Herr der Mitte

Wilhelm II. und die Religion
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Auch der Nichttheologe und Nichthistoriker liest diese interdiszi plinär angelegte, verständlich geglie derte Untersuchung mit Gewinn, viel leicht gerade auch deshalb, weil sie in die Grenzbereiche zwischen Theologie, Kirchen- und Theologiegeschichte sowie säkularer Geschichtswissen­schaft führt.

Der letzte deutsche Kaiser weckt seit einiger Zeit verstärkt das Interesse der Geschichtswissenschaft. Angesichts der Tatsache, dass Wilhelm II. sein po­litisches Handeln immer wieder religiös begründet und sich zu religiösen und theologischen Fragen seiner Zeit immer wieder zu Wort gemeldet hat, muss es erstaunen, dass er dabei nur ansatzwei­se als Person der theologischen und re­ligiösen Zeitgeschichte in das Blickfeld genommen wurde.

Mit der Studie von Benjamin Has­selhorn, einer Berliner theologischen Dissertation, liegt jetzt eine umfassen­de Analyse und Rekonstruktion des Ver­hältnisses zwischen Religion und Politik im Denken und Handeln Wilhelms II. vor. Hier können nur einige der inhalt­lichen Schwerpunkte der Studie ange­rissen werden. In seiner Kindheit und Jugend erfuhr Wilhelm unterschiedli­che, ja disparate religiöse Prägungen, die es schwer machten, den späteren Herrscher in die politischen und religiö­sen Kategorien seiner Zeit einzuordnen. Schon bevor er Kaiser wurde, bildete sich Wilhelms Auffassung heraus, dass das Herrscheramt nicht nur am Amt hänge, sondern auch mit einem religiösen Auftrag verbunden sei. Die eher theologische Seite seiner Auffassung vom Herrscheramt fand ihre Ausprä­gung in der Inanspruchnahme des Got­tesgnadentums, verstanden als persön­liche Verantwortlichkeit allein vor Gott. Im Politischen führte sie zu der Über­zeugung, als Kaiser mit dem Auftrag zur nationalen Integration aller Volksteile "Herr der Mitte" zu sein. Diese wird beispielhaft am kaiserlichen Konzept der sozialen Monarchie dargestellt, das heißt, der Integration der Arbeiter in das Reich bei gleichzeitiger Bekämpfung der Sozialdemokratie und – nach demsel­ben Muster – der Integration der Katho­liken bei gleichzeitiger Bekämpfung des politischen Katholizismus in Gestalt des Zentrums.

Auch im Verhältnis zu den Juden fühlte sich Wilhelm II. seinem Anspruch verpflichtet, Herr der Mitte auch der jüdischen Deutschen zu sein. Festzu­halten ist, dass keine öffentlichen ju­denfeindlichen Äußerungen des Kaisers nachzuweisen sind und sich seine teil­weise rabiaten privat geäußerten anti­jüdischen Ressentiments nicht in seiner Politik niedergeschlagen haben. Dieses Verhalten, auch seine Freundschaft mit jüdischen Repräsentanten des Besitz- und Bildungsbürgertums, trugen ihm von alldeutscher Seite die Bezeichnung "Judenkaiser" ein.

In seiner Funktion als preußischer König war Wilhelm II. zugleich Summus Episcopus der altpreußischen Landes­kirche. Seine Befugnisse aus dem lan­desherrlichen Kirchenregiment nahm er ernst, nutzte sie zur Vermittlung und Ausgleich zwischen den Parteigegensät­zen und zur Wahrung der Kirchenunion zwischen Lutheranern und Reformier­ten und verzichtete dabei weitgehend auf direkte Eingriffe in kirchliche Ange­legenheiten. Allerdings setzte der Kai­ser gegen die theologisch mehrheitlich orthodox ausgerichtete evangelische Kirchenbehörde die Berufung Adolf Harnacks, eines Vertreters des theolo­gischen Liberalismus, an die Berliner theologische Fakultät durch.

Auch der Nichttheologe und Nichthistoriker liest diese interdiszi­plinär angelegte, verständlich geglie­derte Untersuchung mit Gewinn, viel­leicht gerade auch deshalb, weil sie in die Grenzbereiche zwischen Theolo­gie, Kirchen- und Theologiegeschichte sowie säkularer Geschichtswissen­schaft führt. Hinzu kommt, dass der Autor auf politisch-moralische Bewer­tungen verzichtet, freilich nicht ohne den Hinweis auf das "totale Scheitern" des Kaisers am Ende seiner politischen Laufbahn.

Benjamin Hasselhorn: Politische Theologie Wilhelms II. Duncker & Humblot, Berlin 2012, 343 Seiten, Euro 68,–.

Joachim Rott

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