Als Getrennte eins

Die Spaltung ist Quelle des Reichtums: Zum ökumenischen Vermächtnis des emeritierten Papstes
Benedikt XVI. und Nikolaus Schneider in Erfurt. Foto: epd/Norbert Neetz
Benedikt XVI. und Nikolaus Schneider in Erfurt. Foto: epd/Norbert Neetz
Die ökumenische Bewegung ist eine rein geistliche Sache und als solche zu betreiben: durch gemeinsames sich "Hineinleben und Hineindenken in den Glauben", durch konzentrierte Besinnung auf die Einheit dessen, was Grund und Gegenstand des Glaubens ist. Eilert Herms, Professor em. für Systematische Theologie an der Universität Tübingen, erklärt, weshalb er sich in diesem Punkt mit dem Altpapst einig ist.

Der Schluss einer Rede offenbart ihre Pointe. Musterbeispiel: der Schluss der Ansprache Benedikts XVI. in der Erfurter Augustinerkirche am 23. September 2011. Der Papst nutzte ihn zu der Feststellung, die Erwartung eines "ökumenischen Gastgeschenks" sei "ein politisches Missverständnis des Glaubens und der Ökumene". Was die Christen verbinde und die Einheit der Kirche trage, sei nicht eine Übereinkunft, die sich als "Kompromiss" aus Verhandlungen und aus dem "Abwägen von Vor- und Nachteilen" ergebe, sondern allein der nicht von Menschen gemachte, sondern ihnen geschenkte Glaube. So dass auch die Gemeinschaft der Christen und die Einheit der Kirche durch nichts anderes wachse als allein "durch tieferes Hineindenken und Hineinleben in den Glauben". Als konkretes Beispiel nannte der Papst die nach dem Deutschlandbesuch seines Vorgängers 1980 arbeitende "Gemeinsame ökumenische Kommission". "Ich denke gern an die Begegnung mit der von Bischof Lohse geführten Kommission zurück, in der solches gemeinsames Hineindenken und Hineinleben in den Glauben geübt wurde."

Haften blieb von dieser Passage das "Nein zum Gastgeschenk", ausgesprochen im Kontext eines Besuches. Die Ambivalenz der Reaktionen reichte von aggressiver Empörung ("Ökumenisches Desaster": Der Umgang des Papstes mit den Protestanten sei "sensationell gleichgültig, herablassend, ja kaltschnäuzig" gewesen (Frankfurter Rundschau, 24.9.2011)), über unverhohlene Enttäuschung, nicht nur über das Ausbleiben von Hinweisen zur Lösung der praktischen Ökumeneprobleme, sondern auch über ein empfundenes Zurückbleiben des Papstes hinter seinen eigenen "theologischen Möglichkeiten" in Inhalt und Stil seiner Äußerungen (Welt am Sonntag, 25.9.2011), ja über die Ausstrahlung von "Verlustängstlichkeit" und "Kleingläubigkeit" in seinem Auftritt (Süddeutsche Zeitung, 26.9.2011), über Sorge - wird nicht auf Geschlossenheit der römisch-katholischen Weltkirche gedrungen ohne Rücksicht auf die Belange der Regionen und die regionalen Kosten? - und trockene Ernüchterung: "Weniger als Wenig" (FAZ, 24.9.2011), "Wer in Erfurt Ermutigendes entdecken will, muss genau hinschauen" (Rheinische Post, 24.9.2011) bis hin zum tapferen Optimismus in den offiziellen Resumées der Kirchen, nicht zuletzt des Vorsitzenden des Rates der EKD, Nikolaus Schneider.

Verheißungsvoller Weg

Und die Enttäuschung äußerte sich auch in den Kommentaren zum Rücktritt des Papstes. Aber man wollte sie mildern durch eine Sicht des Erfurter Treffens, die dessen eigentlichen Wert in der internen, dem Gottesdienst vorangegangenen päpstlichen Würdigung von Luthers Ringen um das heilsame Gottesverhältnis sieht. Statt dieser wertschätzenden Rede das Nein zur Verhandlungsökumene der breiten Öffentlichkeit vorzutragen, sei einfach ein "Regiefehler" gewesen. Wirklich?

