Bruch in der Tiefe

Mystik in den Weltreligionen: Keine eindeutige Geschichte
Tanzende Derwische des Mevlevi-Derwisch-Ordens im Sama Khana, Kairo, undatiert. Foto: akg-images/François Guènet
Tanzende Derwische des Mevlevi-Derwisch-Ordens im Sama Khana, Kairo, undatiert. Foto: akg-images/François Guènet
Gibt es überhaupt einen gemeinsamen Nenner für die vielen Mystiken dieser Welt oder überwiegen die Unterschiede? Udo Tworuschka, Professor em. für Religionswissenschaften in Jena, bahnt einen Weg durch den wuchernden Garten der mystischen Erscheinungsformen.

Soll von der "Mystik in den Weltreligionen" die Rede sein, gilt es zunächst, sich klar zu machen, dass beide Begriffe problematisch sind. Weder ist eindeutig klar, was Mystik ist, noch ist der Begriff "Weltreligion/en" zertifiziert. Wie viele Weltreligionen gibt es eigentlich? Manche handhaben den Begriff sehr strikt, zählen nur die drei "abrahamitischen Religionen" Judentum, Christentum und Islam dazu. Andere erweitern diesen Kreis um Buddhismus und Hinduismus auf fünf. Sieben sind es, wenn man die beiden chinesischen Religionen Konfuzianismus und Daoismus dazu zählt. Auf dem internationalen Buchmarkt finden sich Überblicksdarstellungen von bis zu elf Weltreligionen. Den Vogel schoss der Papst ab, als er im Oktober 1986 Vertreter von zwölf Religionen zum "Friedensgebet der Weltreligionen" nach Assisi einlud.

Was ist überhaupt eine Weltreligion? Zu den am meisten gehandelten Kriterien gehören ehrwürdiges Alter, zahlenmäßige Größe, geographische Verbreitung. Müssen alle erfüllt sein oder genügt es, wenn ein Kriterium erfüllt ist? Bedarf es noch anderer Merkmale?Grundlegende religionsstrukturelle Erkenntnisse verbinden sich mit den Namen Rudolf Otto (1869-1937) und Gustav Mensching (1901-1978). Der Marburger Systematische Theologe Otto wies 1917 auf das "Gesetz der Parallelen in der Religionsgeschichte" hin. Er setzte den fast überall gleichen Übergang vom Mythos zum Logos zwischen 800 und 500 v. Chr. an.

Sein Schüler, der vergleichende Religionswissenschaftler Gustav Mensching, legte in "Volksreligion und Weltreligion" (1938) strukturelle Unterscheidungskriterien von zwei Grundstrukturen (Volks- und Universalreligion) vor: Träger der Volksreligion sei ein sich generell im "Heil" befindliches Kollektiv (Familie, Clan, Stamm, Volk). Gott/Götter, auch die Ethik, seien auf ihre jeweiligen vitalen Gemeinschaften bezogen, so dass ihnen jeglicher Absolutheitsanspruch fehle.

Universal- bzw. Weltreligionen dagegen würden vom Einzelnen getragen, der sich in einer "generellen und existentiellen Unheilssituation" (christlich: Sünde, buddhistisch: Leiden) befinde. "Das neu entdeckte Ich strebt (...) zur Autarkie. Dieser Menschheitssituation entsprechen in unverkennbar strukturhafter Einmütigkeit alle Universalreligionen, denn sie gehen (...) alle von einem fundamentalen Bruch in der Tiefe der menschlichen Existenz aus und suchen eine neue Rückverbindung auf die eine oder andere Art mit dem Heiligen herzustellen."

Alle Sinne verschließen

Lässt sich hieraus schon eine gemeinsame Neigung zur Mystik begründen? Rudolf Otto hatte davor gewarnt, von einer einheitlichen Größe namens "Mystik" auszugehen, dafür sei die Mannigfaltigkeit der Ausprägungen viel zu groß. Für Mensching ist die Mystik eine spezifische Strukturform der Weltreligionen, andere finden auch bei nordamerikanischen Indianern und traditionellen afrikanischen Religionen Mystik. Immerhin lässt sich von Menschings Strukturanalyse ausgehend feststellen, dass sich die auf Innerlichkeit, tiefe Gemeinschaft und Verschmelzung ausgerichtete Frömmigkeitsform der Mystik (griechisch myein bedeutet "verschließen, alle Sinne verschließen") durch die weltreligiösen Traditionen der Menschheit zieht.

