Im Grundton religiös

Die Märchen der Gebrüder Grimm sind auch nach 200 Jahren populär
Gerhard Gollwitzer: "Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich", 1947. Foto: akg-images
Gerhard Gollwitzer: "Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich", 1947. Foto: akg-images
Die Märchen der Gebrüder Grimm gelten als das meist verbreitete Werk der deutschen Literatur nach der Lutherbibel. Claudia Maria Pecher, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendbuchforschung der Universität Frankfurt am Main und Vizepräsidentin der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, zeigt auf, wie präsent und vielgestaltig in den Grimmschen Märchen religiöse Bezüge sind und warum das so ist.

Spätestens seit dem 20. Dezember 2012 sind alle Augen auf das 200-jährige Jubiläum der "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm gerichtet. Wissenschaft, Politik und Markt sind sich ausnahmsweise einmal einig: "Märchen" sind in. Eine Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung hat das 2011 bestätigt. Märchen liegen in allen Medienformaten im Trend: von der Solo-Show des "Gestiefelten Katers" im 3-D-Animationsfilm über die fünfzigste Walt-Disney-Adaption "Rapunzel verföhnt" bis hin zu weihnachtlichen Fernsehproduktionen. Die Filmindustrie antwortet märchenhaft auf die Gewohnheiten des Publikums. Hollywood setzt auf "Grimmification". Auch auf dem Bilderbuchmarkt der Gegenwart zeigt sich ein interessanter Diskurs, der Grimmsche "Kinder- und Hausmärchen" als generationenübergreifende Literaturkonstanten begreift. Die "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm gelten immerhin nach der Luther-Bibel als das meist verbreitete Werk der deutschen Literatur. Durch ihre vielfach gelobte Abstraktion und Neutralität lassen sich die Märchen bis heute auch ohne historischen oder religiösen Rückbezug lesen, auch wenn dieser eigentlich vom kundigen Leser mitzudenken ist.

"Lernte man in frühen Generationen sein Deutsch direkt oder indirekt aus Luthers Bibel und Katechismus, so seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zum guten Teil unbewusst aus Grimms Kinder- und Hausmärchen", charakterisiert der Grimm-Forscher Heinz Rölleke den didaktischen Wert der Grimmschen Sammlung. Auch die Brüder Grimm selbst betonten, "daß die Poesie, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, daß es als ein Erziehungsbuch diene". Märchen à la Grimm bieten Beispiele von "Konfliktlösungen auf der Grundlage akzeptierter Moralprinzipien des 19. Jahrhunderts", schrieb Dietz-Rüdiger Moser, so dass jener implizierte Konservativismus den Rückbezug auf geistliche und weltliche Morallehren sowie die historische Pädagogik geradezu herausfordern müsste. Das Märchen zeigt auf, "wie man mit Ausdauer, Furchtlosigkeit, Beherztheit, selbstloser Opferbereitschaft und - nicht zuletzt übernatürlicher Hilfe - selbst die schwersten irdischen Probleme bewältigen kann, wenn man nur ein gutes Herz hat, Armut - wie 'Hans im Glück' - höher schätzt als irdischen Reichtum und demütig, geduldig, beharrlich und gehorsam über alle Hindernisse hinweg seinen Weg geht."

Bürgerliche Moral

Märchen sind also prospektiv und tragen einen "Grundton von Religion", wie Lutz Röhrich bemerkt. Nun ist diese Erkenntnis nicht neu, wohl aber scheint es, dass Bemühen und Wissen um christliche Lehre und Pädagogik in diesem Kontext nur vereinzelt vorangetrieben wurden. Demnach ist es an der Zeit, die Texte der Kinder- und Hausmärchen einerseits auf religiöse Sprachfärbung und Stilistik sowie andererseits auf ikonographische und geschichtliche Hintergründe religiöser Provenienz und Funktion zu hinterfragen.

Im Märchen "Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich" fällt zunächst eine Parallelität zum 16. Jahrhundert auf. Die Brüder Grimm selbst brachten die Erzählung direkt in Verbindung mit Georg Rollenhagens Tierepos "Froschmeuseler" (1595). Hans-Jörg Uther betont die von Rollenhagen gezogene Traditionslinie von "alter Heydenischer lehr" zur Gegenwart und die damit zusammenhängende Funktion "Hausmärlein gedacht als Anleitung zur christlichen Erziehung". Freilich hat das Märchen auf den ersten Blick keine christliche Färbung. So hält gerade kraft väterlicher Ermahnung "Was du versprochen hast, das mußt du auch halten" die bürgerliche Morallehre deutlich Einzug. Wohl aber ist zu vermerken, dass auch bei dieser Lehre an eine Redensart "biblischer Provenienz" erinnert wird. Da heißt es im 1. Makkabäer 13,38: "Was wir versprochen haben, soll gehalten werden." Hier zeichnet sich also auch eine Art Doppelspiel ab, das in den weiteren Texten sowohl eine unterschiedliche Ausgestaltung als auch Wertung erfahren kann.

