Wahnsinn und Verbrechen

Gedanken über "Schwarze Romantik" anlässlich einer Ausstellung im Frankfurter Städel
Caspar David Friedrich: Mond hinter Wolken über dem Meeresufer (Meeresküste bei Mondschein), 1836.
Caspar David Friedrich: Mond hinter Wolken über dem Meeresufer (Meeresküste bei Mondschein), 1836.
Die Schwarze Romantik als Epoche europäischer Malerei - das ist nach der überzeugenden, der Frankfurter Ausstellung zugrunde liegenden These eine nicht enden wollende Geschichte, die weit über die Zeit der eigentlichen Romantik hinausreicht. Helmut Kremers hat die Ausstellung gesehen.

In Film und Buch Die Vermessung der Welt reagiert der schon demente Kant auf den ihn besuchenden Verehrer Gauss nur mit einem einzigen Wort: "Wurst" - Anspielung auf die Reduktion des einstigen Kopfmenschen Kant auf seine physischen Bedürfnisse. Doch lässt sich dem Wörtlein auch eine metaphorische Bedeutung abgewinnen: Als Ergebnis jeder Art von Vernunftbemühen bleibt nur das "Alles ist eitel", alles Wurst also, wie der Volksmund sich ausdrückt.

Das Jahrhundert der Aufklärung war zu Ende. Geblieben war eine Ernüchterung: Die Vernunftherrschaft hatte nicht zur besseren, weil humanen Welt geführt. "La Terreur" im Dienste des Fortschritts der Menschlichkeit hatte mittels der verteufelt humanen Guillotine die Entzauberung der Welt vollendet. Anschließend gab Napoleon dann den Impresario eines großen Als-Ob-Rauschs, eines Kults der heroischen Geste und des heroischen, am Ende nur noch schäbigen Sterbens.

Die Klassiker hatten versucht, mit Maß das Ziel im Auge zu behalten, aber Schiller war tot, und der große Alte in Weimar verharrte in den Wolken seines ganz persönlichen Olymps. Alles eitel, alles Wurst? Es wurde Zeit für ein Gegenprogramm.

Zurück zum Gefühl

Das war die Stunde der Romantiker. Sie fanden zurück zum Gefühl. Rousseau war ihr Prophet, Hölderlin der ihnen vorauseilende Stern. Den Romantikern genügte es nicht, den Vernunftkahlschlag kaum zu kaschierender Sinnlosigkeit auf intellektuell und menschlich verträgliche Weise zu ignorieren. Sie wollten die Welt wiederverzaubern - und sei es auch im Modus des Als-Ob, denn einen soliden Weg zurück vor Kant gab es nicht. So tummelten sie sich frohgemut in imaginären Welten, meist angeblich historischen, immer aber ihre eigenen Kreationen. Sie waren sich darüber im Klaren, darin wurzelte die Ironie der frühen Romantiker. Den späteren kam sie abhanden, ihnen geriet die Kunst unter der Hand zur Religion. In deren Zeichen ließen sich ganz ungeniert Fantasy-Bilder von der mittelalterlichen Welt, der römischen Kirche und der alleinseligmachenden Religion malen.

Bei den Nazarenern beispielsweise erhoben allzu reine Frauen, nicht nur Madonnen, ihre Augen mit Vorliebe schmachtend gen Himmel und suggerierten so - eine gewisse enthusiastischen Bereitschaft auf Seiten des Betrachters vorausgesetzt -, dass jemand dort droben ihren Blick wohlwollend erwidert. Das sorgte für seelische Levitationen, Vernunft hin oder her.

Höchste Grade der Vernunftresistenz aber wiesen ganz offensichtlich die dunklen Seiten des menschlichen Daseins auf. Die Blicke in die Abgründe der menschlichen Natur, der eigenen Seele, erwies: Von da unten starrte manches zurück. Mit anderen Worten: Der Schrecken blieb. Kaum noch ließ sich Gott für ihn verantwortlich machen oder den Teufel, gewiss aber den Menschen in seinem Wahn. Auf Johann Heinrich Füsslis Gemälde "Der Nachtmahr" (1790/91) steckt ein weißes Pferd seinen Kopf durch Bettvorhänge, die weißlich-blinden Augen auf eine düstere Szene gerichtet: Eine Frau im weißen Nachthemd liegt auf dem Bett, ihr Kopf, unnatürlich weit nach hinten gebogen, hängt über dessen Rand. Auf ihrer Brust hockt ein scheußlicher Gnom - blinzelt er in abgründiger Schamlosigkeit zum Betrachter hinüber, ihn zum voyeuristisches Pedant jenes Pferdes degradierend?

