"Wie man eine hand umwendet"

August Hermann Francke: Theologe, Schulgründer, Fundraiser, Missionar
R. Weibezahl: "Francke bei der Armenbüchse", 1832. Foto: akg-images
R. Weibezahl: "Francke bei der Armenbüchse", 1832. Foto: akg-images
Die Franckeschen Stiftungen prägen bis heute Halle an der Saale. Ihr Gründer August Hermann Francke wurde am 22. März vor 350 Jahren geboren. Der Mainzer Kirchenhistoriker Wolfgang Breul schildert Leben und Werk des Pietisten, der der Pädagogik und der äußeren Mission wichtige Impulse gab.

Wer in Halle an der Saale die Stadtautobahn vom Bahnhof in Richtung Neustadt fährt, kommt an dem langgestreckten Bau der Franckeschen Stiftungen vorbei. Über zweihundert Meter erstreckt sich der U-förmige, hoch aufragende Gebäudekomplex in Ostwestrichtung. Das Pädagogium Regium, die ehemalige Schule für Adels- und Bürgersöhne, schließt das Ensemble nach Osten ab, das 1698-1701 errichtete Haupthaus nach Westen. Auch heutige Besucher beeindruckt noch die Anlage, die 1989 kurz vor dem Verfall stand und nach einer aufwändigen Restaurierung in neuem Glanz erstrahlt. Sie ist das Stein gewordene Zeugnis eines der größten sozialen und pädagogischen Reformprojekte des 18. Jahrhunderts in der Mitte Europas.

Sein Gründer August Hermann Francke wurde am 22. März 1663, nur fünfzehn Jahre nach dem Ende jenes Krieges geboren, der eine Generation lang in der Mitte Europas Grausamkeiten und Opferzahlen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß hervorgebracht hatte. Francke begann 1679 sein Studium, in einer Zeit, als die Kriegsfolgen noch überall spürbar waren, aber ihre Überwindung sich abzeichnete. Das schlug sich auch in der Theologie nieder. 1675 hatte Philipp Jakob Spener, leitender Pfarrer der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, in den "Pia Desideria", den "frommen Wünschen", ein Reformprogramm formuliert: Seine Kritik der Verhältnisse in der lutherischen Kirche knüpfte zwar noch an die theologische Krisenrhetorik der Kriegszeit an, eröffnete zugleich aber eine Zukunftsperspektive. Erstmals seit der Reformation formulierte ein prominenter Lutheraner die Erwartung einer grundlegenden Erneuerung der Kirche "hier auf Erden". Seine "Hoffnung besserer Zeiten" wurde eine der wesentlichen Triebfedern der pietistischen Reformbewegung.

Francke stammte aus einer angesehenen Lübecker Familie. Die Mutter war die Tochter des Syndikus und Bürgermeisters David Gloxin. Der Vater war Jurist, ab 1666 Rat am Hof Herzog Ernst des Frommen. Wie viele spätere Vertreter des Pietismus wurde auch Francke im elterlichen Haus von Johann Arndts "Wahrem Christentum", dem bei weitem erfolgreichsten Erbauungsbuch des Luthertums, und von puritanischer Erbauungsliteratur geprägt. Der frühe Tod des Vaters 1670 tat seiner Ausbildung offensichtlich keinen entscheidenden Abbruch. Ein einjähriger Besuch des angesehenen Gothaer Gymnasiums weckte sein Interesse für die akademische Arbeit. August Hermann Francke studierte ausgestattet mit einem Lübecker Stipendium in Erfurt, Kiel und Leipzig. Sein besonderes Interesse galt den Sprachen. 1684 erwarb er den Magistergrad und qualifizierte sich 1685 mit einer Dissertation für den akademischen Unterricht. In den anschließenden Jahren beschäftigte sich Francke zunehmend mit Erbauungsliteratur, so vor allem mit dem spanischen Quietisten Miguel de Molinos und den Puritanern Daniel Dyke und Emanuel Sonthom.

Diese Einflüsse trugen vermutlich ebenso wie die älteren Frömmigkeitsprägungen zu jener grundlegenden Wende seiner Entwicklung bei, die als "Bekehrungserlebnis" in die Kirchengeschichte einging. Franckes Bericht über diese Erfahrung zeichnete seinen bisherigen akademischen Werdegang in düsteren Farben: "Das wissen hatte sich wohl vermehret, aber dadurch war ich immer mehr auffgeblehet". Als er Ende 1687 in Lüneburg über den lebendigen, wahren Glauben predigen sollte, gestand er sich ein, solchen Glauben nicht zu haben. Alle Sicherheiten seiner christlichen Existenz erschienen ihm als brüchig, sodass Francke bei sich einen "atheistischen Sinn" konstatierte. Aus tiefer Verzweiflung führte ihn erst ein inständiges Gebet heraus: "Wie man eine hand umwendet, so war alle mein zweiffel hinweg, ich war versichert in meinem hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu." Franckes Lüneburger Bekehrungserfahrung wurde erst nach seinem Tod einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Dabei bestimmte sie seine Theologie und Frömmigkeit und vor allem sein Handeln.

