Auf dem Weg ins dritte Jahrtausend

Wie der Islam aus dem Geist der Ursprünge transformiert werden kann
Salafisten im Blickpunkt: Sie fordern einen vormodernen, archaischen Islam. Foto: dpa
Salafisten im Blickpunkt: Sie fordern einen vormodernen, archaischen Islam. Foto: dpa
Sind Islam und Moderne miteinander vereinbar? Karl-Josef Kuschel, der an der Universität Tübingen "Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs" lehrt, beschreibt eine historische Debatte, an die sich zu erinnern lohnt.

Um Ostern 2012 gehen Meldungen und Berichte durch die Medien, dass so genannte Salafisten damit begonnen hätten, in deutschen Innenstädten kostenlos und massenweise Korane zu verteilen. Schnell wird bekannt, um wen es sich bei den Salafisten handelt: um eine kleine Minderheit von islamistischen Extremisten, die einen archaisch anmutenden Islam predigen. In Deutschland schätzt man die Zahl ihrer Anhänger auf 4.000. Der Ausdruck "Salafisten" oder "Salafismus" leitet sich ab vom arabischen Wort "salafiyya", was ungefähr so viel bedeutet wie: "Rückbesinnung auf die Vorväter oder die Altvorderen". Als Personen gemeint sind die Gefährten des Propheten Mohammed und die ersten beiden Generationen seiner Anhänger. In der Sache gemeint ist die Orientierung an einem angeblich noch reinen, unverfälschten Islam der Frühzeit, wie er auf der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts entstand und gelebt wurde.

Salafisten von heute wollen zu einem solch archaisch-vormodernen Islam zurück. Ihr dualistisch-spalterisches Weltbild lässt sie alle Neuerungen verwerfen, die es in der Geschichte des Islam gegeben hat, insbesondere alle Anpassungen des Islam an die Moderne: Demokratie, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Emanzipation der Geschlechter. Gegen diese Moderne befindet man sich im Dschiad, dem heiligen Krieg gegen die Ungläubigen - innerhalb und außerhalb des Islam. Gegen sie propagiert man die Einführung und Anwendung einer radikal ausgelegten Rechtsordnung, Scharia. Sicherheitsfachleute erkennen denn auch hier ein ernstzunehmendes Gefahrenpotenzial für alle offenen westlichen Gesellschaften und weisen darauf hin, dass in vielen Fällen der Weg zum Terrorismus über den Salafismus geführt habe, der den ideologischen Nährboden für diese Art der Radikalisierung biete. Der bundesdeutsche Verfassungsschutz hat deshalb auch begonnen, diese Form eines archaisch-totalitären Islam unter Beobachtung zu nehmen.

Doch Salafismus hatte nicht immer den Klang des Reaktionären. Im Gegenteil. Der Begriff hat in den vergangenen Jahrzehnten einen radikalen Bedeutungswandel erfahren. Daran lohnt sich, gerade heute zu erinnern, in einer Zeit, in der sich nicht zuletzt auf Grund politischer Radikalisierung umso dringender die Grundfrage stellt, ob der Islam überhaupt mit den Errungenschaften von europäischer Aufklärung und Moderne vereinbar sei. Zu erinnern lohnt an eine Debatte um eben diese Frage, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat: In deren Zentrum stand ein Mann, der bis heute den Ruf eines großen Reformers in der Welt des Islam genießt: Dschamal ad-Din al-Afghani (1838 - 1897). Er, dem man eine Herkunft aus Afghanistan zuschrieb (daher "al-Afghani", der Afghane), der in Wirklichkeit aber im Iran geboren worden war, war lange Jahre in Konstantinopel, Kabul, Kairo und Teheran als leidenschaftlicher politischer Aktivist und Publizist tätig.

Seine Arbeit widmete er zum einen der Einheit der muslimischen Völker und Nationen als Akt der Selbstbehauptung gegen den europäischen Kolonialismus (die Franzosen in Nordafrika, die Briten in Ägypten und Indien), zum anderen der inneren geistig-intellektuellen Erneuerung des Islam. Und da al-Afghani - aller Skepsis von Europäern zum Trotz - den Islam durchaus mit der von Naturwissenschaft und Technik geprägten Moderne für vereinbar hielt, warb er in der ganzen islamischen Welt für eine dynamische, kreative und progressive islamische Zivilisation und Religion.