Johann Heinrich Füssli: Der Nachtmahr, 1790/91
Johann Heinrich Füssli: Der Nachtmahr, 1790/91
Bild
Arnold Böcklin: Schild mit dem Haupt der Medusa, 1887
Arnold Böcklin: Schild mit dem Haupt der Medusa, 1887

Dieses Gemälde eröffnet die große Ausstellung "Schwarze Romantik" im Frankfurter Städel.

Der Begriff selbst wurde für die literarische Romantik geprägt (wohl von Mario Praz 193o). Doch was mit ihm gemeint war, spiegelt sich ebenso in der bildenden Kunst: Bilder wie Albträume. Viele von ihnen visualisieren literarische Szenen, die Verbindung zwischen Literatur und bildender Kunst ist unverkennbar. Ein Pater Medardus etwa absolviert in E.T.A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels einen Höllenritt durch verschiedene Erlebens- und Bewusstseinszustände, wie ein Drogensüchtiger auf einem bad trip. Auch er tritt uns auf einer Leinwand entgegen (Carl Blechen, 1826).

In Frankfurt sind viele der eindrücklichsten Werke der Schwarzen Romantik ausgestellt - und zahlreiche darüber hinaus, denn die gut belegte Grundthese der Ausstellungsmacher lautet: Was die schwarze Romantik ausmachte, endete nicht an einer klar definierten Epochengrenze. Vielmehr ließen sich Künstler immer wieder neu vom Schrecken faszinieren, und sie tun es bis auf den gegenwärtigen Tag. Im neunzehnten Jahrhundert zeigte sich dies in deutschen Malerschulen und im französischen Symbolismus, im zwanzigsten im Surrealismus und schließlich auch im Film, der sich als neue Kunstform verstand, als Transformation von Bühne und Malerei: Murnaus Nosferatu, Boris Karloff als Frankenstein und andere Ausschnitte sind in der Ausstellung zu sehen.

Irgendwo im dunklen Übergang zwischen zwei Räumen zieht ein Haupt der Medusa den Blick auf sich und erinnert daran, dass es nicht beim wohligen Schauder bleiben muss: Immer droht der Mensch dem Bösen allen Ernstes zu verfallen. Die Medusa (1887) stammt von Arnold Böcklin, dem Maler der Toteninsel - einem Künstler, der der historistischen Salonmalerei so nahe stand, wie umgekehrt die angeblich gefühligen Romantiker ihren Kollegen mit dem bösen Blick. Der Riss führt ja durch den Menschen selbst.

Römischer Weihrauchdunst

Jener Johann Heinrich Füssli (1741-1825) war übrigens zunächst schweizerisch-reformierter Pastor. Als Maler machte er als Henry Fuseli Karriere in England. Es gibt freilich das Klischee von der Rom-Affinität der Romantiker. Doch der Romantikkenner Octavio Paz behauptete, die Romantik sei eine Frucht der Reformation, wie viele Romantiker auch durch römischen Weihrauchdunst angelockt worden sein mögen. Das lässt sich anhand von Künstlerbiographien erhärten und entspricht wohl dem ideen- und religionsgeschichtlichen Gefälle von der Reformation über die Aufklärung bis zu der desillusionierten Illusionskunst der Romantik.

Im Zentrum der Ausstellung überrascht Caspar David Friedrichs "Meeresküste bei Mondschein" (1836): Nichts findet sich da von Albtraum oder Mord, nichts von lauerndem Schrecken. Ein Werk der Schwarzen Romantik? Auch dieses letzte Gemälde Friedrichs weist die kalkulierte Bedeutungs-Vieldeutigkeit fast aller seiner Bilder auf: Bezeugt es die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Menschen? Ist es Spiegel menschlicher Gemütsruhe? Seiner Resignation? Oder zielt es gar auf hereinbrechende plötzliche Bedeutungsevidenz, also auf ein mystisches Erlebnis?

"Wo Frieden ist, wächst das Bedrohliche auch", ließe sich (Hölderlin verkehrend) sagen, und sei es im Innern des Betrachters.

