Senkrecht von oben

zeitzeichen-Serie (III): Zwischen den Zeiten. Protestantische Theologie in der Weimarer Republik
Emil Nolde: "Christus in der Unterwelt", 1911. Foto: akg-images
Emil Nolde: "Christus in der Unterwelt", 1911. Foto: akg-images
Karl Barth (1886-1968) deutete die Geschichte der evangelischen Theologie seit der Reformation als eine Verfallsgeschichte. Andere, völkisch gesonnene Theologen wollten diese Auffassung mit einer Blut-und-Boden-Theologie verbinden: Jan Rohls, Professor für Systematische Theologie an der Universität München, zeigt die Theologie der Weimarer Republik im Schwung ihres Aufbruchs, dessen Nachwirkungen bis heute nicht nur positiv waren.

Es war eine Endzeitstimmung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg, dem Untergang des deutschen Kaiserreichs und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, in zahlreichen literarischen Werken niederschlug. In seiner monumentalen Tragödie "Die letzten Tage der Menschheit" rechnete Karl Kraus mit jener Gesellschaft ab, die die Menschheitsapokalypse heraufbeschworen hatte. Und Kurt Pinthus publizierte unter dem Titel "Menschheitsdämmerung" die berühmte Anthologie expressionistischer Lyrik. "Sturz und Schrei" ist das erste Kapitel überschrieben, das mit dem Gedicht "Weltende" von Jakob van Hoddis eingeleitet wird. Bücher wie Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes" oder Theodor Lessings "Die verfluchte Kultur" stehen für jenen Zeitgeist, der in der protestantischen Theologie 1920 seinen markanten Ausdruck mit Friedrich Gogartens Aufsatz "Zwischen den Zeiten" fand.

Da ist von dem tiefen Graben zwischen der radikalen Jugend und dem Geist des 19. Jahrhunderts die Rede, den der Krieg nur offenbar gemacht habe. Die junge Generation fühle sich hingezogen zu den Außenseitern des bürgerlichen Zeitalters, Kierkegaard und Nietzsche. Rückhaltlose Skepsis gegenüber der Kultur sei an die Stelle des kulturprotestantischen Optimismus getreten. Mit dem Krieg sei der idealistisch-humanistisch überhöhte Mensch untergegangen, alles Menschliche, Geschichtliche in seiner Relativität erkannt worden, so dass nun der Blick für die radikale Andersartigkeit Gottes frei werde. Statt der Synthese proklamiert Gogarten den absoluten Gegensatz von Gott und Welt, und die Religion ist für ihn nichts als die Anmaßung des Menschen, diesen Gegensatz zu überbrücken. Der Mensch als Handlungssubjekt wird eliminiert und Gott zum allein handelnden Subjekt erklärt. An die Stelle der Religion tritt die Offenbarung des in die Transzendenz erhobenen Gottes.

Die Titel von Gogartens Aufsatz gab dem Publikationsorgan jener neuen theologischen Richtung den Namen, die als "Theologie der Krise", "Wort-Gottes-Theologie" oder "Dialektische Theologie" bezeichnet wird. Zwischen 1923 und 1933 erschien die Zeitschrift "Zwischen den Zeiten", um die sich die theologischen "Jungtürken" Karl Barth, Emil Brunner, Rudolf Bultmann und Gogarten sammelten. Barth, der reformierte Schweizer, löste sich vom "Religiösen Sozialismus" und identifizierte Gott mit dem "Ganz Anderen". Das war ein Begriff, den Rudolf Otto in seinem epochalen Buch "Das Heilige" eingeführt hatte, um das Irrationale am Gottesbegriff herauszuarbeiten. Barth griff ihn auf, um die absolute Transzendenz Gottes herauszustellen - diese schließe auch jede religiös-soziale Synthese von göttlichem und menschlichem Handeln mit ein. Diese absolute Transzendenz Gottes wurde zum Zentralgedanken in Barths Schrift "Der Römerbrief" von 1922: Gott ist der transzendente reine Ursprung. Zwischen Gott und Welt klafft Kierkegaards unendlicher qualitativer Unterschied. Dostojewski und der Theologe Franz Overbeck (1837-1905) werden als Kronzeugen für die Diastase von Christentum und Kultur, die Weltfremdheit des christlichen Glaubens bemüht.