Richtig ist, dass der Besuch von 2011 insgesamt mehr die gegenwärtigen Probleme der Ökumene und des kirchlichen Lebens offenbar gemacht, als Lösungen gebracht hat. Aber gerade die öffentliche Ansprache Benedikts in Erfurt hat ihre Pointe nicht im Nein zu unsachgemäßen Bemühungen um Gemeinschaft, sondern im positiven Hinweis auf den verheißungsvollen Weg: Gemeinsame Vertiefung in den Glauben, gemeinsamen Besinnung auf dessen Grund und Gegenstand, der zugleich Grund und Gegenstand der Glaubensgemeinschaft ist, den die Kirche durch ihre Lehre und ihr Leben bezeugt, ohne selbst an seine Stelle zu treten.

Tatsächlich wiederholt dieser Schlusshinweis der Erfurter Gottesdienstansprache nur frühere Einlassungen Ratzingers zu Ziel, Ansatz und Weg der Ökumene. Insbesondere in seinen Überlegungen "Zum Fortgang der Ökumene", die schon 1986 in einem offenen Brief an den Tübinger Fundamentaltheologen Max Seckler (Tübinger Quartalschrift 166, 1986) vorgetragen wurden. Hier skizziert Ratzinger seine "Idee von Ökumene" wie folgt:

Nachdem die Ernte aus den jahrzehntelangen ökumenischen Erfahrungen und ihrer theologischen Verarbeitung, die zum Zweiten Vatikanum und zu seiner epochemachenden Grundentscheidung für die ökumenische Arbeit der römisch-katholischen Kirche geführt hatten, eingefahren war, seien zwei Bewegungen entstanden, die nun über das Gewachsene hinaus auf eine rasche Vollendung der ökumenischen Bewegung drängten: eine "Basisökumene" und eine "Obrigkeits-Ökumene". Die erstere sei von einem Christsein getragen, "das sich im wesentlichen in Kriterien des ´Engagements` definiert", ohne in seiner Verschwommenheit "auf lange Sicht Einheit schaffen" und beständiges kirchliches Lebens hervorbringen zu können. Und das sei nicht verheißungsvoll. Denn "Menschen bleiben in der Kirche auf Dauer nicht, weil sie dort Gemeindefeste oder Aktionsgruppen finden, sondern weil sie Antworten auf das Unverfügbare in ihrem Leben erhoffen, die nicht von Pfarrern oder anderen Obrigkeiten erfunden worden sind, sondern aus größerer Autorität kommen". Die "Stabilität" des Glaubens und der Glaubensgemeinschaft stamme aus dem Bereich der unverfügbaren Wahrheit, die von den skizzierten Bewegungen "nicht erfasst" werde, die aber zugleich auch "die Grenze alles 'obrigkeitlichen' Handelns in der Kirche markiert".

Keine Obrigkeits-Ökumene

Abzulehnen sei also auch eine ökumenische Strategie, die von der Annahme ausgeht: "Die Katholiken würden ohnedies der Obrigkeit folgen; da sei dies ja von der Tradition und Struktur her vorgegeben. Faktisch sei es aber auch bei den Protestanten nicht wesentlich anders; wenn die Obrigkeit die Einheit verfüge und sich genügend für sie einsetze, werde es auch hier an der Gefolgschaft der Gemeinden nicht fehlen." Ratzingers Urteil über diese Sicht: "Das ist für mich eine Form von Obrigkeits-Ökumene, wie sie weder dem katholischen noch dem evangelischen Kirchenverständnis entspricht."

Welcher Weg zur Einheit bleibt dann? Ratzingers Antwort: Die in der Kirche aufgetretene Spaltung muss fruchtbar gemacht werden. Zwar sei Spaltung zu allererst "menschliche Schuld" und vom Übel, "vor allem dann, wenn sie zu Feindschaft und zur Verarmung des christlichen Zeugnisses führt". Dennoch habe schon Paulus gesehen, dass in der Kirche Spaltung unvermeidbar sei. Es gebe somit auch in Spaltungen "eine Dimension, die einem göttlichen Verfügen entspricht". Insoweit werde sie zu einer Quelle des Reichtums und des Wachstums in der Christenheit. Konkret: "War es für die katholische Kirche in Deutschland und darüber hinaus nicht in vieler Hinsicht gut, dass es neben ihr den Protestantismus mit seiner Liberalität und seiner Frömmigkeit, mit seinen Zerrissenheiten und mit seinem hohen geistigen Anspruch gegeben hat?" Und umgekehrt: "Könnte man sich eigentlich eine nur protestantische Welt denken? Oder ist der Protestantismus in all seinen Aussagen, gerade als Protest, nicht so vollständig auf den Katholizismus bezogen, dass er ohne ihn kaum noch vorstellbar bliebe?"

