Persönlichkeit setzt sich aus vielen unterschiedlichen und veränderlichen Identitäten zusammen. Man stelle sich nur einmal vor, man würde in allem, was man tut, denkt, fühlt, Deutscher sein, nur als Deutscher agieren, essen, lieben - das wäre doch ziemlich grauenhaft." Die Debatte im Gefolge des Sarrazin-Buches dürfte seinen Albtraum, dass es gar keinen Ort mehr geben könnte in Europa, an dem die Muslime leben können, häufiger auftreten lassen.

Im Gespräch mit Zeitzeichen berichtet er, sein eher optimistisches Buch "Wer ist Wir?" habe ihm 2009 im Bekanntenkreis auch Kritik eingebracht. Heute denke er: vielleicht zurecht. Sein Wunsch sei, dass Muslime in Deutschland friedlich leben können - mit allen Pflichten und Rechten gleichberechtigter Staatsbürger in einem freien Land. Seine Hypothese, dass Menschen zu Terroristen werden, weil sie sich dau­erhaft ausgeschlossen fühlen, lässt ihn nicht minder hart mit den Fundamentalisten aller Couleur ins Gericht gehen. Eben weil der Koran als das reine göttliche Wort gelte, sei nach traditioneller islamischer Auffassung jede Auslegung menschlich und daher notwendig relativ, betont der Islamwissenschaftler. Religionen bestünden aus der Gesamtheit ihrer Lesarten. Das gelte für jede Religion, sei aber außer im Islam wohl nur im Judentum so klar benannt worden, analysiert Kermani.

Den Blick vom Judentum geprägt

Unter anderem deshalb bedeutet ihm die Buber-Rosenzweig-Medaille sehr viel. "Die Wissenschaft des Judentums hat meinen Blick auf die Gesellschaft geprägt. Deshalb fühle ich mich durch die Buber-Rosenzweig-Medaille besonders geehrt." Dem linksliberalen Deutschland mag es verlockend erscheinen, den Querdenker Navid Kermani als einen lang ersehnten muslimischen public intellectual zu vereinnahmen. Es gibt im hiesigen medialen Dorf nicht allzu viele Muslime - ob männlich oder weiblich - die freizügige Bücher über die körperliche Liebe schreiben, die Freiheit zur Homosexualität bejahen und jedem Bischof und jeder Geisteswissenschaftlerin das Was­ser reichen können.

Aber gegen ei­ne solche Rollenzuschreibung verwahrt sich der junge Autor aus Köln. "Meine Aufgabe ist es, Bücher zu schreiben. Periodisch tritt man aus seinem Arbeitszimmer heraus und nimmt teil an öffentlichen Debatten. Aber jedenfalls ich muss dann auch wieder Phasen des Rückzugs und des Reisens haben, damit neue Gedanken entstehen, der eigene Blick sich verändert und ein Buch überhaupt möglich und notwendig wird." Man darf gespannt sein auf die weiteren Werke dieses Literaten, der schon so viele Fäden hineingeflochten hat in den schönen Teppich der Welt.

Martin Rothe

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