Handelsware

Frauen sind in Afghanistan nach wie vor rechtlos und werden verfolgt
Frauen in einem afghanischen Gefängnis. Foto: Ton Koene
Frauen in einem afghanischen Gefängnis. Foto: Ton Koene
Laut Schätzungen werden drei von vier Frauen in Afghanistan zwangsverheiratet, jedes zweite Mädchen unter sechzehn fällt dieser Praxis zum Opfer. Über die dramatische Situation von Frauen berichtet Thomas Krapf, der bis vor kurzem als Rechtsexperte bei der EU-Polizeimission in Afghanistan Staatsanwälte schulte.

Sie werden als Handelsware behandelt. Wer in Afghanistan als Mädchen zur Welt kommt, lebt zeit seines Lebens rechtlos. Für Frauen bleiben Grundrechte und fundamentale Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung garantiert sind, lebenslängliche Utopie. Ihnen werden sowohl das Recht auf persönliche Freiheit, auf Selbstbestimmung, auf Schutz des Kindeswohls, auf das der freien Partnerwahl und Familie sowie auf gesundheitliche Versorgung verwehrt. Und das, obwohl es ein in der Verfassung verbrieftes Verbot der Diskriminierung gibt. Der Alltag von Frauen in Afghanistan zeichnet sich durch Verfolgung aus. Kurz gesagt: Ihnen werden das Menschsein und die damit verbundenen Rechte abgesprochen; und das alles ist kulturell sanktioniert, gesellschaftlich institutionalisiert und - daher so unverwüstlich - religiösen oder pseudoreligiösen Denkmustern geschuldet.

Zwar ist der Zusammenhang von gesellschaftlicher und politischer Partizipation von Frauen und wirtschaftlicher Entwicklung, Gesundheit und Bildung eines Landes allseits längst bekannt. Doch in Afghanistan zeigt sich immer noch: Die Verfolgung von Frauen führt zur Verrohung des gesellschaftlichen Klimas und einer desolaten gesamtwirtschaftlichen Lage. Nicht umsonst zählt das Land zu den ärmsten der Welt.

24.000 tote Mütter

Das menschliche Elend und die sozio-ökonomische Benachteiligung afghanischer Frauen eröffnet Einblicke in gesamtgesellschaftliche Verhältnisse. Selbst das relativ spärliche statistische Zahlenmaterial ist aussagekräftig: Die Mutterschaftssterblichkeit wird auf jährlich 24.000 beziffert - global der höchste Wert. Zugleich ist diese Zahl zehnmal so hoch wie die der im andauernden Konflikt getöteten afghanischen Zivilisten, nämlich 2400 pro Jahr. Weitere 2400 verzweifelte Frauen verbrennen sich selbst - oft von ihren Männern und Schwiegerfamilien zum Suizid gezwungen. Vor der Brutalität dieser Bilder auf der Webseite der Afghanistan Independent Human Rights Commission sei gewarnt. Angesichts des bevorstehenden Rückzugs der internationalen Gemeinschaft nehmen gespenstische Szenarien und bürgerkriegsähnliche Zustände Gestalt an.

Die Not der Frauen dürfte sich dramatisch verschlimmern. Immer eindringlicher warnen afghanische Menschenrechtlerinnen vor dem Tag nach dem Rückzug der internationalen Gemeinschaft. Indessen verweisen deren Verfechter selbstzufrieden auf gestiegene Schülerinnenzahlen. Dazu werden lückenhafte Statistiken bemüht, die zum Beispiel über die geringe Dauer des Schulbesuchs nichts aussagen. So werden ungefähr 2,5 Millionen Mädchen gezählt, die seit Vertreibung der Taliban 2001 eine Schule betreten hätten. Freilich bedeuten Selbstgratulationen mit solchen Erfolgsparametern nur eine politische Vogelstraußpolitik - von der Verhöhnung der betroffenen Menschen ganz zu schweigen. Denn selbst jene Minderheit von Frauen, die im vergangenen Jahrzehnt tatsächlich in den Genuss von Schul- und Hochschulbildung gekommen ist, hat nach wie vor unter Verfolgung zu leiden.

Unwürdige Haftbedingung

Von den menschenunwürdigen Verhältnissen afghanischer Haftanstalten sind alle Insassen betroffen. Doch auch im Gefängnis trifft es Frauen besonders hart: 50 Prozent der erwachsenen und 100 Prozent der minderjährigen weiblichen Häftlinge sitzen ein, weil sie eines "Sittenverbrechens" verdächtigt, oder - zu einem geringeren Anteil - "überführt" und "rechtskräftig verurteilt" worden sind.

Als so genannte Sittenverbrechen wer- den außereheliche Beziehungen bezeichnet. Unter diesen bemerkenswerten Straftatbestand werden auch die meisten Vergewaltigungen gefasst. Nach jenen in Afghanistan anwendbaren Regeln der Scharia kann der Tatbestand der Vergewaltigung nur dann vor Gericht anerkannt werden, wenn die Penetration von vier glaubwürdigen Zeugen beobachtet wurde. Frauen scheiden als Zeuginnen aus. Nur vermeintlich unbescholtene, ehrbare, fromme muslimische Männer kommen in Frage. Wie nur wird ein Mann, der an der Last solcher Tugenden zu tragen hat, in einer Vergewaltigungssituation Zeuge von Penetration? Und das gleichzeitig mit drei weiteren von Seinesgleichen?

