Ein glühender Ofen voll Liebe

Mystik als Gegenwart und Zukunft des Christentums
„…so gehe hin, wo du still sein kannst“ (Luther). Paula Modersohn-Becker: Mädchenkopf, 1905. Foto: akg-images
„…so gehe hin, wo du still sein kannst“ (Luther). Paula Modersohn-Becker: Mädchenkopf, 1905. Foto: akg-images
Mystische Spiritualität an sich gibt es nicht, sie ist immer Intensivform der jeweiligen Religion und Konfession, davon ist Peter Zimmerling, Professor für Theologie in Leipzig, überzeugt. Auch wenn die verschiedenen "Mystiken" viele Schnittmengen aufweisen: es gibt eine unverwechselbare, speziell evangelische Mystik.

Es gibt kein mystikfreies Christentum. Evangelische Mystik muss Mystik für jedermann und jedefrau sein. Diese beiden Thesen sind im Folgenden zu entfalten, wobei ich zunächst darstellen möchte, was ich unter Mystik verstehe.

Mystik ist eine Form spiritueller Erfahrung mit dem Ziel der Gottesbegegnung. Insofern stellt Mystik eine Intensivform von Spiritualität dar, was nicht einseitig im Sinne von spirituellen Gipfelerfahrungen - wie Visionen, Auditionen und Elevationen - zu verstehen ist. Mystische Erfahrungen können von solchen Erscheinungen begleitet sein. Aber genauso gehören zur Mystik Erfahrungen der Anfechtung. Martin Luther hielt fest: "Siehe, er (Gott) steht hinter der Wand und sieht durch die Fenster. Das ist so viel wie: Unter den Leiden, die uns gleich von ihm scheiden wie eine Wand, ja eine Mauer, steht er verborgen und sieht doch auf mich und lässt mich nicht. Denn er steht und ist bereit zu helfen in Gnaden und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässt er sich sehen."

Im Zentrum der mystischen Erfahrung steht die Unio mystica, die Vereinigung mit Gott. Das Ziel mystischen Glaubens kann mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet werden: etwa als Schau des göttlichen Lichtes, als Vergöttlichung, als bildlose Freiheit. Entscheidend ist, dass die Unio sowohl Liebe als auch Erkenntnis umfasst und als unverdientes Geschenk empfunden wird. Gott wird in dialektischer Weise im Modus der Gegenwart und des Entzugs erfahren. Die Unio führt zu einer Form von Selbsttranszendenz, die gleichzeitig Selbstwerdung und Selbstverlust umfasst.

Mystik braucht Verortung

Dabei ist das Ziel der mystischen Erfahrung Teil eines Gesamtprozesses, der Vorbereitung, Ziel und Auswirkungen umfasst. Das Ziel darf von den übrigen Teilen des Prozesses nicht isoliert werden, weil sonst die mystische Erfahrung in der Luft hängt, merkwürdig ortlos wird. Es gibt keine mystische Erfahrung ohne Verortung in einer gelebten Religion! Christliche Mystik zeichnet sich deshalb seit ihren Anfängen durch zwei Merkmale aus: durch die Orientierung am biblischen Wort und an der Person Jesu Christi. Die Orientierung an der Bibel wird durch die Beobachtung bestätigt, dass mystische Erfahrung im Christentum zur Versprachlichung tendiert. Das zweite Merkmal, ihre christologische Orientierung, wird daran deutlich, dass die Person Jesu Christi eine entscheidende Rolle spielt.

Nicht zuletzt aufgrund der Isolierung des Zieles vom mystischen Gesamtprozess wird häufig die Auffassung vertreten, Mystik sei eine Form von "Meta-Religiosität", die in allen Religionen gleichermaßen vorkomme, ohne in der jeweiligen Religion aufzugehen. Mystik wäre danach der gemeinsame spirituelle Kern aller Religionen - gewissermaßen das Herz, das übrig bleibt, wenn alle äußeren Einkleidungen der jeweiligen Religion abgeschält sind. Die Frage ist, ob dieser Ansatz der Wirklichkeit der Religionen und der Mystik entspricht. Ich bin der Überzeugung, dass es, umgekehrt, mystische Spiritualität nicht an sich gibt, sondern nur als Intensivform der jeweiligen Religion, in der sie beheimatet ist. Daher spielt auch die konfessionelle Prägung für die jeweilige Gestalt der Mystik eine wichtige Rolle, und es ist berechtigt, von evangelischer Mystik im Unterschied zu katholischer Mystik zu sprechen.