So diskret geht es bei den meisten Schwarzromantikern nicht zu. Viele von ihnen, so scheint es, waren geradezu obsessiv von der menschlichen Grausamkeit besessen. Vielleicht sogar ohne dass es ihnen selbst bewusst wurde, noch stand ihnen der ganze aufklärerische rationale Humanitätswillen zu Gebote. Goya zum Beispiel. Er war überzeugt davon, dass seine Schreckensbeispiele der Verbesserung der Menschheit oder wenigstens zu ihrer Anklage dienten und dass er deshalb nicht aufhören konnte, gequälte und verstümmelte Leiber wiederzugeben (der spanische Guerillakrieg gegen Napoleons Truppen boten ihm das Anschauungsmaterial). Wiederholt malte er (genüsslich? ungeheurer Verdacht!) die Szene aus, wie Frauen von einer Soldateska zur Vergewaltigung abgeschleppt werden. Irritierend auch sein lustvoll-begeisterter nackter Menschenfresser ohne Genitalien.

Fadenscheinige Moral

Bei Antoine Joseph Wiertz, einem belgischen Maler mit viel Geschmack für das publikumsaffine Makabre, findet sich eine Frau, die ihr Kind geschlachtet hat: "Hunger, Wahnsinn und Verbrechen", (1853). Die Darstellung ist zweideutig, sexuell konnotiert. Auch Wiertz beteuerte, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten - und darin hat er sogar recht, wenn man das fadenscheinige Moral-Mäntelchen weglässt.

Heute ist das Spiel mit der Grausamkeit zur medialen Routine abgesunken. Gemessen daran haben die alten Bilder gleichsam nicht mehr die beste Auflösung. Dennoch: Eine Szene vermag auch Hartgesottene heute noch zu schockieren: die berühmte Szene aus dem Film "Ein andalusischer Hund" (1929) von Luis Buñuel und Salvador Dalí, wo einer Frau der Augapfel mit einem Rasiermesser aufgeschnitten wird. In der Ausstellung muss man ein schwarzes Tuch beiseite schieben, um die Szene in einem Guckloch betrachten zu können - vielleicht ein diskreter Hinweis darauf, wie artverwandt der kunstgenießende Blick dem des Voyeurs ist.

Doch bei Gemälden gibt es keine Einsicht ohne Sehen. So auch hier: Das Reflektieren und Räsonieren ist das eine, das andere das mit eigenen Augen Wahrnehmen. Zu groß die Fülle des Ausgestellten: Jedes Schlaglicht ist schon aufgrund der Auswahl tendenziös. Da hilft nur, die Ausstellung zu besuchen oder wenigstens den Katalog zu beschaffen - und dann vielleicht eine Betrachtung wie die folgende zu überprüfen: Die französisch-belgischen Symbolisten bringen in ihren Gemälden exakt das zur Darstellung, was im zeitgenössischen Diskurs über die "Décadence" verhandelt wurde und bei Joris Karl Huysmans zur Literatur geworden ist. Paul Hippolyte Delaroches "Die Frau des Künstlers auf dem Totenbett" mit schwebendem Goldring-Heiligenschein über ihrem Haupt, ist ein schlagendes Beispiel.

Manche Abzweigung der Schwarzen Romantik endete im Genrehaften und Abgeschmackten. Das verlangte schließlich nach einer Wiederkehr der Ironie, um die allzu glatte Schreckensroutine wieder aufzurauhen und für die Aufmerksamkeit haftfähiger zu machen. Bei Max Ernsts "Sie sind zu lange im Wald geblieben" (1927, zu sehen sind drei baumstrunkige Gestalten) ist das Spiel ebenso gelungen wie bei Dalís Gemälde "Riesige fliegende Mokkatasse mit unerklärlicher Fortsetzung von fünf Metern Länge" (1944/45). Das evoziert eher Schmunzeln als Schreckensbleiche. Natürlich besteht der Verdacht, dass es sich hier um nur scheinbar harmlose Köder handelt. Wenn ja: In welche Falle die locken sollen, dies heraus zu finden, bleibt eine Aufgabe der lustvoll betriebenen Kunstexegese.

Gleichgültigkeit der Welt, der Himmel verschlossen, alles Wurst? Auf einem Bild René Magrittes von 1927 sehen wir vier offenbar tote Tauben. Ihre Kadaver, ganz seriell-gleich, schweben mit blutiger Brust rücklings vor einer fahrig hingeworfenen Felswand. Der Titel des Werks: "Der mörderische Himmel". Auch eine Art der Rückgewinnung von transzendentalem Gelände.

Ausstellung:

Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst. Bis 20. Januar 2013, Städel Museum, Frankfurt am Main.

Öffnungszeiten:

Di, Fr bis So 10-18 Uhr

Mi und Do 10-21 Uhr

Mo geschlossen

Die Ausstellung wird anschließend vom Pariser Musée d'Orsay übernommen (4. März bis 9. Juni 2013).

Homepage Städel

Helmut Kremers

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