Nähe Gottes

Über christliche Mystiker
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Ein Buch nicht für Experten, sondern für Interessierte. Es bietet neben einem soliden Überblick mancherlei Anregung, auf Phänomene mystischen Erlebens im eigenen Alltag zu achten.

Christian Feldmann versteht sich auf Porträts. Er hat schon einige solcher von bedeutenden Christen veröffentlicht. Mehr als fünfzehn christliche Mystiker stellt er in seinem neuen Buch Ein Gott zum Küssen vor - chronologisch geordnet und ausgehend vom frühen Mittelalter bis in die moderne Zeit. Das ist ein mutiges Unterfangen, welches eine gleichermaßen selbstbewusste wie bewusste Auswahl erforderte.

Der Theologe und Soziologe verzichtet auf eine eindeutige Definition des Begriffs der christlichen Mystik. Er bleibt vage, bewusst offen: "Mystik ist eine Abenteuerreise von der Erde zum Himmel und wieder zurück in die tiefsten Abgründe der Seele, und am Ende der Reise erkennt man, fasziniert, dass Startpunkt und Ziel identisch sind." Fast ausschließlich führt dieser Weg durch tiefste Dunkelheit, Einsamkeit, den Verlust von allen Abhängigkeiten, Vorstellungen und Überzeugungen - der Mensch wird zum leeren Gefäß, um erst dann Gott unmittelbar zu erfahren, um eins mit sich und mit Gott zu werden. Oft scheint das eine schmerzhafte, an Selbstzerstörung grenzende Reise und Erfahrung zu sein. Ein Gott zum Küssen, aber nicht zum Kuscheln. Nicht das Außergewöhnliche mache den Mystiker aus, "sondern die geöffneten Augen für die Tiefendimension des Alltäglichen".

An diesen roten Faden bindet Feldmann seine Auswahl von "skeptischen Menschen in ihrer Zerrissenheit zwischen religiöser Sehnsucht und Gotteszweifel" - allesamt mutige Kämpfer und Kämpferinnen, Kritiker und Reformer, Denker und Visionäre, Zweifler und Suchende - bekannte Namen und weniger bekannte. Feldmann zeigt über die verschiedenen Lebenswege sehr unterschiedliche Facetten von mystischer Erfahrung: in Einsamkeit, Schweigen und Schlichtheit, in unbändiger Liebe und Narretei, in Visionen und parapsychologischen Phänomenen, in sozialem und gesellschaftlichem Engagement. Allen vorgestellten Mystikern aber ist gemeinsam: Sie drehen sich nicht um sich selbst, sondern richten den Blick auf die Mitmenschen. Das ist meist mit Kritik gegen herrschende Konventionen und Dogmen verbunden - theologisch, gesellschaftlich oder politisch. Je näher die Mystiker in der modernen Zeit leben, desto politischer und gesellschaftskritischer scheint ihre Mystik geprägt.

Feldmann beleuchtet in jedem Kapitel kurz den kulturellen und historischen Hintergrund und stellt Person, Lehre und Leben vor: Antonius und die Wüstenmönche, Hildegard von Bingen, Meister Eckhart, Marguerite Porete, Gertrud von Helfta und ihre Mitschwestern, Filippo Neri, Teresa von Ávila, Juan de la Cruz, Paul Gerhardt, Gerhard Tersteegen, Thérèse de Lisieux, Pierre Teilhard de Chardin, Madeleine Delbrel, Thomas Merton, Frère Roger von Taizé, Ignacio Ellacuría und Dorothee Sölle. Von allen liefert er eine kurz gehaltene Biografie und beschreibt persönliche Charakterzüge, einschneidende Wendepunkte und Entwicklungen im Leben, ihr Verständnis von Gott und Glauben, aber auch die Reaktionen ihrer Umwelt. Dafür bleiben ihm im Durchschnitt zwanzig Seiten. Das ist nicht viel, aber er schafft es, einen Eindruck zu vermitteln. In leicht verständlicher Sprache arbeitet er die komplizierte, gar nicht so leicht verständliche Gedankenwelt dieser Menschen unterhaltsam auf. Er verwendet schöne Bilder, erfrischt zuweilen mit auflockernden Anekdoten und spannenden Geschichten. Ergänzt wird jedes Kapitel mit ausführlichen Zitat-Proben, die ein Gefühl für die Sprache und den Gedankenstrom der Porträtierten vermitteln - ein Buch nicht für Experten, sondern für Interessierte. Es bietet Gelegenheit, in ein Thema einzutauchen, das einem bisher unbekannt war. Es bietet neben einem soliden Überblick mancherlei Anregung, auf Phänomene mystischen Erlebens im eigenen Alltag zu achten - ein Nachweis der vom Autor wiederholt hervorgehobenen Zeitlosigkeit der vorgestellten Entwürfe.

Christian Feldmann: Ein Gott zum Küssen. Wie Mystiker leben und was sie erfahren. Herder Verlag, Freiburg 2012, 277 Seiten, Euro 18,99.

Katharina Lübke

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