Säkularisierung auf dem Vormarsch

Das Schrumpfen der Kirchen geht mit dem Rückgang persönlicher Religiosität einher
Massenveranstaltungen, wie der Dresdner Kirchentag 2011, können über die Lage der Kirche hinwegtäuschen. Foto: epd/Rüdiger Niemz
Massenveranstaltungen, wie der Dresdner Kirchentag 2011, können über die Lage der Kirche hinwegtäuschen. Foto: epd/Rüdiger Niemz
Wie entwickeln sich Kirchenbindung und außerkirchliche Religiosität in West- und Ostdeutschland? Lässt sich das Schrumpfen der Kirchen auf Institutionenkritik und die Konkurrenz durch andere Formen von Religion zurückführen? Diesen Fragen geht, entsprechende Untersuchungen auswertend, der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack nach.

Um einen Überblick über die religiöse Situation in Deutschland zu geben, will ich mich auf drei Themenfelder konzentrieren: auf die kirchliche Mitgliedschaft, den Zusammenhang zwischen kirchlichem Handeln und Kirchenbindung, sowie auf das Verhältnis von institutionalisierter und individualisierter Religiosität. Dabei ist in allen drei Themenfeldern strikt zwischen Ost- und Westdeutschland zu unterscheiden. Bekennen sich in den alten Bundesländern zwei Drittel der Bevölkerung zum Glauben an Gott, so ist es in den neuen nur ein Viertel. In Westdeutschland sind Christentum und Kirche mehrheitlich akzeptiert, im Osten Deutschlands herrscht dagegen eine Kultur religiöser Indifferenz und Konfessionslosigkeit vor.

Im Jahr der Gründung von Bundesrepublik und DDR, 1949, gehörten nicht nur im Westen, sondern auch im Osten weit über 90 Prozent der Bevölkerung einer Kirche an. Während in Westdeutschland heute noch immer über 80 Prozent Kirchenmitglieder sind, sind es in Ostdeutschland nur etwa 25 Prozent. Der Rückgang der Kirchenmitglieder in Ostdeutschland ist also vor allem auf die spezifischen politischen Bedingungen der DDR zurückzuführen. Das wird auch daran deutlich, dass die höchsten Kirchenaustrittsraten in jene Zeiten fielen, in denen die politische Repression der Kirchen in der DDR am härtesten war, zwischen 1952 und 1961 sowie 1966 und 1969.

Abnehmende Bindung

Viele erwarteten daher nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in der DDR völlig zu Recht eine Wiederannäherung der Bevöl- kerung an die Kirche. Auch wenn es einige leichte Anzeichen für eine Rückkehr der Religion in Ostdeutschland nach 1989 gab, mehr Taufen, Kircheneintritte und ein vorübergehendes hohes Vertrauen in die Kirche, dominant war doch der weitergehende Prozess der Entkirchlichung. Der Anteil der Konfessionslosen nahm im Osten nach 1989 noch einmal zu, und zwar mehr als im Westen. Und dieser Prozess wird so bald nicht zur Ruhe kommen, da der kirchliche Mitgliederbestand überaltert ist und daher stets mehr Kirchenmitglieder aus der Kirche wegsterben als durch Taufe in sie aufgenommen werden.

Doch nicht nur in der DDR ging die Kirchenbindung zurück. Auch die Entwicklung im Westen Deutschlands war durch Prozesse der Distanzierung von der Kirche gekennzeichnet, wenn auch in weitaus geringerem Ausmaß. Und auch hier ist aufgrund des hohen Anteils Älterer in der Kirche kein Ende des Entkirchlichungsprozesses absehbar. Dabei sind es pro Jahr nur sehr wenige, die aus der Kirche austreten. Bei den Evangelischen sind es seit der Jahrtausendwende in der Regel etwas mehr als 0,5 Prozent, bei den Katholiken etwas weniger.

Was an der Entwicklung der Kirchenaustritte auffällt, ist nicht die konstant höhere Rate der Protestanten im Vergleich zu den Katholiken, sondern der völlig parallele Verlauf der katholischen und evangelischen Kirchenaustrittsraten. Wenn die Kirchenaustritte nach der Wende in der evangelischen Kirche nach oben gingen, so taten sie das auch in der katholischen. Und so verhält es sich seit Jahrzehnten. Die Parallelität der Verläufe weist darauf hin, dass für die Entwicklung der Kirchenaustritte in erster Linie nicht kirchenspezifische Ursachen verantwortlich zu machen sind, also Unterschiede im kirchlichen Selbstverständnis, der rituellen Praxis, der Seelsorge und der Theologie, sondern mehr kontextuelle Faktoren, wirtschaftliche Konjunkturen und Krisen, finanzielle Belastungen und politische Veränderungen.