Aufsehen erregte 1883 während seines Paris-Aufenthaltes der Briefwechsel al-Afghanis mit dem schon damals berühmten, aber wegen seiner historisch-kritischen Arbeiten zum Christentum ("Leben Jesu" 1863) heftig umstrittenen französischen Orientalisten Ernest Renan (1823-1892). Thema: die Reformfähigkeit des Islam. Wie es zur "gegenwärtigen Inferiorität muslimischer Länder" habe kommen können, fragte schon der Franzose vor einhundert Jahren und zwar öffentlich in einer Vorlesung am 29. März 1883 an der Pariser Sorbonne. Und dieselbe Frage ist auch heute noch brisant. 2002 nimmt sie ein Schriftsteller mit muslimischem Hintergrund auf, der in Frankreich lebende Tunesier Abdelwahab Meddeb mit seinem Buch Die Krankheit des Islam. Dann 2003 ein international angesehener amerikanischer Islamkundler: der in Princeton lehrende Bernhard Lewis, der ein viel diskutiertes Buch unter dem Titel vorlegt: "What went wrong? The Clash between Islam and Modernity in the Middle East".

Was Renan betrifft, so gipfelte seine Intervention in der Behauptung, es sei der Islam selber, der für die "Inferiorität" der betroffenen Länder und die "Geistes-Beschränktheit" seiner Gläubigen verantwortlich sei. Denn diese Religion mache den Menschen vor, die "absolute Wahrheit" zu besitzen, und für diesen "Hochmut" zahlten die Gläubigen den Preis "geistiger Inferiorität". Wörtlich: "Dieser dumme Hochmut ist das Laster, welches das ganze Sein des Muslim bestimmt. Die scheinbare Einfachheit seines Gottesdienstes flößt ihm eine wenig gerechtfertigte Verachtung vor den anderen Religionen ein. Überzeugt, dass Gott Glück und Macht nach seinen unergründlichen Ratschlägen austeilt, ohne auf Kenntnisse noch auf persönliches Verdienst einen Wert zu legen, hat der Muslim die tiefste Verachtung für die Bildung, die Wissenschaft, für alles, was wir das europäische Geistesleben nennen."

Wie aber hatte es langfristig zu dieser Entwicklung kommen können? Den Hauptgrund sah Renan im fatalen Schicksal der Philosophie unter der Herrschaft des Islam. Philosophie verstanden als die Disziplin autonomen Denkens schlechthin. In den ersten Jahrhunderten islamischer Geschichte nolens volens noch hingenommen, sei die Philosophie seit circa 1200 durch die islamische Orthodoxie bekämpft worden. Ja, der Islam habe "die exakte Wissenschaft" seither "stets verfolgt" und "schließlich erstickt". Zwar habe es inquisitorische Verfolgungen selbstständigen Denkens auch im Herrschaftsbereich der Kirche gegeben, aber im Gegensatz zu der vom Islam beherrschten Welt habe sich die Philosophie in Europa durchsetzen können. Renan wörtlich: "Der Islam war liberal, als er schwach war; er war gewaltsam, als er stark war. Das rechnen wir ihm also nicht zur Ehre an, was er nicht hat hindern können. Den Islam wegen der Philosophie und Wissenschaft ehren, die er nicht bei ihrem ersten Auftreten sofort vernichtete, das hieße, die Theologen wegen der Entdeckungen der modernen Wissenschaft ehren. Die abendländische Theologie hat nicht weniger Verfolgungen geübt als diejenige des Islam. Allein, sie hat ihr Ziel nicht erreicht, sie hat den modernen Geist nicht erwürgt, wie der Islam den Geist der Länder, die er eroberte. (...) Von den Leuten, die man ermordet, erbt man nicht; man soll die Verfolger nicht mit dem verherrlichen, was sie verfolgt haben. Und gerade das tut man, wenn man dem Einfluss des Islam eine Bewegung zuschreibt, die trotz des Islam, gegen den Islam entstanden ist, und die der Islam zum Glück nicht hat verhindern können. Dem Islam einen Avicenna, Avensoar, Averroes zur Ehre anrechnen, das hieße, den Katholizismus mit Galilei verherrlichen."

Und al-Afghani? Er ist intellektuell viel zu selbstkritisch, als dass nicht auch er die Missstände sähe, die es in der Welt des Islam gegeben hat und gibt. Doch für ihn ist das kein Grund, die Hoffnung auf Erneuerung auf ewig zu begraben. Ist es in der Welt des Christentums anders gewesen? Hat sich nicht auf Dauer auch hier der Fortschritt durchgesetzt - trotz allem? "Wenn ich nun aber bedenke", schreibt al-Afghani, "dass die christliche Religion um mehrere Jahrhunderte früher in der Welt aufgetreten ist als die muslimische, dann kann ich mich der Hoffnung nicht entschlagen, dass auch die muslimische Gesellschaft eines Tages dazu gelangen wird, ihre Fesseln zu brechen und entschlossen auf der Bahn der Zivilisation fortzuschreiten nach dem Beispiel der abendländischen Gesellschaft, für welche der christliche Glaube trotz seiner strengen Gesetze und seiner Intoleranz kein unüberwindliches Hindernis gewesen ist. Nein, ich kann nicht gestatten, dass diese Hoffnung dem Islam geraubt werde."