Die Mystik steht der "Welt" und allem, was an sie bindet, kritisch, ja ablehnend gegenüber. Das "Weltliche" gilt als heilshinderlich, weil es von Gott (theistische Mystik) bzw. dem Göttlichen (monistische Mystik) entfernt. Mystiker fühlen zwischen sich und der letzten Wirklichkeit einen unüberbrückbar scheinenden Abstand, der sie einsam werden lässt. Sie möchten diese Trennung aufheben, sich (wieder) mit Gott verbinden. Weil mystische Frömmigkeit einen planmäßig-systematischen Charakter hat, ist die Meditation ihre bevorzugte Frömmigkeitsübung. Qualifizierte Meister des Weges weisen ihren Schülern die Richtung: der Guru im Hinduismus, der zen-buddhistische Roshi, der Scheich im Sufismus, der chassidische Zadik, der Seelenführer im Christentum.

Im Anschluss an die biblische Geschichte von Jakobs Traum von der Himmelsleiter (Gen 28, 10ff.) hat die mystische Frömmigkeitstradition den Gedanken der Scala mystica, der "mystischen Leiter" zu Gott, entwickelt. Oft erlebt der Mystiker diesen Weg vor der endgültigen Unio mit Gott als steinig und dornenvoll. Er verzweifelt auf dem schmalen Pfad zum Heil, glaubt sich von Gott verlassen. Nicht nur christliche Mystiker nennen dies "mystischen Tod", "geistliche Kreuzigung", "Trockenheit", "dunkle Nacht der Seele". Seit Origenes (185-253/54 nach Chr.) wurde der Exodus als innerer Aufstieg der Seele zu Gott gedeutet. Mystiker wurden oft wegen ihrer vermeintlichen Weltabgewandtheit und Passivität kritisiert. Doch folgte ihrer "Hinreise" zu Gott gewöhnlich eine "Rückreise" in die Alltagswelt, die dann nicht länger als Heilshindernis gesehen wurde.

Alles Irdische birgt den Gottesfunken

Die früheste Epoche der jüdischen Mystik, die Merkaba-Mystik, reichte vom zweiten Jahrhundert v. Chr. bis in das zehnte Jahrhundert n. Chr. Mittelpunkt war die Schau der göttlichen Erscheinung auf dem "Thronwagen" (Ezechiel 1, 26). Die "Hechaloth-Bücher" (Ende viertes Jahrhundert bis zum Auftreten des Islam) schildern, wie die Mystiker die Himmelshallen und -paläste (Hechaloth) betreten, wo sich der bereits vor aller Schöpfung existierende Gottesthron befindet. Besonderes Merkmal dieser jüdischen Mystik ist die durch Askese vorbereitete Himmelsreise der Seele in die göttliche Lichtwelt.

In Gestalt der Kabbala ("Tradition") erlebte die jüdische Mystik im 12.-14. Jahrhundert vor allem in Spanien, Südfrankreich und Deutschland einen neuen Aufschwung. Von großer Bedeutung war die Idee einer Emanation: eines Ausfließens alles Seienden aus dem Göttlichen. Demnach birgt alles Irdische in sich Gottesfunken, die auf ihre Befreiung warten. Ziel der Kabbala ist die Gottesschau.

Nach dem Talmudgelehrten und bedeutenden Mystiker Rabbi Abraham Isaak Kook (1865-1935) führte die Trennung des Menschen ("Ebenbild Gottes") und der Welt von Gott zu Schmerz und Erlösungssehnsucht. Raw Kooks mystischer Weg führte nicht aus der Welt heraus, sondern verband sich mit einem glühenden Einsatz für den Zionismus. Im Gegensatz zu den meisten orthodoxen Rabbinern betrachtete Raw Kook das profane Siedlungswerk der Zionisten in Israel als "Beginn der Erlösung".

Chaitanya (indischer Mystiker, 1486–1533) tanzt den Lobpreis des Gottes Krishna. Indische Miniatur, 19. Jahrhundert. Foto: akg-images/Roland and Sabrina Michaud
Chaitanya (indischer Mystiker, 1486–1533) tanzt den Lobpreis des Gottes Krishna. Indische Miniatur, 19. Jahrhundert. Foto: akg-images/Roland and Sabrina Michaud

Der islamische Sufismus verdankt seinen Namen dem wollenen Gewand (Suf=Arabisch "Wolle"), das die Mystiker in Anlehnung an die Kleidung christlicher Mönche trugen. Die Mitglieder der verschiedenen Tariqat ("Orden") - Derwische (Persisch "Arme") bzw. Fakire - unterstehen der geistlichen Führung ihres Pir oder Scheich (Persisch, Arabisch "Meister"). Der Murid ("Schüler", "Derjenige, der den Willen hat") hat die Aufgabe, sich auf seinen Scheich zu konzentrieren, der wiederum mit seinen geistigen Ahnen verbunden ist. Der Schüler lässt sich vom Meister auf dem oft gefahrvollen geistigen Pfad führen.

