Ohne Ansehen der Person

Thema in der Telefonseelsorge: Trennung
Foto: Robert Müller/Pixelio.de
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Unter denen, die täglich die Nummer einer Telefonseelsorgestelle anrufen, sind viele Menschen, die unter einer bevorstehenden oder vollzogenen Trennung leiden. Wie die Telefonseelsorger und Telefonseelsorgerinnen damit umgehen, berichtet Uwe Müller, Leiter der "Berliner TelefonSeelsorge".

Jedes Jahr erreichen über 2,5 Millionen Anrufe die 104 TelefonSeelsorge-Stellen in ganz Deutschland. Sie sind rund um die Uhr erreichbar, an 365 Tagen im Jahr. Ein Notruf, wie ihn die Polizei oder Feuerwehr vorhalten kann. Oftmals wird die Telefonseelsorge - als ein Dienst der Kirchen an den Menschen - als "Notruf für die Seele" beschrieben und von vielen Menschen auch so verstanden.

Eines der wichtigsten Themen, das die Anrufenden beschäftigt, bildet das weite Feld der familiären Beziehungen und die existenzielle Bedrohung durch Trennung und Scheidung. Für die meisten Menschen, die sich mit diesem Thema bei der Telefonseelsorge melden, ein traumatisches Erleben.

Sehr oft rufen Menschen bei uns an, die sich mit Trennungs- und Scheidungsabsichten tragen. Die Ambivalenz in solch einem Geschehen steht hier meist im Vordergrund. "Wie soll ich mich entscheiden?", "Ich kann nicht mehr, will was verändern, weiß aber nicht wie!" "Mich plagen Schuldgefühle, Ängste, auch materielle Sorgen, ich schäme mich, versagt zu haben." Gewissensbisse gegenüber dem Partner und den Kindern, der Familie, der Gemeinde, vor Gott.

In der Deckung

Dann kann es gut tun, in der Telefonseelsorge auf einen Menschen am anderen Ende der Leitung zu treffen, der nicht in diesen Konflikt involviert ist, der gefühlt weit weg ist, aber, ganz anonym, mit seiner Kompetenz zur Seite steht, mit dem ambivalente Gedanken und Gefühle besprochen werden können. In dieser "Deckung der Anonymität" besteht der große Vorteil, am nächsten Tag nicht vom Telefonseelsorger gefragt zu werden, wie es weiter geht, was denn aus meinen Überlegungen geworden sei. Der Anrufende gerät also nicht unter Zugzwang.

Bezeichnenderweise sind es meistens Frauen, die in dieser Phase anrufen. Sie haben das bessere Gespür für ihre Beziehungen und können wesentlich besser ihre Gefühlslage beschreiben und ihren Zustand reflektieren. Ein wesentlicher Punkt in der Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telefonseelsorge ist hier, die Ambivalenzen aufzunehmen und anzusprechen. Das Sortieren der emotionalen Befindlichkeit, das Begleiten im Gefühlschaos ermöglicht wieder einen Blick für die konkrete Situation. Wichtig ist es, die mitunter überbordenden Emotionen auszuhalten und dem Anrufenden zu signalisieren, dass sein/ihr Verhalten und Empfinden für die Situation angemessen ist. In einer Krise verstanden zu werden, ist für die Anrufenden von unschätzbarem Wert.

Ängste und Totstellreflex

Trennung oder Scheidung ist aufrüttelnd und aktiviert zumeist lang verdrängte starke Gefühle: Aufgrund der Verletzungen, Ohnmacht und existenziellen Ängste um die Kinder und das Geld brechen oft Rachegefühle, Aggressionen und depressive Krisen bis zum "Totstellreflex" hervor - gleichermaßen, bei Männern wie bei Frauen.

Da in der Mehrzahl Frauen eine Trennung initiieren, sind bei ihnen auch Schuldgefühle häufiger, insbesondere wenn Kinder aus dieser Beziehung hervorgegangen sind. "Den Kindern den Vater nehmen" ist eine noch sehr verbreitete Schuldzuweisung, und es setzt sich nur sehr allmählich die Vorstellung durch, dass man als Paar zwar getrennt ist, aber weiterhin Eltern bleibt; für viele Menschen ist das emotional nicht vorstellbar, für Männer noch weniger als für Frauen.

Das Thema "Umgang mit den Kindern" wird oft missbraucht, um der Ohnmacht zu entfliehen und vermeintlich Macht über den ehemaligen Partner, die ehemalige Partnerin auszuüben. Die Trauer und der Schmerz des Verlustes kann auf diese Weise kompensiert werden, als ein Ausgleich für die erlittene Kränkung empfunden werden: "Ich habe den anderen unter Kontrolle, habe weiterhin Einfluss auf sein/ihr Leben." "Ich lasse dich nicht los! Ich halte dich in Abhängigkeit und werde dafür sorgen, dass du den Rest deines Lebens leidest und an mich denkst!" - finanzielle Ausgleichszahlung oder Kindesentzug werden oft als Druckmittel benutzt.

