Kleist für die Zukunft

Begegnungen in des Dichters Geburtsstadt
Blick aus dem Fenster der Kleist-WG auf die Große Oderstraße. Foto: Angelika Hornig
Blick aus dem Fenster der Kleist-WG auf die Große Oderstraße. Foto: Angelika Hornig
Er gilt als der meist gespielte Dramatiker auf deutschen Bühnen, sein "Zerbrochner Krug" ist das meist aufgeführte deutsche Lustspiel überhaupt. Heinrich von Kleist träumte von Ruhm und Anerkennung und verzweifelte, weil ihm beides zu Lebzeiten versagt blieb. Am 20. November jährt sich sein 200. Todestag. Eine Spurensuche in seiner Geburtsstadt Frankfurt (Oder).

Die Stadt hat sich verwandelt, zeigt ihre kreativen Kräfte: Das historische Zentrum ist blauweiß geflaggt. In diesem Jahr hat sich Frankfurt an der Oder das Gedenken an den brandenburgischen Dichter Heinrich von Kleist sprichwörtlich auf die Fahnen geschrieben. Typografisch gesetzte Fragmente zitieren aus dem rastlosen Schaffen des berühmten Sohns von Frankfurt. "Kleiststadt" heißt die Oderstadt im Osten Brandenburgs offiziell schon seit 1999. Überall stößt der Besucher auf die kleinen, blauen Lesezeichen mit Kleistzitaten, engagierte Farbtupfer in einer weit abgelegenen Stadt. Heute, 200 Jahre nach dem spektakulären Doppelselbstmord des Dichters und seiner Freundin Henriette Vogel, hat man hier das Kleistjahr ausgerufen.

In der Kleist-WG

Die denkwürdigste Adresse von Frankfurt lautet: Große Oderstraße 26/ 27. Eigentlich die Attraktion der Kleiststadt, aber wenig erinnert an den Dichter. Und doch alles. Vorn ein heruntergekommener, schmuckloser Wohnblock aus den Fünfzigerjahren mit einer unscheinbaren Gedenktafel: "Heinrich von Kleist (1777-1811). Hier stand das Geburtshaus des Dichters, zerstört im faschistischen Krieg 1945." Hinten geht's in die Kleist-WG. Es riecht nach Bohnerwachs im ehemaligen Arbeiterwohnheim des Halbleiterwerks, bis zur Wende der größte Arbeitgeber der Stadt. Heute bergen die Räume in der ersten Etage die Kleistbibliothek und das Archiv. Und in der ehemaligen Kinderkrippe im Erdgeschoss zeigen Schülerinnen und Schüler aus Frankfurt und Brandenburg sowie aus Frankreich und der Schweiz fantastische Inszenierungen, Szenen und Installationen. Im Rahmen eines museumspädagogischen Konzepts haben sie die schäbigen Räume aufgehübscht und in eine formidable, lebendige Ausstellungsstätte verwandelt - eine Wohngemeinschaft für den Dichter.

Foto: Angelika Hornig
Foto: Angelika Hornig

Die Kleiststadt Frankfurt an der Oder brannte im Zweiten Weltkrieg fast völlig ab. Der sozialistische Wohnungsbau prägt noch heute das Stadtbild. Im Hintergrund die Friedenskirche und die ehemalige Franziskanerkloster-Kirche, in der Kleist getauft und konfirmiert wurde.

Rastlos reisend hat dieser in "34 Lebensjahren 27.799 km per PS" zurückgelegt. Ein WG-Zimmer macht diese Geschichte sinnfällig, mit Holzrädern, Reisekisten und Koffern und in deutscher Schrift verfassten Briefen an seine Halbschwester Ulrike und die Verlobte Wilhelmine von Zenge. Über den Schachteln hängt eine Landkarte, am Boden Steine und ein Fernglas; dazu ertönt Pferdegetrappel. Zwei WG-Zimmer weiter hat der Frankfurter Schüler Christoph Rieger dem Dichter, der nie eine eigene Wohnung besaß, ein Arbeitszimmer arrangiert: die Wände gemalert, Sofa, Bücherwand, Kamin aufgesprüht, dazu ein Schreibtisch vor das Fenster gerückt. Am Ende des langen Flures liegt Zimmer "15.59 Uhr". Der Raum ist komplett geweißt, nur von zwei Porträts bewohnt. Links, wandfüllend, ist ein junger Mann aufgesprüht, die Augen niedergeschlagen, die Hände an den Schläfen. Ihm gegenüber ein Frauenporträt, die Augen in die Ferne gerichtet. In der Raummitte zwischen beiden steht nur ein Tisch mit zwei Stühlen, zwei Gläsern und einer Flasche Wein. Das Tête-à-Tête inszeniert den spektakulären Doppelselbstmord des Dichters und seiner unheilbar krebskranken Dichterfreundin Henriette Vogel am Nachmittag des 20. November 1811 am Berliner Wannsee.