Im Klartext heißt das, die zumindest theoretisch zulässige Entlastung von Frauen als Vergewaltigungsopfer findet also in der Realität nicht statt. Vielmehr verfangen sich die Opfer im Alltag in einem Teufelskreis mit oft tödlichem Ausgang: Weint sich eine vergewaltigte Frau bei einem Mitmenschen aus, so bringt sie unweigerlich Schande über sich. Zeigt sie das Verbrechen gar an, aktiviert sie den Selbstautomatismus, der sie geknebelt auf die Anklagebank fesselt. Mitunter endet das mit Steinigung oder öffentlicher Auspeitschung, ansonsten sind drakonische Freiheitsstrafen an der Tagesordnung.

Freiwild für Männer

In diesem gesellschaftlichen und kulturellen Klima sind Frauen, die auf Straßen und Plätzen allein unterwegs sind, Freiwild für Männer. Solche auffälligen Einzelgängerinnen werden von der Polizei aufgegriffen. Nur wenigen von ihnen bleibt die Vergewaltigung im Polizeigewahrsam erspart. In jedem Fall ist ihre Entrechtung schon lange davor besiegelt: Weil eine Frau allein unterwegs ist, wird sie verhaftet. Sie steht unter Verdacht, "zina", nämlich jenes "Sittenverbrechen" des außerehelichen Geschlechtsverkehrs, begehen zu wollen. Allein der Verdacht des Vorsatzes rechtfertigt Untersuchungshaft und eine Freiheitsstrafe.

Folgt der Festnahme keine "rechtskräftige" Verurteilung durch ein Gericht, dauert der Freiheitsentzug dennoch lange Jahre. So sitzen Frauen, die lediglich vor ihren brutalen, wenn nicht gar mörderischen Männern und Schwiegerfamilien geflohen sind, hinter Schloss und Riegel: auch in Hafteinrichtungen, die aus ausländischen Steuermitteln zur Verbesserung der Infrastruktur beigesteuert werden. Zwar gilt im afghanischen Strafrecht "Davonlaufen" nicht als Tatbestand. Ebenso ist unter islamischen Rechtsexperten umstritten, inwieweit er in der Scharia gilt. Jedoch hält ein Erlass des Obersten Gerichts von 2010 unter Berufung auf die Scharia fest: Eine Davongelaufene sei zu bestrafen, wenn sie, und sei es, um Misshandlungen zu entkommen, zu einem Fremden (Nichtverwandten) geflohen ist. Dadurch setze sie sich Verbrechen wie "Ehebruch und anderen artverwandten Vergehen" aus.

Jedes zweite Mädchen wird eine Kinderbraut

Ganz in diesem Geist gab das Oberste Gericht 2011 bekannt, dass "Gleichheit und Nichtdiskriminierung der Geschlechter nicht absolut" seien. Zugleich verweist es auf die Verfassung mit ihrer Festlegung auf die Scharia als Grundlage afghanischer Gesetzgebung. Oft ergreifen Minderjährige die Flucht, bevor ihre vorbereitete Zwangsehe vollzogen werden kann. Jedes zweite Mädchen wird eine Kinderbraut, bevor sie das nach afghanischem Recht gesetzlich erforderliche Alter von sechzehn erreicht. Viele fallen der Praxis noch vor der Pubertät zum Opfer. Die Ehemänner können bis zu fünfzig Jahre älter sein, oft stammen sie aus der Verwandtschaft. Die zahlreichen massiven Grund- und Menschenrechtsverletzungen durch diese Kinderehen können hier nicht angesprochen werden.

Gleichwohl sind Zusammenhänge der Missachtung des Rechts auf Gesundheit und des Rechts auf Bildung von Kinderbräuten mit vielfältigen sozio-ökonomischen Faktoren deutlich: Die Analphabetenquote von Kinderbräuten und ihren Eltern liegt bei 70 Prozent. In erheblichem Ausmaß trägt das Unwissen dieser Menschen zur hohen Sterblichkeit von unausgewachsenen Müttern sowie ihrer Neugeborenen und Kleinkinder bei. Indessen werden Mädchen mit zunehmender Schulbildung seltener Opfer verfrühter Schwängerungen. Ebenso trägt - nicht nur in Afghanistan - die Bildung von Müttern entscheidend zur Hebung des gesundheitlichen Niveaus von Familien und Gesellschaften bei.

Im Jahr 2009 wurde das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen per Präsidentenerlass in Kraft gesetzt. Trotz erheblicher Mängel begrüßten es Menschenrechtler und Menschrechtlerinnen als relativen Fortschritt mit Potenzial. Im ersten Jahr nach Inkrafttreten wurde es in lediglich vier Prozent der angezeigten Verstöße angewendet (2299, Dunkelziffer unbekannt). Ein afghanischer Staatsanwalt versteht die hohe Anzahl von Mediationen und Klagerücknahmen als der afghanischen Kultur und Tradition geschuldet.

Bericht Human Rights Watch, 3/2012

Thomas Krapf

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