Al-Afghani also unterscheidet streng zwischen dem Islam als Religion und dem gelebten und praktizierten Islam, so, wie er in der Welt verbreitet ist und faktisch gelebt wird. Reformen sind möglich, wenn man zum ursprünglichen "Islam der Vorväter" zurückkehrt.

Al-Afghani wird so nicht nur zum Verkünder eines Panislamismus, der um eine Einheit der islamischen Völker bemüht ist, sondern auch zu einem der geistigen Begründer einer ganzen Reformströmung, der Salafiyya-Bewegung. Bei ihm hat dieser Begriff noch einen entschieden reformerischen Klang. Er steht auch bei ihm für Rückkehr des Islam zu den Ursprüngen, aber zugleich für eine Erneuerung des Islam der Zukunft aus den normativen Überlieferungen des Ursprungs, aus dem Lebensmodell des Propheten und der Urgemeinde. Das hat mit archaischer Rückkehr zu einer Wüstengesellschaft nichts zu tun. Einen solchen Primitivismus predigt al-Afghani nicht. Im Gegenteil: Wenn der Islam richtig verstanden und gelebt werde, könne er, so seine Überzeugung, die momentane zivilisatorische Schwäche überwinden und zu alter Stärke zurückfinden. Nicht zufällig hat man diesen Mann denn auch einen "islamischen Martin Luther" genannt. Denn gerade am Beispiel des christlichen Reformators hatte dieser Muslim die Einsicht gewonnen: Der wissenschaftliche und technologisch-industrielle "Fortschritt" Europas ist nur möglich gewesen, weil ihm die Reformation vorausgegangen ist: eine Erneuerung der herrschenden Religion aus dem innovativen Geist der normativen Ursprünge.Als islamischer Reformer ebenso wichtig war ein Schüler al-Afghanis: der Ägypter Muhammad Abduh (1849 - 1905). Von Hause aus Journalist und Rechtsgelehrter gelang es ihm 1899 zum Großmufti von Ägypten aufzusteigen. Wie sein Lehrer, dem er 1873 erstmals in Kairo begegnet war, sah auch Abduh im Islam - richtig verstanden - eine vernunftgemäße Religion, die mit modernen Entwicklungen wie Wissenschaft und Technik durchaus vereinbar sei. Sein im Beiruter Exil geschriebenes Hauptwerk trägt nicht zufällig einen philosophisch orientierten Titel: Abhandlung über die Einheit Gottes. Mehr noch: Wie sein Lehrer, mit dem zusammen er im Pariser Exil die führende Zeitschrift der Salafiyya-Bewegung herausgab, sah auch Abduh als Grund für die Schwäche des Islam die Uneinigkeit der Muslime, mangelnde Bildung der Massen, einen Despotismus muslimischer Herrscher und eine im Traditionalismus erstarrte Orthodoxie.

Und wie sein Lehrer forderte auch er die Erneuerung des Islam aus eigener Kraft durch Rückkehr zur wahren "Religion der Vorväter" mit entsprechenden Konsequenzen für eine erneuerte Rechtsprechung und eine den Erfordernissen der Moderne angepasste islamische Lebensweise (etwa: Verbot der Polygynie). Als Mufti von Ägypten verfügte er denn auch über die Macht, die Scharia autoritativ modern zu interpretieren und sie so auszulegen, dass eine Justizreform möglich wurde und auch europäische Kleidung und Zinsnehmen erlaubt wurden. Entsprechend umstritten sind Abduhs Veröffentlichungen in Kreisen islamischer Traditionalisten, zumal er Stück für Stück einen Kommentar zum Koran erarbeitete und in einer Zeitschrift veröffentlichen ließ.

Das historische Beispiel lehrt dieses: Muslimische Denker verfügen selber über genügend zeitkritisches Problembewusstsein, wie die unverbrauchte ethische, religiöse und spirituelle Substanz ihrer Religion in die Zeit des dritten Jahrtausends zu übersetzen ist. Viele Religionen haben sich durch Rückbesinnung auf das Ethos ihrer Ursprünge erneuern können. Das streben auch muslimische Reformer an. Für sie können nur so Kontinuität und Authentizität ihrer Religion gewahrt werden. Sie wollen nicht, dass die Rückbesinnung auf die Anfänge zu einem reaktionären Totalitarismus führt, "salafiyya" zu einem Schlagwort primitiver Rückwärtsgewandtheit verkommt. Entscheidend wird deshalb sein, ob es den Reformen gelingt, die "salafiyya", die Orientierung an den Vorvätern, vor weiterem Missbrauch durch heutige Salafisten zu bewahren und den Islam aus dem Geist der Ursprünge heraus so zu transformieren, dass er in der Weltgesellschaft des dritten Jahrtausends zu einer lebenswerten Option wird.

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Karl-Josef Kuschel

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