Schüler entdecken Kleist

Wie gelingt ein solches Jugendprojekt? Wie kommen junge Menschen von heute dazu, Kleists Leben und Werk von vor zweihundert Jahren zu übertragen und fassbar zu machen? "Es gab keine Vorgaben, die Schülerinnen und Schüler konnten sich völlig frei entscheiden und aussuchen", sagt Hans-Jürgen Rehfeld, Mitarbeiter im Kleistmuseum und Bibliothekar. Er, der Schulklassen, Gruppen und Kleistfreunde auf den Spuren des Dichters durch die Oderstadt führt, zieht eine historische Aufnahme aus der Tasche und zeigt: "Wir befinden uns jetzt in der Kleist-WG an genau der Stelle, wo früher das Geburtshaus stand." Das war ein dreigeschossiges feudales Haus, daneben das Stadtkommandantenhaus, in dem bis 1785 Herzog Leopold von Braunschweig, später dann die Familie von Zenge lebte, und das Pfarr- und das Küsterhaus. Im diesem Haus Nr. 542 in der Oderstraße kam Kleist am 18. Oktober 1777, so der Eintrag im Kirchenbuch, zur Welt. 10.484 Einwohner, 2110 Militärs sowie deren Familien und zweihundert Studenten zählte damals die Messestadt.

Foto: Angelika Hornig
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Einfach Oderstraße hieß zu Kleists Zeiten die Große Oderstraße, an derenEnde der Nonnenwinkel und sein Geburtshaus standen.

Foto: Angelika Hornig
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((Bildtext/Kleist-WG))

Doch das ist längst Geschichte, das Stadtzentrum Frankfurts brannte 1945 im Krieg fast vollständig ab, die Folgen sind bis heute spürbar. Als Ruine überlebte die gegenüber gelegene Franziskanerkloster-Kirche, nach 1990 wieder aufgebaut, deren Mittagsgeläut ertönt. Dem wird schon der Dichter gelauscht haben, von seinem Zimmer aus hatte er einen Blick auf die größte Hallenumgangskirche der norddeutschen Backsteingotik. Grund genug, ihr einen Besuch abzustatten.

Inspiration für das "Käthchen"?

Augenfällig sind die drei riesigen, im Stil der Gotik gefertigten Bleiglasfenster, die zwischen 1360 und 1370 entstanden und aus insgesamt 117 Szenen bestehen. In einer Art Bilderbibel stellen sie die Schöpfungsgeschichte, das Leben von Adam und Eva, den Bau der Arche Noah, das Leben Christi und den Antichristen dar. Ob Kleist sich davon in seinem Drama "Das Käthchen von Heilbronn" inspirieren ließ? Zur Erinnerung: Der Vater des Käthchens, der Waffenschmied Theobald Friedeborn, klagt den Grafen Friedrich Wetter vom Strahl an, seine fünfzehnjährige Tochter durch teuflische Magie an sich gefesselt zu haben. Er habe den Ritter gesehen mit dem Gehörnten und Geschweiften im Bunde, wie sie "zu Heilbronn über dem Altar abgebildet sind". Doch der besagte Satan mit Hörnern, Schwänzen und Klauen findet sich auch hinter dem Altar in den Fenstern der Marienkirche.

Foto: Angelika Hornig
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Hans-Jürgen Rehfeld führt auf Kleists Spuren durch die Oderstadt.

Foto: Angelika Hornig
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In der Kleist-WG: Schülerinnen und Schüler entwerfen ihr Bild des Dichters.

Zur Geschichte von Kleists Frankfurt gehören auch die ihm gewidmeten Denkmäler. Gleich hinter der Kirche, im alten Nonnenwinkel zwischen Bischofsstraße und Priestergasse vis à vis zum ehemaligen Kleist-Hause, steht die Skulptur eines nackten Mannes. In Vorbereitung auf den 200. Geburtstag des brandenburgischen Dichters hatte die Stadt 1977 an den Bildhauer Wieland Förster den Auftrag vergeben, Kleist ein Denkmal zu setzen. Förster, ein über die Grenzen der ddr hinaus bekannter Künstler, schuf "Für Heinrich von Kleist", nicht als Porträtplastik. Doch was hat dieser nackte Mann, dessen Körper aus einem Stein wächst, mit Kleist zu tun? "Kein Denkmal in der gewohnten Form von Anerkennung und Ehrung, sondern Darstellung gegenwärtiger, nacherlebbarer Spannung und Qual, von Sehnsucht und Schmerz", erläutert Wieland Förster sein Werk.

Ein nackter Jüngling

Unweit davon das nächste Kleist-Denkmal. Erst 99 Jahre nach seinem Selbstmord wurde es ihm zu Ehren aufgestellt. Aber ach, auch das von Gottlieb Elster 1910 geschaffene Denkmal hat auf den ersten Blick nichts mit Kleist zu tun: ein lorbeerbekränzter, nackter Jüngling mit Lyra. Kleine in Bronze gehaltene Spielszenen seiner Hauptwerke bauen die Brücke zum idealisierten Dichter. Ob sich Kleist darin gefunden hätte?