Sufis erleben den mystischen Aufstieg vom menschlichen zum göttlichen "Ich" als "Wanderung" oder Reise der Seele. Diese besteht aus mehreren, in den Sufi-Traditionen variierenden Stationen ("Zuständen"). Unterschieden werden "Zustände", die mit eigener Kraft erreichbar sind, wieder aufgegebene "Stationen" und außergewöhnliche Erlebniszustände, die als göttliche Gnadengaben verstanden werden. Reue, Fasten, Schlafentzug, Armut, Geduld und der ständige Kampf gegen die Triebe sind die geforderten Tugenden auf dem Wege. Die "Furcht" der Seele, "zusammengepresst" zu werden und die als göttliche Finsternis erlebte Ferne vom barmherzigen und nahen Gott waren den Sufis ebenso vertraut wie die "Hoffnung", die sich schließlich im enthusiastischen Gefühl des "Sich Ausdehnens" und "Weiterwerdens" einstellte. Ziel der Meditation (Fikr) sind Liebe und Erkenntnis Gottes sowie Fana (Arabisch "Entwerden") in Gott, die völlige Aufhebung des Ich-Bewusstseins: Baqa ("Bleiben, Dauern in Gott").

Nägel schlucken

Für den Sufismus ist die Dhikr-Meditation (Arabisch, Persisch, Türkisch "Gedenken, Erinnern") von großer Bedeutung. Bereits im Koran spielt Dhikr eine wichtige Rolle. So ist das rituelle Pflichtgebet, die Salat, nicht ohne Dhikr zu verstehen: "Und verrichte das Gebet! Das Gebet verbietet, was abscheulich und verwerflich ist. Aber Gottes zu gedenken, bedeutet mehr" (29,45). Der Koran unterstreicht das Gedenken des Namens Gottes für das Leben der Muslime: "Gedenke nun des Namens deines Herrn und wende dich von ganzem Herzen ihm zu!" (73,8) "Und gedenke morgens und abends des Namens deines Herrn" (76,25).

Nachdem sich die Sufis rituell gereinigt haben, beginnen ihre Zusammenkünfte meist mit der Awrad Lesung, die u. a. aus Schutzgebeten und Koranversen besteht. Eine besondere Rolle spielt die Shahada, das "Glaubenszeugnis". Vor allem ihr erster Teil wird im Dhikr auch körperlich nachvollzogen. Die äußere Form des Dhikr unterscheidet sich je nach Ordenstradition. So gibt es die rhythmische Untermalung des sudanesischen Burhani-Dhikr, den Gesang im algerischen Alawi-Orden. Der aus dem zentralasiatischen und türkischen Raum stammende Naqshbandi-Dhikr beeindruckt durch seine Nüchternheit, den lautlosen Herzens-Dhikr. Im Rifa`i-Orden verwunden sich die Mystiker in absoluter Ekstase, schlucken Nägel.

Von den Sufi-Schülern wird nicht nur technische Kunstfertigkeit erwartet, vor allem auch ihre Bereitschaft zu niedrigen Diensten, zu Selbstentäußerung und vollkommener Hingabe, die sie von negativen Triebkräften freimachen soll. Der Tanz der zur Mevlevi-Tariqa aus Konya gehörenden Derwische ist ein Aufstiegs- und Vereinigungstanz. Der langsam anhebende, schneller werdende Tanz ist ein kosmischer Reigen. Die Gottestänzer drehen sich dabei um ihre eigene Achse sowie gleichzeitig im Raum. Der Körper ist die Achse des Universums. Der Tanz ist ein "Vorgeschmack auf das verlorene Zentrum" (Martin Lings) und somit die Suche nach dem eigenen Selbst.

Pfad zum Nirwana

Friedrich Heiler (1892-1967) stellte Jesus, den "Meister des Gebets", Siddharta Gautama Buddha gegenüber, den "Meister der Versenkung". Der meditative Frömmigkeitsweg ist das Herzstück des Buddhismus. Erst durch ihn wurde aus Siddharta Gautama der Buddha (der "Erwachte"). Buddhistische Texte warnen davor, ohne vorbereitende sittliche Zucht und genaue Kenntnisse des Weges mit der Meditation zu beginnen. Empfohlen wird, sich einen "edlen Freund", einen in Meditation erfahrenen Meister zu suchen. Notwendige Voraussetzungen für die Meditation und die dazu gehörigen Körperhaltungen sind abgeschiedene Orte wie Wald, Fuß eines Baumes, bergige Landschaft, Felsenhöhle, Friedhof, Dschungeldickicht, freies Feld, Strohhütte. Bevorzugt werden bestimmte Zeiten wie Morgendämmerung, Mittag, Sonnenuntergang.