So klagt Rölleke: "Höchst poetisch und sentimental verbrämt zugleich seufzen die verstoßenen Geschwister im verregneten Wald: 'Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen'". Gemeint ist das Märchen "Brüderchen und Schwesterchen", in welchem sich die beiden Kinder Gott aus Not anempfehlen, weil sie aus dem zweifelhaften Elternhaus fliehen, und aus Ritual beim abendlichen Zubettgehen.

Göttlicher Fokus

Redefloskeln wie "Ach Gott", "Dass Gott erbarm", "Gott sei mit euch!", "in Gottes Namen" oder "wer auf Gott vertraut"- um nur ein paar Beispiele zu nennen -, begegnen dem Leser der Grimmschen Märchen häufig. Dadurch mag ein gewisser stereotyper Erzählton im Sinne der Gesamttextur entstehen, wohl aber bleibt für jedes einzelne Märchen zu hinterfragen, welche Funktion sich dahinter verbirgt.

Verfolgt man das Handlungsgeschehen des Märchens "Brüderchen und Schwesterchen" weiter, so rückt vielmehr das Schwesterchen denn das Brüderchen in den göttlichen Fokus. Sie ist es, die das Gebet spricht, als das Brüderchen in ein Rehchen verwandelt worden ist. Sie ist es weiterhin, die augenblicklich durch "Gottes Gnade" ihr Leben und ihren "unversehrten" Körper zurückerhält, denn sie ist "frisch, rot und gesund" zurückgekehrt, wie es den rechten Gliedern Christi zugesagt ist. Den Gegensatz dazu bildet die leibliche Tochter der Stiefmutter und falsche Königsbraut, welche "häßlich war wie die Nacht und nur ein Auge hatte". Jene Redewendung "Schwarz werden wie die Nacht, und häßlich wie die Sünde" taucht auch in "Die weiße und die schwarze Braut" als unmittelbare Strafe Gottes für den Hochmut einer Mutter samt Tochter auf. Das fehlende Auge erinnert an die Aussagen der Bergpredigt zum Ehebruch.

Ordnung der Glieder

Bei der Darbietung beider Frauengestalten schwingen Bilder und Wortschatz der Corpus-Christi-Lehre mit. Die unversehrte und rechte Ordnung der Glieder im Leib wiederherzustellen, ist fester Bestandteil christlicher Glaubensvorstellung. "Denn wie Christus durch sein Sterben die Menschen von der Erbsünde befreite, so hat er auch durch seine Auferstehung deren Leben erneuert" - eine Vorstellung, die in der Geschichte vom "Bruder Lustig" geradezu ad absurdum geführt wird.

Bleibt zu fragen, was mit dem Brüderchen des Schwesterchens passiert? Das Märchen endet grausam. Nachdem das Schwesterchen als des Königs Frau dem König erzählt hat, welcher Frevel ihr von der Hexe angetan wurde, lässt dieser beide stante pede hinrichten: "Die Tochter ward in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen, die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen."

Hat das Brüderchen nur dem Maßhalten eines reformierten Menschenbildes widersprochen und unterlag damit dem Zauber einer bösen Hexe, so trifft die Hexe ungleich höhere Schuld, die es zu bestrafen gilt. Astrid Brüggemann zieht hier einen unmittelbaren Vergleich mit der "Grausamkeit" calvinistischer Martyrologien, von Bearbeitungen und Sammlungen des 19. Jahrhunderts sowie der calvinistisch-puritanischen Gesellschaft. So lassen sich einerseits das Gottergebene ebenso wie andererseits viele allzu grausam wirkenden Bestrafungen erklären.

Brunnen des Lebens

Ähnlich verhält es sich mit der enormen Bildlichkeit der Grimmschen Märchenwelt, die die Vorstellungskraft des Lesers geradezu herausfordert. Auch hier scheint, bei aller Neutralität und Grimmschem Bemühen um Mehrfachlesart, sehr deutlich ein Bewusstsein um ikonographische Bildbestände vertreten zu sein. Beispiele hierfür liefert das Märchen "Vom Teufel mit den drei goldenen Haaren". Hier muss ein Jüngling, um die Königstochter zur Frau zu erhalten, dem König drei goldene Haare vom Haupt des Teufels aus der Hölle holen. Der junge Mann passiert eine Stadt, in der ein Weinbrunnen versiegt ist, eine andere Stadt, in der ein Baum verdorrt ist, und schließlich gelangt er an ein großes Wasser, in dem ein Fährmann auf Ablösung hofft. Nur der Teufel weiß, wie die Qualen zu beenden sind, so dass der Wein wieder fließt, der Baum wieder Äpfel trägt und der Fährmann Ablösung findet. In allen drei Fällen werden Zugänge und Verbindungen zur unterirdischen Welt beschrieben und gleichermaßen Bildvorstellungen aufgegriffen, die im religiösen Bildrepertoire des 19. Jahrhunderts präsent waren.

