Das menschliche Maß

Glaube schließt Toleranz nicht aus. Im Gegenteil
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Es ist kurzschlüssig, aus der Forderung nach Toleranz zu folgern: Alles, was Menschen glauben und bekennen, ist ihre Privatangelegenheit und - weil gesellschaftspolitisch gleich gültig - eben auch gleichgültig.

Persönliche Glaubensgewissheit und die feste Beheimatung in einer Religionsgemeinschaft - stehen diese Lebenshaltungen einer toleranten Lebenspraxis im Wege? Gerade in pluralen Gesellschaften, in denen die dominierende Stellung einer Religion oder Weltanschauung nicht mehr möglich ist?

Das Verständnis und die Praxis von Toleranz haben einen langen Entwicklungsweg durchlaufen - vom geduldigen Ertragen auferlegter Pflichten bis zu dem heute oftmals anzutreffenden Verständnis: Toleranz bedeute, alle Geisteshaltungen gleichermaßen gültig und nebeneinander bestehen zu lassen.

Dieses Verständnis von Toleranz stellt eine besondere Herausforderung für Menschen dar, die sich einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppe verbunden wissen. Für ihre Toleranzbereitschaft ist es unabdingbar, dass Toleranz nicht auf Beliebigkeit zielt. Denn dies würde ihrem geistigen Ringen um Wahrheit und Gültigkeit leitender Werte nicht gerecht.

Denn es ist kurzschlüssig, aus der Forderung nach Toleranz zu folgern: Alles, was Menschen glauben und bekennen, ist ihre Privatangelegenheit und - weil gesellschaftspolitisch gleich gültig - eben auch gleichgültig. Ein Verzicht der Kirchen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungen auf öffentliche gesellschaftliche Teilhabe ist keine notwendige Konsequenz aus einer toleranten Lebenshaltung. Eine solche Abstinenz würde durchaus nicht den Zusammenhalt in der Gesellschaft befördern. Und es darf auch den Verantwortlichen und Entscheidungstragenden in Politik, Wirtschaft und Verbänden unserer Gesellschaft nicht egal sein, welche ethischen Maßstäbe Menschen aus ihren Glaubensgewissheiten heraus entwickeln. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass menschliche Absolutheitsansprüche - seien sie theologisch oder säkular begründet - der Feind der Toleranz sind und letztendlich zur Unterdrückung der Freiheit und der Rechte anderer Menschen führen. Glaubensgewissheit und Beheimatung in einer Religionsgemeinschaft verlangen aber gar nicht nach Absolutheitsansprüchen. Sie können durchaus von der Grundüberzeugung getragen sein: Es gehört nicht zu meinem menschlichen Maß, hier auf der Erde die absolute Wahrheit zu erkennen oder gar zu besitzen. Paulus hat diese Einsicht uns Christen unmissverständlich ans Herz gelegt, als er schrieb: "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann" - also erst im Reich Gottes - "aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin." (1. Korinther 13,12)

Toleranz setzt die Fähigkeit voraus, selbstbewusst an seinen eigenen religiösen und ethischen Überzeugungen festzuhalten und sie zugleich demütig zu relativieren, indem sie weder als "alleingültig" noch als "allgemeingültig" durchgesetzt werden sollen.

Wenn persönliche Glaubensgewissheit und Beheimatung in einer Religionsgemeinschaft mit Demut gegenüber eigenen Wahrheitserkenntnissen und Achtung gegenüber den Überzeugungen anderer verbunden sind, dann stehen sie auch in unserer pluralen Gesellschaft einer toleranten Lebenspraxis keinesfalls im Wege.

Nikolaus Schneider ist EKD-Ratsvorsitzender und Mitherausgeber von zeitzeichen.

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Nikolaus Schneider

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