Ausnahmejahr 2010

Eine Ausnahme stellt nur das Jahr 2010 dar, als die bekannt gewordenen und öffentlich breit diskutierten Missbrauchsfälle zu einer Erhöhung der katholischen Kirchenaustrittsrate um fast 50 Prozent, von 0,5 auf 0,73 Prozent führten. Bedenkt man, wie gering der Anstieg ausgefallen ist, muss man jedoch konstatieren, dass selbst ein eklatantes kirchliches Fehlverhalten auf den kirchlichen Mitgliederbestand einen erstaunlich geringen Einfluss ausübt.

Kirchenmitgliedschaft ist eben vor allem ein zugeschriebenes Merkmal, das nur in eingeschränktem Maße auf bewusster persönlicher Entscheidung beruht und in erster Linie auf der Entscheidung der Eltern, ihre Kinder taufen zu lassen. Die Bindung an die Kirche wird vorrangig durch Einflüsse im Elternhaus hergestellt. Nicht zufällig empfinden daher viele den Kirchenaustritt als Entscheidung, aus dem tradierten Familienzusammenhang auszusteigen und die familiäre Kirchenbindung abzubrechen.

Dabei möchte eine Mehrheit durchaus, dass es Kirche gibt. Man schätzt ihr diakonisches und karitatives Engagement, ihre erzieherische Funktion für Kinder und Jugendliche, will sich aber am kirchlichen Leben nicht beteiligen (Kirchenamt der EKD 2003). Allenfalls in Krisensituationen und an den Lebenswenden wie Beerdigung und Geburt sucht man die Begleitung durch die Kirche. Sie bildet also etwas wie einen Lebenshintergrund, auf den man bei Bedarf zurückgreifen kann. 75 Prozent der Westdeutschen sagen, dass das Christentum das Fundament unserer Kultur darstellt. Aber für die eigene Lebensführung - wie man die Kinder erzieht, sich politisch orientiert und welchen sexuellen Neigungen man folgt - schreibt man Christentum und Kirche keine große Bedeutung zu.

Steuern sparen

Die Struktur der Kirchenbindung wird - auch in ihren Ost-West-Differenzen - noch einmal deutlich, wenn wir uns die Gründe für den Kirchenaustritt ansehen: Kirchliche Stellungnahmen spielen nicht die entscheidende Rolle. Schon gar nicht gibt der Pfarrer oder die Pfarrerin Anlass zum Kirchenaustritt. Bedeutsamer ist, dass einem die Kirche fremd geworden ist.

Wichtig ist aber vor allem das extrinsische Motiv der Kirchensteuerersparnis. Wenn einem die Kirche nicht mehr viel bedeutet, dann wird die Kirchensteuer zur Belastung, die man meint, durch einen Kirchenaustritt loswerden zu können. Das Motiv, die Kirchensteuer einzusparen, darf also nicht isoliert gesehen werden. Vielmehr muss der eingetretene, oft jahrelange und mit Phasen der Annäherung und Entfremdung einhergehende Prozess der Kirchendistanzierung beachtet werden.

Die meisten Menschen machen sich den Kirchenaustritt nicht leicht und vollziehen ihn oft nicht unbekümmerten Herzens. Das wird auch daran deutlich, dass der wichtigste Grund für den Kirchenaustritt in Westdeutschland darin besteht, dass man meint, man könne ohne Kirche Christ sein. Fast gewinnt man den Eindruck, als würde man schlechten Gewissens austreten. Auf jeden Fall ist diese Aussage ein deutlicher Hinweis auf den kulturellen Einfluss, den die Kirchen in der westdeutschen Bevölkerung nach wie vor besitzen, und zwar sogar dann, wenn sich die Menschen von der Kirche verabschieden.

Das ist im mehrheitlich konfessionslosen Osten natürlich ganz anders. Das Motiv des Christseins ohne Kirche besitzt dort nicht eine so große Bedeutung. In der ehemaligen DDR wird der Kirchenaustritt dagegen vor allem vollzogen, weil man den Bezug zu Religion insgesamt verloren hat und meint, Religion nicht zu benötigen.

Schlechtes religiöses Angebot?

Lässt sich der Rückgang des kirchlichen Mitgliederbestandes auf eine Verschlechterung des religiösen Angebots zurückführen? Um dieser Frage nachzugehen, seien die finanziellen Aufwendungen der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten sowie die Entwicklung ihrer personellen Ausstattung untersucht.

So ist das Kirchensteueraufkommen der evangelischen und der katholischen Kirche in der Zeit des Mitgliederrückgangs seit den Sechzigerjahren kontinuierlich gestiegen. Erst nach der Wiedervereinigung stagnierte der Anstieg. Das Wachstum der Einnahmen hat es den Kirchen erlaubt, ihre personelle Ausstattung seit den Sechzigerjahren kontinuierlich aufzustocken. Insbesondere die Zahl der Angestellten wuchs, bis ab 1990 die Einnahmen ein weiteres Wachstum nicht mehr zuließen.