Hochschätzung und Ablehnung

Damit soll nicht bestritten werden, dass es zwischen den mystischen Spiritualitäten der unterschiedlichen Konfessionen und Religionen mehr oder weniger große gemeinsame Schnittmengen gibt. Schnittmengen, die tatsächlich größer sein können als die zwischen den verschiedenen Theologien. Schon die Tatsache, dass die mystische Erfahrung als Geschenk erlebt wird, deutet in diese Richtung. Auch die Betonung von Unmittelbarkeit und Individualität kann als Potenzial im Sinne einer Ökumene der Religionen wirksam werden. Wichtiger erscheinen mir im Hinblick auf das ökumenische Potenzial der Mystik aber folgende beiden Gedanken: Mystik entfaltet seine ökumenische Kraft heute darin, dass das Interesse an ihr Menschen unterschiedlicher konfessioneller, ja sogar religiöser Herkunft miteinander verbindet. Außerdem lässt die Beschäftigung mit der Mystik in allen Konfessionen und Religionen Defizite religiösen Erlebens gegenüber der theologischen Reflexion erkennen, wobei mystische Theologie die Kraft besitzt, diese zu füllen.

Bis in die jüngste Vergangenheit stellte die Beziehung zwischen Mystik und evangelischer Theologie eine Problemgeschichte dar. Dadurch entstand der falsche Eindruck, dass die Ablehnung der Mystik in der protestantischen Theologiegeschichte ein durchgängiges Motiv bildete. Es war nicht zuletzt die Ambivalenz von Martin Luthers eigenen Aussagen zur Mystik, die diesen Eindruck begünstigte. Bei manchen evangelischen Theologen klafften überdies theologische Urteile über die Mystik und ihre spirituelle Nähe zur Mystik auseinander. Während etwa Dietrich Bonhoeffer die Mystik in seinen Schriften fast durchgängig ablehnt, lässt sich - vorsichtig gesagt - in seiner Biographie und seinen theologischen Schriften eine mystische Dimension erkennen. Bei genauerem Hinsehen bietet die Rezeptionsgeschichte der Mystik im Protestantismus ein uneinheitliches Bild. Zeiten der Hochschätzung und Zeiten der Ablehnung wechseln einander ab. Außerdem wird erkennbar, dass die Mystik über lange Zeiträume hinweg durchaus kein Randphänomen war.

So besitzt die frühe lutherische Orthodoxie ein überwiegend positives Verhältnis zur Mystik - nicht anders als ihr späterer Gegner, der ältere Pietismus. Dass die Mystik in der lutherischen Orthodoxie Heimatrecht hatte, zeigt sich besonders eindrucksvoll an ihren Liedern. Die beiden prominenten orthodoxen Liederdichter Philipp Nicolai (1556-1608) und Paul Gerhardt (1607-1676) waren der Reinheit des Bekenntnisses verpflichtet und gleichzeitig von der Mystik erfasst. Die Lehre von der Unio mystica besaß in der lutherischen Dogmatik eine Schlüsselstellung: Die Vereinigung mit Gott ist das Ziel sämtlicher Werke Gottes von der Schöpfung bis zum ewigen Leben. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzt sich in der deutschen protestantischen Theologie eine Antipathie gegenüber der Mystik durch.

Wiederkehr der Mystik

Inzwischen hat sich die Situation noch einmal völlig verändert. Für die Wiederkehr der Mystik im Protestantismus in den vergangenen Jahrzehnten sind sowohl theologische als auch soziologische Ursachen verantwortlich. Dass gerade soziologische Gründe eine wesentliche Rolle spielen, zeigt sich daran, dass sich das neue Interesse an der Mystik nicht auf den Raum der Kirchen beschränkt, sondern ein Phänomen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist. Es lässt sich in der Musik, der bildenden Kunst, der Literatur, der Philosophie und der Psychologie beobachten. Kein geringerer als Karl Barth (1886-1968) deutet in seinem letzten Lebensjahr 1968 selbstkritisch eine Wende in seiner Beurteilung der Mystik an. Er fragt sich, ob nicht in der katholischen und orthodoxen Mystik der im Geist "sich selbst vergegenwärtigende und applizierende Gott" am Werk gewesen sein könnte.

