Keine Erklärung

Über den Selbstmord
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Über das Einzelschicksal des toten Freundes hinaus wird dem Erzähler deutlich, dass das Leben sowohl unverfügbar als auch unerklärbar bleibt. Ein literarisches Meisterwerk.

Ein 25-jähriger Mann, glücklich verheiratet, (noch) kinderlos, gesund, gut aussehend nimmt sich - überraschend für seine Umwelt - das Leben. Jahre später versucht ein früherer, ungefähr gleichaltriger Freund, das Geheimnis dieses Lebens und Sterbens zu ergründen. Das ist, zusammengefasst, der Inhalt des Buches. Dabei macht der Ich-Erzähler die Erfahrung, dass die "Art, aus dem Leben zu scheiden", die gesamte Lebensgeschichte "mit einem negativen Vorzeichen versehen" habe. "Jeder, der dich kannte, deutet jetzt all deine Handlungen im Licht der letzten. Der Schatten dieses großen schwarzen Baumes verdeckt von nun an den Wald, der dein Leben gewesen ist. Wenn man von dir spricht, erzählt man sich zuerst von deinem Tod ... Ich habe nach deinem Tod nie gehört, dass jemand, der von deinem Leben sprach, bei seinem Beginn ansetzte. Dein Selbstmord ist der Gründungsakt."

Er ist auch der "Gründungsakt" dieses Buches. Nie wäre der Ich-Erzähler auf den Gedanken verfallen, über diesen Mann monatelang nachzudenken, geschweige denn über ihn ein Buch zu schreiben. Er fragt sich: "Wenn du noch leben würdest, wären wir Freunde? Es gab andere, die mir näher waren." Und er fährt fort: "Aber die Zeit hat mich unmerklich von ihnen entfernt ... Du aber, damals so fern, distanziert und dunkel, strahlst jetzt in meiner Nähe. Wenn ich Zweifel habe, bitte ich dich um deine Meinung. Deine Antworten befriedigen mich mehr als die, welche die anderen mir geben könnten. Du begleitest mich treu, wo ich auch bin." Seit sich der namenlos bleibende Ich-Erzähler mit dem Schicksal des Toten beschäftigt, scheint ihm die Welt allmählich abhanden zu kommen. Der Tote entwickelt eine starke Sogkraft, der sich der Erzähler nicht entziehen will und die sich unmittelbar auf den Leser überträgt. Da das gesamte Buch um ein einziges Thema kreist und der Autor ein stilsicherer, großer Schriftsteller ist, gelingt ihm ein dichter, weder durch Kapitel getrennter noch durch Abschweifungen abgeschwächter Text.

Wie nicht anders zu erwarten, sucht der Erzähler im Leben des Toten Ereignisse und Überlegungen, die den Selbstmord vorausdeuten könnten. Keiner der Verwandten und Freunde habe sich bisher an eine "Erklärung" für den Selbstmord "gewagt". "Unglücklich" sei er schon immer gewesen. "Du hast geglaubt, mit dem Älterwerden würdest du weniger unglücklich sein, weil du dann Gründe hättest für deine Traurigkeit. Da du noch jung warst, war deine Verzweiflung bodenlos, da du sie für unbegründet hieltst." Diese bodenlose Verzweiflung machte ihn fremd unter den Menschen, mit denen er zusammenkam. Dabei war er nicht ungesellig, war in ausgelassenen Runden kein Spielverderber. Aber seine "Fremdheit kultivierte" er. So unterzog er sich keiner Psychoanalyse. Er meinte, die Therapie würde ihn "normalisieren" und seine Fremdheit "kanalisieren".

In einem verwahrlosten, vergessenen Tennisplatz sah er sein "Selbstportrait"; er wich dieser "modernen Ruine" nicht aus. "Todesmetaphern beunruhigten" ihn, aber "verweigerte" ihnen nicht "die Vorstellung". Auf seine Umgebung macht er keineswegs einen unglücklichen Eindruck. Er spielt Tennis, geht Skifahren, betreibt ein "Wirtschaftsstudium", während seine Frau Geld für beide verdient. Der Erzähler kennt die Frau wenig. Nach der Beerdigung hat er sie nicht mehr gesehen. Er weiß nicht, ob sie allein lebt, ob sie einen anderen Mann und Kinder hat; er weiß nicht, ob und wie sie das Andenken an den Toten pflegt.

Der Erzähler setzt kein Mosaik zusammen, aus dem sich schließlich ein vollständiges Bild des Toten ergäbe. Vieles aus diesem kurzen Leben bleibt im Dunkeln, auch,wie er seine Frau kennengelernt hat. Vom Ich-Erzähler selbst erfahren wir nur das, was sich unmittelbar auf den Toten bezieht. Mehr wissen wir nicht von ihm.

Der Selbstmord des früheren Freundes bleibt ihm nach wie vor unerklärlich. Er verstört ihn jedoch nicht. "Du machst mich nicht traurig, sondern schwer. Du stehst meiner unverbesserlichen Leichtigkeit im Weg." Über dieses Einzelschicksal hinaus wird dem Erzähler deutlich, dass das Leben sowohl unverfügbar als auch unerklärbar bleibt. Ein literarisches Meisterwerk. Édouard Levé hatte das Manuskript im Oktober 2007 an seinen Pariser Verleger geschickt. Der rief ihn begeistert an und vereinbarte ein Treffen, zu dem es nicht kam: Levé hatte sich wenige Tage nach diesem Telefonat das Leben genommen. Dadurch bekommt der Text keine höhere literarische Qualität, für uns Leser aber eine größere Dringlichkeit.

Édouard Levé: Selbstmord. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012, 110 Seiten, Euro 17,90.

Jürgen Israel

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