So ist der Brunnen in biblischen Texten meist Begegnungsstätte an einer Wasserquelle und Symbol von Leben und Unsterblichkeit. "Fons vitae", der Brunnen des lebendigen Wassers, steht für das Geheimnis des Osterfestes, den auferstandenen Christkönig selbst. Sein Gegenbild ist der Brunnen des Abgrunds, dem Bestien entspringen. Mit der Vorstellung des Baumes verbunden werden im Paradies der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens, dessen Bezug auf die Wurzel Jesse die Reihe der Vorfahren von Jesus zeigt. Der Lebensbaum versinnbildlicht den alttestamentlichen Typus des Kreuzes. Ein verdorrter Baum hingegen gilt als Sinnbild des Sünders, welchem keine Erlösung zu Teil werden kann. Auch an der letzten Station, beim Fährmann, kann nur zurückkommen, wer mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet ist, nämlich ein Jüngling, der Parallelen zur Kindheitsgeschichte von Mose und Jesus aufweist. In allen drei Fällen spiegeln sich durchdachte Schwellenbilder, die eine Verbindung des Irdischen und Unterirdischen im Sinne einer christlichen Weltordnung erlauben.

Dies sind nur wenige Beispiele, die den großen Bereich des ikonographischen Bild- und Zeichenrepertoires der Grimmschen Erzählungen andeuten. Neben Erzählstil und Bildlichkeit bilden den dritten großen Komplex religiöse Erzählstoffe und -formen.

Aktualisierung des Evangeliums

Neben Bibelzitaten, die in Grimmschen Texten häufig wörtlich übernommen werden und häufig nur Rahmen geben, sind auch Geschichten zu finden, die Aktualisierungen der Botschaft des Evangeliums darstellen, so zum Beispiel in "Die ungleichen Kinder Evas", in welcher die Brüder Grimm zunächst eine "uralte Sage" sehen, die "sich zuletzt auf Adam und Eva" übertrug. Der Text beruht insbesondere auf der letzten Fassung des Stoffes "Die ungleichen Kinder Eve" von Hans Sachs aus dem Jahr 1558. Die Geschichte selbst erzählt, dass Eva bei einem Besuch von Gott diesem nur ihre schönen Kinder vor Augen führt, die hässlichen aber von ihm fernhält. Erst als sie sieht, dass Gott ihre schönen Kinder zu Königen, Fürsten, Rittern, Edelleuten und Bürgern macht, holt sie auch die hässlichen Kinder hervor. Gott jedoch weist ihnen nur einfache Stände zu. Als Begründung fügt er hinzu: "Jeder soll seinen Stand vertreten, daß einer den andern erhalte und alle ernährt werden wie am Leib die Glieder."

Paraphrasiert werden hier die Ausführungen des Apostels Paulus zur Einheit aller Glieder am Leibe Christi, der Kirche. Schon in der Veröffentlichung durch Philipp Melanchthon 1539 findet sich in der Erzählung außerdem das lutherische Obrigkeitsdenken, das "die unterschiedliche soziale Ordnung und die Verteilung von Armut und Reichtum als gottgegeben rechtfertigt", wie Hans-Jörg Uther anmerkt.

Calvinistische Färbung

Zahlreiche Erzählungen zum Werteverständnis calvinistischer Färbung finden sich bei den Brüdern. So liegt der Fokus, wie Astrid Brüggemann nachwies, weniger auf einer "Glücklichen Armut" als auf irdischem Wohlstand, der von Gott gegeben wird und glücklich macht. Ein deutliches Beispiel präsentiert uns das Märchen "Die Sterntaler". Armut wird hier zu einem Mangel, der überwunden wird. Da heißt es: "Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter harte blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag." Gottergebenes Leben wird nicht allein mit jenseitigem, sondern auch mit irdischem Ruhm materiell ausgestattet. Voraussetzung aber für höchste Entlohnung bleibt die Verpflichtung zur Nächstenliebe und Askese. So rückte insbesondere bei den reformierten Gläubigen die Ungesichertheit des Menschen als Lebensfrage in den Vordergrund. Allein die Gnade Gottes begründet für Calvin noch deutlicher als für Luther die Heilsgewissheit, die das Handeln des Einzelnen am Wort Gottes orientiert.

Hält man nun Rückschau auf die Überlegungen zu Erzählstil, Bildlichkeit sowie Stoff- und Formen-Repertoire der Brüder Grimm, so wird deutlich, dass sich jener "Grundton von Religion" sehr vielgestaltig ausdrückt und aus verschiedenen Quellen speist. Insbesondere aber finden sich immer wieder die reformierten Denkansätze und Deutungsmuster calvinistischer Prägung, von denen die Brüder durch ihre Herkunft und Erziehung geprägt waren. Diese Ansätze lassen sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen.

Claudia Maria Pecher

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