Es geht immer um Stärkung

Wertschätzung, auch über das Gelungene in der vergangenen Beziehung, kommt erst sehr spät, und es bedarf dazu einer erheblichen Reife. Wenn es gelingt, in einem Gespräch mit der Telefonseelsorge auch das Thema der Wertschätzung für den Beziehungspartner zu bearbeiten, können erste Schritte zur Steigerung des Selbstwertgefühls entwickelt werden. Eine getrennte Beziehung im Ganzen zu negieren, heißt ja auch, das Leben in den Jahren der Beziehung und damit sich selbst abzuwerten. In der Telefonseelsorge geht es immer um die Stärkung desjenigen, der anruft.

Oft begleiten die Beteiligten noch lange Schuldgefühle: Kinder fühlen sich schuldig und verantwortlich für die Trennung der Eltern, weil sie sich nicht so verhalten haben, dass ein Zusammenleben der Eltern weiter möglich wurde; weil ihre Liebe zu den Eltern nicht groß und ausreichend genug war, die "heilige Familie" zu retten. Kinder fühlen sich schuldig, weil sie ihre Liebe "nur noch für einen Elternteil" geben dürfen, weil sie ein Elternteil verlassen hat und der andere Elternteil mit seiner Trauer und Ohnmacht alleine zurückbleibt. Elternpaare fühlen sich schuldig, weil das Nest der Kinder zerstört wurde, egal, wer von beiden nun die Trennung betrieben hat. Gefühle, versagt zu haben und solche, die gemeinsamen Wünsche und Träume ungenügend realisiert zu haben, setzen zu. Und - haben wir auch wirklich alles getan, um unsere Ehe zu retten?

In christlichen Familien sind diese Gefühle von Schuld und Versagen oft besonders ausgeprägt, gerade im Hinblick auf das Eheversprechen vor dem Altar der Gemeinde mit den Worten: "Bis das der Tod euch scheidet". "Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden", "Ja, mit Gottes Hilfe" und die Vorstellung, Kinder und die Beziehung als ein Geschenk Gottes zu begreifen und sich auf Gottes Beistand und Hilfe verlassen zu haben. Darauf hören wir oft Fragen wie: "Warum hat Gott nicht seine schützende Hand über uns gehalten?", "Warum hat Gott mich verlassen?".

Traumata und Gegenbewegung

Menschen rufen an, die eine Trennung der Eltern vor zwanzig oder mehr Jahren erfahren haben und sich bis heute nicht der Liebe ihrer Eltern sicher sind. Die es bis heute nicht verzeihen können, dass ihnen ein Elternteil genommen wurde. Diese Menschen stellen oft weiß Gott was an, um zu testen, ob der verlassene Elternteil auch noch zu seiner immer zugesagten Liebe steht. Besonders dramatisch wird es, wenn das traumatische Erleben der elterlichen Scheidung in eine geplante eigene Familiengründungsphase hineinwirkt. Angst, sich auf eine Beziehung zu einem anderen Menschen einzulassen, womöglich vor den Altar zu treten, eigene Kinder zu zeugen und in einer kleinen "heiligen Familie" großzuziehen, kann sich soweit auswirken, dass erst gar keine Beziehung eingegangen wird. Zum Glück gibt es aber auch die Gegenbewegung: "Ich mache alles anders und besser als meine Eltern." Und es gibt die Erfahrung tiefer Liebe durch den anderen Partner, der die Menschen vor den Altar treten lässt.

"Bei der TelefonSeelsorge finden Sie einen Menschen, der Ihnen vorurteilsfrei zuhört, sich Ihnen zuwendet, ohne Ansehen der Person, der versucht, Sie zu verstehen, der Ihre religiösen und weltanschaulichen Einstellungen achtet" - so steht es in den Broschüren und Faltblättern der TelefonSeelsorge. Und diese Zusage gilt! Aber nur, weil die ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen am Telefon eine Ausbildung absolviert haben, die es ihnen ermöglicht, auch ihren Umgang mit eigenen vergangenen krisenhaften Situation zu reflektieren, gegebenenfalls auf ihre eigenen Trennungserfahrungen zurückzuschauen und nachzuspüren, wie es ihnen in dieser Zeit emotional ergangen ist, wie ihre eigenen Handlungsstrategien und Konfliktlösungsmodelle aussahen, und nicht zuletzt: wie sie mit dem Thema Schuld umgegangen sind. Denn so viel ist sicher: Ohne Schuld bleibt keiner von uns, und schuldig bleiben wir immer etwas.

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Uwe Müller

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