Der Meditierende soll sich von den konzentrationshemmenden "fünf Hindernissen (des Heilvollen)" befreien: Gier, Übelwollen, Faulheit, Trägheit, Ruhelosigkeit, Gewissensunruhe, Zweifel. Zu den klassischen Meditationsformen im Theravada-Buddhismus gehören die Samadhi- und Vipassana-Meditation. Die erste Methode der "geistigen Konzentration" bewirkt Geisteskonzentration, kann bis zu höchsten "Versunkenheitsstufen" (Jhana) führen. Daraus können eine günstige Weiterverkörperung im nächsten Leben, ein gegenwärtig glückliches Dasein und Geistesreinheit resultieren - jedoch keine "Einsicht" in die letzte Realität, kein befreiender Ausstieg aus dem unheilvollen Kreislauf der Weiterverkörperungen. Die Samadhi-Meditation hat somit nur eine vorbereitende Funktion.

Die durch Meditation gewonnene "Einsicht in das wahre Wesen aller Dinge" (Vipassana) ist der direkte Pfad zur vollen "intuitiven Erkenntnis", zum Nirwana, wo alle Individualität schwindet. Im Visuddhi-Magga ("Weg der Reinheit") des Mönchs Buddhaghosa (5. Jh. nach Chr.) werden vierzig verschiedene Meditationsübungen und -objekte unterschieden. Durch sie kann der Übende bis zu neun Jhana-Stufen (Sanskrit "Versenkung") erreichen. Im Stadium nicht mehr sinnlicher Wahrnehmung nähert sich der Meditierende den äußersten Grenzen der Wahrnehmung. Auf der neunten Versenkungsstufe stellt sich das "Auslöschen von Bewusstsein und Empfindung" ein.

Satt der fremden Dinge

Ebenfalls monistische Züge hat die hinduistische Atman-Brahman-Lehre. Sie geht davon aus, dass das Brahman Ursprung und Ziel aller Existenz ist. Beschrieben wird es als reines Wesen (Sat), reine Einsicht (Cit) und reine Wonne (Ananda). Atman (etymologisch mit unserem Wort "Atmen" verwandt) entwickelte sich zum "Selbst", dem innersten Teil des Menschen, das hinter dem Ich der jeweiligen Existenzform verborgen liegt. Atman ist die göttliche Transzendenz selbst, an der der Personenkern teilhat. Der von der Upanishaden-Mystik gelehrte "Weg der Erkenntnis" hat die Einheit von Atman und Brahman vor Augen, die es zu erkennen und durch Yoga zu realisieren gilt. Die Erkenntnis und Freiheit von aller "ichhaften" (Mensching) Begierde führt zur Unio vom Atman und Brahman.

Eine theistische Mystik bieten die beiden monotheistischen Strömungen um die Großgottheiten Vishnu und Shiva. Sie lehrt den "Weg der Liebe" (Bhakti marga). Bhakti bedeutet liebevolle Anhänglichkeit, gefühlsmäßige, leidenschaftliche Hingabe an einen persönlichen "erhabenen Herrn" (Bhagavan) und kann - wie auch die christliche Mystik des Mittelalters (Brautmystik) - starke erotische Züge entwickeln. Die weibliche Seele verzehrt sich dabei nach Verschmelzung mit dem göttlichen Du.

Wir sehen: Rudolf Ottos Hinweis auf die Vielfältigkeit mystischer Erscheinungsformen kam nicht von ungefähr. Dennoch lässt sich ein - gewissermaßen zweiwertiger - Generalnenner ausmachen: Einerseits die auf Innerlichkeit, tiefe Gemeinschaft und Verschmelzung ausgerichtete Frömmigkeit, andererseits das spezifische Weltverhältnis. Letzteres hat der protestantische Mystiker Gerhard Tersteegen (1697-1769) unübertrefflich in Worte gefasst: "Ich bin so satt der fremden Dingen, so müd der Mannigfaltigkeit: Es kann mir nichts als Plage bringen: Zu enge wird mir`s in der Zeit."

Udo Tworuschka

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