Man muss bedenken, dass von 1960 bis 1990 die organisatorischen Anstrengungen der Kirchen zur institutionellen Stärkung nicht nur quantitativ in beachtlichem Ausmaße zugenommen haben, sondern sich das kirchliche Handeln auch qualitativ stark gewandelt hat. Es ist gesellschaftsoffener geworden, die Wortverkündigung ist von monologische auf dialogische Formen umgestellt worden, die Seelsorge hat an Bedeutung gewonnen, und statt autoritativ verkündeter Lehren ist die Berücksichtigung der Wünsche und Bedürfnisse der Kirchenmitglieder in den Vordergrund getreten. Daher muss der Annahme, der Rückgang des kirchlichen Mitgliederbestandes sei vor allem auf die Kirchen selbst zurückzuführen, scharf widersprochen werden. Die Rückgänge haben ihre Ursache vorrangig nicht in einem Mangel kirchlichen Engagements, sondern in erster Linie in kirchenexternen Veränderungen.

Geht mit dem Schrumpfen der Kirchengemeinden auch ein Rückgang privater und persönlicher Glaubensformen einher? Diese Frage ist eindeutig mit Ja zu beantworten. Der Anteil derjenigen, die angeben, jetzt an Gott zu glauben, früher aber nicht an ihn geglaubt zu haben, liegt deutlich unter dem Anteil derer, die berichten, früher an ihn geglaubt zu haben, aber jetzt nicht an ihn zu glauben. Das heißt, es sind weniger Menschen im Laufe ihres Lebens zum Glauben an Gott gekommen als Menschen ihren Glauben an Gott verloren haben. Zwischen 1990 und 2008 ist der Glaube an Gott in Westdeutschland nach den Daten des European Value Survey zwar nicht gesunken, sondern sogar leicht angestiegen. Bezieht man in die Betrachtung aber auch die Jahre vor 1990 ein, dann ist ein deutlicher Rückgang um mehr als zehn Prozentpunkte zu verzeichnen.

Die alternativen Religionen

Zur Bestreitung eines umfassenden Säkularisierungstrends werden immer wieder Formen außerchristlicher Religiosität ins Feld geführt. Dabei sind es nur Minderheiten, die persönlich mit solchen Formen - New Age, Theosophie, Zen-Meditation, Edelsteinmedizin oder Spiritismus - Erfahrungen gemacht haben. Und dort, wo der Anteil derer, die solche Erfahrungen gemacht haben, höher ist, hält man in der Regel nicht viel von diesen alternativen Religiositätsformen. Zwar hat sich das Interesse an außerkirchlichen Formen der Religion in den vergangenen Jahren erhöht. Aber die verfügbaren Zahlen erwecken nicht den Eindruck, dass die dramatischen Verluste institutionalisierter Religiosität durch Formen außerkirchlicher Religiosität kompensiert werden können.

Hinzu kommt, dass institutionalisierte und individuelle Religiosität nicht in einem Alternativverhältnis zueinander stehen. Das müssten sie aber, wenn die Individualisierungsthese darin Recht hätte, dass sich zwar die Kirchenbindung abschwächt, die Menschen aber gleichwohl - in einem allgemeinen oder einem christlich-alternativen Sinne - religiös blieben. Vielmehr schätzen sich regelmäßige Kirchgänger in einem höheren Maße als religiös als andere Menschen. Allerdings handelt es sich bei diesem Zusammenhang nicht um eine deterministische Korrelation.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass Menschen ohne Kirchgang oder mit geringen Kirchgangsfrequenzen sich dennoch als religiös einschätzen. Die Wahrscheinlichkeit weist allerdings in die umgekehrte Richtung. Dieser Wahrscheinlichkeitszusammenhang wird auch noch einmal bestätigt, wenn unterschiedliche Formen institutionalisierter Religiosität (Konfessionszugehörigkeit, Kirchgang) mit Indikatoren individueller Religiosität (Glaube an Gott, subjektive Religiositätseinschätzung, außerkirchliche Religiosität) korreliert werden. Nirgends ist der Zusammenhang negativ, wohl aber immer wieder positiv.

Fazit: In den vergangenen Jahren hat das Interesse an außerchristlichen Religionsformen zwar zugenommen, der Säkularisierungstrend kann jedoch durch diese Zunahme außerkirchlicher Religiosität nicht aufgehalten werden. Es tritt keine unsichtbare Religion an die Stelle der sichtbaren. Vielmehr sind die Kirchen nach wie vor die wichtigsten Repräsentanten auf religiösem Feld.

Detlef Pollack

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Foto: epd-bild / Brigitte Heeke

Detlef Pollack

Dr. Detlef Pollack ist Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster und Sprecher des dortigen Exzellenzclsuters "Religion und Politik".


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