Foto: Angelika Hornig
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Eine Kleist-Büste, entstanden nach der Pastellminiatur von Peter Friedel, 1801.

Foto: Angelika Hornig
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In der Franziskanerkloster-Kirche wurde Heinrich von Kleist getauft und konfirmiert.

Foto: Angelika Hornig
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Originelle Farbtupfer in der Innenstadt: die Kleist-Lesezeichen.

Am Oderturm vorbei führt der Weg an einer vielbefahrenen Straße zurück. Kaum vorstellbar für Kleist, der auf der Reise von Frankfurt in die Schweiz von seiner Verlobten gefragt, ob er nicht zurückkäme, antwortete: "Wenn Frankfurt nicht größer wäre als der Nonnenwinkel." Fakt ist: Vor der Wende besaß die Oderstadt 80.000 Einwohner. 20.000 Bürger zogen seitdem fort, Zuzügler sind rar. Elf Prozent der Kleiststadt sind Hartz-IV-Empfänger. Von der Nachbarstadt Sl´ubice aus präsentiert sich der Westen mit einer Kleistkampagne in toten Schaufernstern.

Mit 14 in die Armee

Der Blick über die Oderauen und auf das polnische Ufer regt zu einer weiteren Spurensuche an. War Kleist ein Kindersoldat? Eigentlich nicht. Wer zu seiner Zeit eine Kompanie führen wollte, musste früh, fast schon im Kindesalter zur Armee. Und so verließ der junge Kleist mit vierzehn Jahren am 1. Juni 1792 sein Elternhaus, ging nach Potsdam und wurde in das renommierte Regiment Garde aufgenommen. Wenige Tage später war er zurück in seiner Geburtsstadt, wo er in der Garnisonkirche, seiner Taufkirche, am 20. Juni 1792 "öffentlich konfirmiert" wurde. Seine Militärzeit charakterisiert er später als "sieben unwiederbringlich verlorene Jahre".

Foto: Angelika Hornig
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Die ehemalige Garnisonschule beherbergt heute das Kleist-Museum.

Foto: Angelika Hornig
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In der Ausstellung "Kleist: Krise und Experiment": Der Besucher betritt soziale Bühnen, dechiffriert Handschriften und Originalexponate.

Für das Studium in Frankfurt an der Viadrina-Universität bricht der adlige Kleist mit der tradierten Militärkarriere und kehrt zurück in seine Heimatstadt. Von 1799 bis 1800 widmet er sich dem Studium der Mathematik, Physik, Philosophie, der alten Sprachen und der Juristerei. Sein Lieblingsfach ist die Experimentalphysik. Der Naturhistoriker Christian Ernst Wünsche muss auf Kleist einen großen Eindruck gemacht haben. Doch auch das Universitätsstudium bricht Kleist bereits nach drei Semestern ab. In diese Zeit fällt seine Verlobung mit Wilhelmine von Zenge, der Tochter des damaligen Frankfurter Garnisonschefs. Mehrere Anläufe Kleists, sich als Staatsbeamter ein geregeltes Einkommen zu sichern, blieben erfolglos. Erst war er Soldat, dann nichts mehr richtig, Studium abgebrochen, Finanzbeamter, Zeitschriftenherausgeber, Dichter. Zu Lebzeiten alles mit mäßigem Erfolg.

Mehr im Museum

Wer die ganze Kleist-Geschichte erfahren will, der besuche das Kleist-Museum in der ehemaligen Garnisonschule nahe dem Oderufer. Der spätbarocke rosa getünchte Bau mit seiner aufwändig gestalteten Fassade beherbergt in diesen Monaten die Jubiläumsausstellung "Kleist: Krise und Experiment", deren zweiter Teil im Berliner Ephraim-Palais zu sehen ist. Im ersten Raum überwältigt eine Bildergalerie mit Skizzen, Zeichnungen und Büsten Kleists. Sie sind Werke der Imagination. Denn es gibt nur ein verbürgt authentisches Porträt, die Pastellminiatur, 1801 von Peter Friedel gemalt, nicht größer als eine Scheckkarte. Kleists Verhältnis zu seiner Schwester Ulrike ist ebenso Thema wie seine Freundschafts- und Werkbeziehungen. Oder das leidige Geld, seine Position als Geschäftsmann und das Dasein im Schatten Goethes. Der Besucher betritt soziale Bühnen, dechiffriert Handschriften und Originalexponate, fühlt am Ende die Nähe von Kleists Leben zu heutigen Lebenswelten. Das Treffen mit Kleist in Frankfurt bietet die Chance, nach 200 Jahren den Kleist für die Zukunft zu begreifen.

Information

Kleist-WG, dienstags bis sonnabends von 11 bis 17 Uhr.

Kleist-Museum, Kleist: Krise und Experiment. Dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, Führungen unter (0335) 531155.

Heinrich-von-Kleist-Portal

Foto: Angelika Hornig
Foto: Angelika Hornig

Blick über die Oder nach Polen.

Text: Kathrin Jütte / Fotos: Angelika Hornig

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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