Schon zwei Jahre zuvor hatte Karl Rahner (1904-1984) die inzwischen vielfach zitierte These aufgestellt: "Der Fromme von morgen wird ein 'Mystiker' sein, einer, der etwas 'erfahren' hat, oder er wird nicht mehr sein." An anderer Stelle präzisiert Rahner, was er unter mystischer Erfahrung versteht: "Wenn man unter Mystik nicht seltsame parapsychologische Phänomene versteht, sondern eine echte, aus der Mitte der Existenz kommende Erfahrung Gottes, dann ist dieser Satz sehr richtig und wird in seiner Wahrheit und seinem Gewicht in der Spiritualität der Zukunft deutlicher werden." Es geht Rahner also um eine Mystik, die allen Menschen offen steht und die den Menschen in seiner gesamten Existenz erfasst. Dabei betont er, dass es immer nur "vermittelte" unmittelbare Geist-Erfahrungen gibt. Der Ausdruck, den eine mystische Erfahrung in einem Menschen findet, wird sich immer nach soziologischen und anderen Gegebenheiten richten. Erst recht gilt das für alle Versuche eines Mystikers, seine Erfahrungen zu versprachlichen.

Luthers Mystik

Jüngeren Datums ist eine geradezu revolutionäre Kehrtwende in der Lutherforschung: Der Reformator hat danach Anliegen mystischer Spiritualität positiv aufgenommen, diese aber im Sinne seiner reformatorischen Erkenntnisse neu interpretiert. Vor allem Volker Leppin und Berndt Hamm stellen zusammen mit der Kontinuität zwischen reformatorischer und spätmittelalterlicher Theologie die bleibende mystische Prägung von Luthers Denken heraus. Luthers Verwendung der Mystiktheologie bietet die Chance, seine Christologie und Rechtfertigungslehre nicht nur forensisch, sondern auch in mystischen Kategorien, das heißt in ganzheitlichen Frömmigkeitsbezügen darzustellen.

Über ein Jahrtausend lang wurde die Christenheit vom Bild des fernen, zornigen Gottes beherrscht, eines Rächer-Gottes, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Im Mittelalter wurden die Heiligen deshalb zum Schutzschild zwischen den Gläubigen und Gott. Erst die Deutsche Mystik entdeckte das neutestamentliche Gottesbild vom nahen und liebenden Gott wieder. Durch Martin Luther kommt es zur Demokratisierung des mystischen Gottesverständnisses. Grunddatum seiner Spiritualität ist die Inkarnation, die Geburt des Sohnes Gottes als Kind in der Krippe von Bethlehem, die an Weihnachten gefeiert wird. Martin Luther kann deshalb mit Fug und Recht als der erste neuzeitliche "Weihnachts-Christ" bezeichnet werden. Im Kind in der Krippe ist Gott dem Menschen unüberbietbar nahe gekommen. Das Jesuskind ist für Luther der klarste Spiegel der väterlichen Liebe Gottes. Weil im Zentrum von Luthers Glaube der in Jesus Christus Mensch gewordene liebende Gott steht, bekennt er: "Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe." Die Freude über die in Jesus Christus erschienene Liebe Gottes wirft einen Glanz der Dankbarkeit über die Spiritualität, alles Ängstliche verschwindet. Dadurch kommt eine ganz neue Wärme in das Verhältnis des Menschen zu Gott hinein.

Impulse für Protestanten

Auf dem Hintergrund des neuen Interesses an mystischen Traditionen ist eine wichtige Frage, wie verhindert werden kann, dass die Mystik zu einer Angelegenheit religiöser Spezialisten verkommt. Evangelische Spiritualität ist von Hause aus alltagsverträglich und darum für jedermann lebbar. Hinter diese Errungenschaften darf eine Renaissance der Mystik im Protestantismus nicht zurückfallen. Angesichts eines nüchternen Arbeitsalltags reicht vielen Menschen die Reduzierung des Glaubens auf Verstand und Wille nicht mehr aus. Sie wollen Gott auch auf emotionale und sinnliche Weise erfahren. Ich sehe sechs Impulse der Mystik, die in dieser Situation zu einer Bereicherung evangelischer Spiritualität beitragen können.