Ratzingers Programm ist somit: "Einheit durch Verschiedenheit". Diese Wendung durchzieht als Leitformel den gesamten Text von 1986. Voranzutreiben sei sie auf zwei Ebenen: einerseits auf einer Aktivitätsebene, auf der wir versuchen "die Gegensätze auf die Einheit hin zu durchleuchten" und "vom anderen als anderem und unter Respektierung seiner Andersheit immer neu zu empfangen". Andererseits auf einer Geduldsebene, auf der wir auf die Stunde warten, die von niemandem vorhergesagt oder festgelegt werden kann, "wann und wie die Einheit zustande kommt." Dafür gelte wirklich "in aller Strenge" das "ubi et quando visum est Deo" des Augsburger Bekenntnisses.

Gemeinsame Taufe

Man sieht: Die zweite Ebene (Geduld) ist die Voraussetzung für die erste (Aktivität): Nur wenn jeder Versuch unterbleibt, der anderen Seite etwas aufzudrängen, was ihr widersteht, kann es zum wechselseitigen "Empfangen" und Reicherwerden kommen. Diese Erfahrung wiederum ist die notwendige Bedingung dafür, dass das geduldige Warten durchgehalten werden kann.

Entscheidende Voraussetzung für dies alles aber ist: Schon als Getrennte sind beide Seiten dennoch eins. "Wir können auch als Getrennte eins sein." Für Ratzinger sind Evangelische und Katholische tatsächlich schon als Getrennte eins. Kraft der gemeinsamen Taufe sind auch die Evangelischen schon Glieder des einen Leibes Christi. Die Spaltung besteht in der Kirche. Deshalb ist sie schmerzhaft.

Nichts anderes als dieses Programm ökumenischen Fortschritts durch ein wechselseitiges Empfangen, das die Verschiedenheit fruchtbar macht, wurde mit der Ablehnung von Verhandlungsökumene und der Empfehlung eines gemeinsamen "Hineinlebens und Hineindenkens in den Glauben" auf dem Boden der noch und schon bestehenden Einheit in Erinnerung gebracht. Der Schluss der Erfurter Ansprache ist also alles andere als gleichgültig und herablassend. In der gebotenen Kürze enthält er eine präzise Vorgabe für den weiteren Weg zur Gemeinschaft.

Entscheidend: der Ausgangspunkt des Wegs. Für beide Seiten ist die reale Einheit der Kirche nicht verloren. Aus katholischer Sicht leben die Evangelischen in der Einheit des "Christus totus", weil sie getauft sind. Aus evangelischer Sicht leben die Katholiken in der Einheit des Leibes Christi, weil und sofern bei ihnen das Evangelium recht gelehrt und die Sakramente recht verwaltet werden.

Eine rein geistliche Sache

Damit ist Ernst zu machen. Figuren der Konkurrenz oder auch der Ergänzung, die das Getrenntsein in den Vordergrund rücken, sind zu verabschieden. Ebenso alle Vorstellungen von Ökumene als einer Sache der Kirchen- und Theologiepolitik. Die ökumenische Bewegung ist eine rein geistliche Sache und als solche zu betreiben: durch gemeinsames sich "Hineinleben und Hineindenken in den Glauben"; also durch konzentrierte Besinnung auf die Einheit dessen, was Grund und Gegenstand des Glaubens ist.

Das ist für den Glauben möglich und von ihm verlangt, weil der Glaube von der Präsenz seines Grundes und Gegenstands und dessen eigener Einheit lebt. Nichts anderes ist Grund und Gegenstand des Glaubens als das unverfügbare Wirken Christi und seines Geistes an den von ihm ergriffenen Menschen - nichts anderes als das unverfügbare Geschehen, dass sich im Zentrum unseres Personseins, unserem "Herzen", durch Miterleben von Verkündigung und Feier des Christusgeschehens die darin bezeugte Wahrheit über das Ganze unserer Welt und unseres Lebens selbst herzbezwingend und verhaltensbestimmend vergegenwärtigt.