"Ganz von Frömmigkeit brennend" kehrte Francke Ende 1688 nach verschiedenen Zwischenstationen nach Leipzig zurück. Zwei Monate lang besuchte er in Dresden Spener, der ihm zum väterlichen Freund und geistlichen Ratgeber wurde. Ab Frühjahr 1689 hielt Francke in Leipzig kurze exegetische Kollegs, und unter großem studentischen Zulauf wurden sie mehr und mehr zu Erbauungsstunden.

Konventikel verboten

Vom wissenschaftlichen Latein wechselte Francke bald zur deutschen Unterrichtssprache. Und aus den Collegia wurden Konventikel. Es entstand eine studentische Frömmigkeitsbewegung, die sich rasant ausbreitete und bald auf die Leipziger Bürger übergriff. Und damit wurde sie zum Politikum. Die Verantwortlichen in der Fakultät und schließlich auch die sächsische Regierung schritten ein: Die Konventikel und die Vorlesungen der beteiligten Magister wurden verboten. Sie und die Studenten zerstreuten sich zwar, propagierten aber an neuen Wirkungsstätten die neuen Ideen und Frömmigkeit. So löste die Leipziger Bewegung von 1689/90 eine zweite Welle der pietistischen Reform aus, an deren Spitze nun August Hermann Francke stand.

Ein kurzes Zwischenspiel in Erfurt folgte. Hier wirkte er als Hilfspfarrer und Diakon. Wie in Leipzig löste Francke auch hier eine Frömmigkeitsbewegung aus und stieß auf heftige Gegner. Auf Betreiben Speners kam Francke, der zuvor noch in Berlin gewirkt hatte, Anfang 1692 nach Halle an der Saale. Das ehemalige Herzogtum Magdeburg mit seiner ehemaligen Residenzstadt Halle war - als Folge des Dreißigjährigen Krieges - 1680 an Brandenburg-Preußen gelangt. Dessen Regierung suchte die hochverschuldete Stadt ab 1685 durch die Ansiedlung hugenottischer Flüchtlinge und ab 1690 durch die Gründung einer Universität für den Verlust der Residenz zu entschädigen.

Während die hugenottischen Betriebe eher geringe wirtschaftliche Impulse gaben, wurde die Universität binnen weniger Jahre zur führenden im Reich. Dafür sorgte vor allem die Gewinnung von Reformern. Francke traf in Halle auf den Juristen und Philosophen Christian Thomasius (1655-1728), einen bedeutenden Vertreter der Frühaufklärung, und den Theologen Joachim Justus Breithaupt (1658-1732). Weitere Vertreter der pietistischen Reform kamen in den nächsten Jahren hinzu. Eigentlicher Motor der Entwicklung aber wurde August Hermann Francke, der eine Pfarrstelle in Glaucha, vor den Toren Halles, und an der Hallenser Artisten-Fakultät eine Professur für hebräische Sprache übernommen hatte.

Zunächst stürzte er sich in Konflikte mit seiner Kirchengemeinde und den Hallenser Pfarrkollegen. In Glaucha ging er rigoros gegen Alkoholgenuss und andere Dinge vor. Und die Pfarrkollegen, die Franckes Gemeindeglieder teilweise gegen ihren Pfarrer unterstützen, provozierte er mit öffentlichen Vorwürfen. Weil Francke dabei keine Rücksicht auf den gesellschaftlichen Status der Kritisierten und Sanktionierten nahm, hätte ihn dies beinahe die Pfarrstelle gekostet. Nur Speners Rückendeckung aus Berlin konnte ihn - nicht zum letzten Mal - vor einer Abberufung aus Glaucha und Halle bewahren.

Von Beginn an hatte Francke einen großen Zulauf von Studenten, die die pietistischen Reformen und Frömmigkeit begeistert hatten.

Viele wurden Mitarbeiter in jenem Projekt, das seit 1695 aus kleinen Anfängen entstand: Eine für damalige Verhältnisse nicht unbeachtliche Spende, die legendär gewordenen "vier Taler und sechzehn Groschen", verwand Francke, um eine Armenschule zu gründen und einen Studenten für den Unterricht einzustellen. Obwohl es bereits andere Schulen und Armenschulen in Glaucha und Halle gab, wurde Franckes Gründung ein Erfolg. Binnen weniger Monate entstanden mehrere Klassen und ein kleines Waisenhaus. Nach einigen Jahren war ein ausdifferenziertes Schulsystem gewachsen, das nicht nur bald eine vierstellige Schülerzahl und mehrere hundert Waisen beherbergte. Es wurde auch zum Anziehungspunkt für zahlreiche junge Studenten aus ganz Deutschland und darüber hinaus, die ihr Studium in den Glauchaer Anstalten mit der vom Pietismus geforderten Praxis verbanden.