1. Evangelische Spiritualität kann von der Mystik die Gewissheit der Nähe Gottes lernen. Die große Spanische Mystikerin Teresa von Ávila schrieb in ihrer Autobiographie Vida: "Meine Liebe und mein Vertrauen zum Herrn begannen sehr zu wachsen, als er sich mir zu erkennen gab als jemand, der jederzeit zu sprechen ist."

2. Evangelische Spiritualität kann von der Mystik lernen, dass zum Glauben Erfahrungen gehören. "Da muss nun angehen die Erfahrung, dass ein Christ könne sagen: Bisher habe ich gehört und geglaubt, dass Christus mein Heiland sei, so meine Sünd und Tod überwunden habe. Nun erfahre ich's auch, dass es also sei. Denn ich bin jetzt und oft in Todesangst und des Teufels Stricken gewesen. Aber Er hat mir heraus geholfen und offenbart sich mir also, dass ich nun sehe und weiß, dass er mich lieb habe, und dass es wahr sei, wie ich glaube" (Martin Luther).

3. Evangelische Spiritualität kann von der Mystik die Liebe als Grundmotiv des Glaubens lernen. Jahrhunderte lang wurde "das Christliche in der Temperierung der Leidenschaften" gesehen (Dietrich Bonhoeffer). Bonhoeffer weist zu Recht darauf hin, dass sich in der Bibel nirgends eine solche Forderung erkennen lässt. Die Mystik kann helfen, zu einem leidenschaftlichen Glauben zu finden.

4. Evangelische Spiritualität kann durch die Mystik die Askese als Freisein für Gott entdecken. Im Dienst für Jesus Christus kennen Mystiker kein Maß. Weil sie aus Liebe Askese üben, verliert die Askese ihren muffigen Beigeschmack. Solche Askese lässt Raum für die Bejahung der Schöpfungsgaben. Als bei einem Besuch Teresas Lieblingsspeise aufgetragen wurde, gab sie einer Laienschwester, die nicht verstehen wollte, warum die Heilige das Essen so ungeniert genießen konnte, die berühmte Antwort: "Lobe lieber die Freundlichkeit deines Herrn und merke dir: wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, wenn Buße, dann Buße."

5. Evangelische Spiritualität kann von der Mystik die Integration von Leid und Schmerz in die Frömmigkeit lernen. Die moderne Leistungsgesellschaft hat das Sensorium für den Wert von Leiden und Krankheit verloren. Sie weiß nichts mehr von der Erkenntnis des englischen Literaturwissenschaftlers C. S. Lewis: "Gott flüstert in unseren Freuden, er spricht in unserem Gewissen; in unseren Schmerzen aber ruft er laut. Sie sind Sein Megaphon, eine taube Welt aufzuwecken." Menschen reagieren auf Leiden mit dem Wunsch nach schnellstmöglicher Beseitigung oder mit Verdrängung. Die Mystik verhilft zu einem gesünderen Umgang mit Leid und Schmerz: Leiden wird zur Auszeichnung, weil es Menschen dem Leiden Jesu Christi gleichförmig macht.

6. Evangelische Spiritualität kann von der Mystik die Bedeutung von Stille und Einsamkeit lernen. Kontemplation ist tragender Grund und beständige Kraftquelle des Handelns. Ausdrücklich empfahl Luther den Weg der Stille als Weg zu Gott: "Gleichwie die Sonne in einem stillen Wasser gut zu sehen ist und es kräftig erwärmt, kann sie in einem bewegten, rauschenden Wasser nicht deutlich gesehen werden. Darum, willst du auch erleuchtet und warm werden durch das Evangelium, so gehe hin, wo du still sein und das Bild dir tief ins Herz fassen kannst, da wirst du finden Wunder über Wunder."

Ich hoffe, dass meine Überlegungen deutlich gemacht haben: Ein mystikfreies Christentum stellt eine Unmöglichkeit dar. Mystik bildet das unverzichtbare Salz im Raum der evangelischen Christenheit.

Peter Zimmerling

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