Wo immer sich das Wirken Christi und seines Geistes so im Innersten von Menschen vergegenwärtigt, vergegenwärtigt es sich auch in seiner eigenen Einheit. Kraft seiner Einheit versetzt es auch alle, die von ihm ergriffen sind, zugleich in Gemeinschaft: mit Christus und zugleich mit allen vom selben Wirken des Geistes Christi Ergriffenen. Konsequenz: Alle Glaubenden erfassen den Grund und Gegenstand ihres Glaubens zugleich als den Grund und Gegenstand auch des Glaubens aller anderen Christen. Folglich fragt das sich "Hineinleben und Hineindenken in den Glauben" immer auch danach, wie denn die anderen sich in diesen Grund und Gegenstand ihres Glaubens hineinleben und hineindenken. Kurz: Die Besinnung des Glaubens auf die Einheit seines Grundes und Gegenstands befähigt und verpflichtet ihn, denselben Grund und den Gegenstand auch im Glaubenszeugnis des anderen zu hören. Die Einheit dieses Grundes ist die Einheit des Wirkens Gottes in Christus durch den Geist.

Festhalten durch Umgreifen

Dies schließt Verschiedenheiten im menschlichen Glaubenszeugnis nicht aus. Die Einheit des Gotteshandelns vergleichgültigt nicht die Unterschiede des menschlichen Existierens, sondern trifft jeden Menschen gerade in ihnen. Es hält sie fest, indem es sie umgreift. Das drückt sich in der nach Anlass und Umständen verschiedenen Bezeugung des einen Gotteshandelns aus. Erst im Gang durch diese Verschiedenheit und ihrem Festhalten gewinnt die Bezeugung des einen Gotteshandelns die Konkretheit und Fülle, die durch es selbst ermöglicht und verlangt ist. Durch gemeinsames sich Hineinleben und Hineindenken in den Glauben wird auch gemeinsam die Einheit seines Grundes und Gegenstandes gesichtet. Es wird gemeinsam gesichtet, dass diese Einheit des Glaubensgrundes eine heilsgeschichtliche Dynamik besitzt, die auf die konkrete Fülle seines Bezeugtwerdens hindrängt. Und je deutlicher die Dynamik des einen Grundgeschehens gemeinsam gesehen wird, desto deutlicher wird auch gemeinsam gesehen werden, was zur Einheit des leibhaft-sichtbaren Zusammenlebens in der Zeugnisgemeinschaft des Glaubens unabdingbar hinzugehört - und was gerade nicht.

Im gemeinsamen sich Hineinleben und Hineindenken in den gemeinsamen Glauben, seinen Grund und dessen heilsgeschichtliche Dynamik, kann dann für beide Seiten gemeinsam sichtbar werden, ob und wo eine Seite Erwartungen nicht einlöst, die die andere zu Recht an sie richtet, nämlich unter Berufung auf die gemeinsam gesichtete Dynamik des Grundes und Gegenstands des Glaubens. Und ebenso, ob und wo eine Seite Forderungen erhebt, die die andere zu Recht, nämlich ebenfalls unter Berufung auf den gemeinsamen gesichteten Grund und Gegenstand des Glaubens, als unberechtigt zurückweist.

Wenn auf irgendeinem Weg die Gemeinschaft am Tisch des Herrn zurückgewonnen werden kann, dann auf diesem. Das Charakteristikum dieses Weges ist: Beide Seiten vertrauen darauf, dass die Wahrheit über die Einheit des Grundes und Gegenstandes des Glaubens sich beiden Seiten, wenn sie sich auf ihn besinnen, durch sich selbst zu Gesicht bringen wird. Beide Seiten sind " cooperatores veritatis" , Mitarbeiter der Wahrheit. Die Aktivität ihres Forschens ist von Geduld umfangen - von der geduldigen Erwartung, dass sich den aktiv Suchenden die Wahrheit schließlich selbst erschließen wird.

Eilert Herms

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