Franckes enormer Erfolg hatte mehrere Gründe: Er war mit Leib und Seele Pädagoge, verstand es auf die "Ingenia", die unterschiedlichen Begabungen der Schüler, einzugehen, setzte das Gespräch an die Stelle stumpfer Repetition und mäßigte körperliche Strafen, die damals zum Alltag des Unterrichts gehörten. Er wollte, dass die Kinder aus eigener Erfahrung lernten und trat daher für die Realien ein: Modellwerkstätten und Naturpräparate bereicherten den Unterricht, von denen heute viele in der sehenswerten Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu bestaunen sind. Vor allem aber war Francke davon beseelt, die Kinder für einen wahren Christusglauben zu gewinnen. Die "Rettung vieler tausend Seelen" stand über all seinen Initiativen.

Franckes Erfolg verdankte sich aber auch dem Netz, das er seit der Leipziger Erweckungsbewegung von 1689/90 geknüpft hatte. Zahlreiche Studenten und junge Theologen arbeiteten mit großem Engagement und gegen ein geringes Entgelt in seinen Schulen, dem Waisenhaus und den sie stützenden Wirtschaftsbetrieben mit. Männer und insbesondere Frauen aus Adel und gehobenem Bürgertum waren bereit, das Projekt vor den Toren Halles mit beachtlichen Beträgen zu unterstützen. Und Francke verstand es, diese Bereitschaft zu wecken. Bereits Ende 1697 druckte er die "Historische Nachricht", eine erste Geschichte seiner Schulen und des Waisenhauses. So begann Franckes überaus erfolgreiche Publizistik. Sie diente nicht zuletzt der Spendenwerbung - wie die berühmten "Fußstapffen", die ab 1701 in zahlreichen Auflagen erschienen. Ein ausgeklügeltes Korrespondenzsystem hielt Kontakt zu Förderern und Sympathisanten.

Franckes Fähigkeit zur geschickten Organisation auf allen Ebenen war die dritte Säule seines Erfolgs. Und die rasante Entwicklung in Glaucha brachte ihm die Unterstützung der Berliner Regierung ein, Waisenhaus und Schulen wurden 1698 zum "Annexum" der neuen Universität erklärt und mit einer Reihe steuerlicher und rechtlicher Privilegien versehen. Im selben Jahr begann man mit dem Bau des Haupthauses. "Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler" (Jesaja 40, 31) steht auf einem Spruchband im Tympanon, darüber zwei zur Sonne strebende Adler.

Umfassendes Reformkonzept

Im Jahr zuvor hatte sich Francke endgültig gegen die Angriffe der Hallenser Pfarrkollegen durchsetzen können. Beflügelt von diesem Erfolg legte er der brandenburg-preußischen Regierung ein umfassendes Reformkonzept vor, das nicht nur auf Halle und Brandenburg-Preußen zielte, sondern auf das gesamte Deutsche Reich und die angrenzenden Länder. Francke sah die Zeit für eine umfassende Erneuerung von Kirche und Gesellschaft gekommen, die Realisierung der von Spener formulierten Hoffnung "auf einen besseren Zustand der Kirche hier auf Erden".

Doch die weit gespannte Perspektive erfüllte sich nicht. Von Berlin kam auf Franckes Entwurf keine Antwort. In Halle aber wurde er fortgeschrieben und in zahlreichen Details und Projekten verwirklicht. Und über die Jahre trugen tausende von Studenten die Hallesche Reform in viele Orte inner- und außerhalb des Reiches. Ein Lehrerseminar sorgte für eine gezielte pädagogische Ausbildung und der Druck von Teil- und Vollbibeln konnte mit der neuen Technik des Stehsatzes verbilligt werden.

Darüber hinaus hatte Francke schon früh Kontakte in andere, selbst abgelegene Länder geknüpft. Seit 1706 nahm die erste systematische Mission des deutschsprachigen Protestantismus in Indien die Arbeit in der dänischen Kolonie Tranquebar auf.

Als mit seinem Tod am 8. Juni 1727 der Stab an Franckes Sohn Gotthilf August (1696-1769) überging, war das kühne Reformprojekt aus dem Jahr 1700 erst in Ansätzen realisiert worden. Gleichwohl hatte Francke ein beachtliches Lebenswerk hinterlassen. Eine Generation lang war die Academia Fridericiana Halle die führende Universität des Reiches gewesen. Und zwei Generationen lang blieben die - später nach ihrem Gründer benannten - Anstalten das Zentrum des Pietismus im Reich. Nach der Mitte des 18. Jahrhunderts war der Niedergang der Franckeschen Schulen und des Waisenhauses aber offensichtlich und doch blieben sie ein bedeutendes Zentrum schulischer und universitärer Bildung, das nach wie vor bedeutende Schüler hervorbrachte.

1989 traf der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher gemeinsam mit dem unermüdlichen Paul Raabe die Entscheidung, die nach vierzig Jahren DDR vom Verfall bedrohten Gebäude der Franckeschen Stiftungen restaurieren zu lassen. Heute beherbergen sie zahlreiche pädagogische und akademische Einrichtungen, darunter das "Interdisziplinäre Zentrum für Pietismusforschung", dem wir wichtige Impulse für die Erforschung Franckes und der pietistischen Reform insgesamt verdanken.

Wolfgang Breul

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