Als zur morbiden Menschenwelt gehörig verfällt mit Kultur und Moral auch die Religion der Kritik. Sie ist nichts als der prometheische Versuch des Menschen, ohne Offenbarung zu Gott zu gelangen. Die Offenbarung aber ist selbst kein geschichtliches, historisches Ereignis. Sie ist Urgeschichte, unerklärlicher Akt des transzendenten Gottes, der im auferstandenen Christus die erlösungsbedürftige geschichtliche Welt senkrecht von oben durchschneidet, ohne in sie einzugehen. Die radikal neue Welt schlägt wie eine Granate in die verfaulte alte Todeswelt ein. Die Offenbarung des ganz anderen Gottes ist zwar Gnade, aber zugleich das Gericht über die gesamte Menschenwelt.

Dialektiker-Differenzen

Das ist der Grundtenor der Dialektischen Theologie. Die Dialektik hat hier nichts mit Hegelscher Vermittlung zu tun, sondern meint nur den schroffen Gegensatz von Gott und Welt. Kein Wunder, dass Friedrich Schleiermacher (1768-1834) zur Zielscheibe der Kritik wurde. 1924 erschien Emil Brunners Abrechnung "Die Mystik und das Wort", in der die als mystisch denunzierte moderne Religion auf Schleiermachers Gefühlstheologie zurückgeführt wird. Glaube sei aber gar nicht Religion als mystisches Einswerden des Endlichen mit dem Unendlichen, sondern Gehorsam gegenüber der Autorität des in Christus offenbarten Wortes Gottes, damit aber Anerkennung der Schranke zwischen Gott und Mensch. Nicht nur ist Gott völlig transzendent, sondern seine Offenbarung entzieht sich auch jeder Vernunft. Sie ist absurd und paradox.

Allerdings zeichnen sich zwischen Barth und den übrigen Dialektikern schon früh Differenzen ab, die dann 1933 zum Bruch führen. Zwar kann auch Bultmann der liberalen Theologie vorwerfen, dass sie nicht von Gott, sondern vom Menschen geredet habe. Aber die Rede von Gott ist für ihn immer auch Rede von der Bestimmung der menschlichen Existenz durch Gott, davon, dass Gott den Menschen rechtfertigt und ihm eine neue Existenz verleiht. Daher wundert es nicht, dass der Neutestamentler Bultmann die existenziale Analyse seines Marburger Philosophiekollegen Martin Heidegger übernehmen und seiner eigenen Beschreibung des menschlichen Daseins zugrundelegen konnte. Der Glaube ist auch für ihn Gehorsam gegenüber Gottes Offenbarung, die dem Menschen im Wort der Verkündigung, im neutestamentlichen Kerygma, begegnet und ihn vor die Entscheidung stellt, sich selbst als gläubiges Dasein zu ergreifen und so zu seiner Eigentlichkeit zu gelangen.

Was für Bultmann Heideggers Existenzanalytik war, war für Gogarten und Brunner der "Dialogische Personalismus" der Zwanzigerjahre, wie er von Franz Rosenzweig (deutsch-jüdischer Historiker und Philosoph), Martin Buber (österreichisch-israelischer Religionsphilosoph) und Ferdinand Ebner (Philosoph) repräsentiert wurde. Wie die Existenzphilosophie war auch er ein Protest gegen den Idealismus und Neukantianismus des 19. Jahrhunderts. Da wurde ein neues Sprachdenken proklamiert, das nicht die konstruktive Erkenntnistätigkeit des autonomen Subjekts für grundlegend hielt, sondern das Angesprochenwerden des Ichs durch das Du. Der moderne Mensch - so hieß es dann bei Gogarten - finde aus seiner sündhaften Ichbezogenheit nur heraus, wenn er auf ein Du stoße, das ihm als absolute Autorität gegenübertrete. Das aber sei das Du Gottes, das einen im Wort anspreche, das alte Ich töte und das neue Ich konstituiere.

Die autoritäre Schlagseite dieser theologischen Adaption des Dialogischen Personalismus wurde vollends deutlich, als Gogarten 1932 in seiner "Politischen Ethik" den auf das göttliche Du angewiesenen Menschen statt als autonomes, als höriges Wesen bestimmte. Die Sittlichkeit war für ihn nicht länger Ausdruck menschlicher Autonomie, sondern die lebendige Sitte des Volkes, der mit dem lutherischen Gesetz identifizierte Volksnomos, dem man in Hörigkeit verbunden sei, da uns in ihm das Du des Schöpfers begegne. Es ist dieser Volksnomos, dem Gogarten zufolge durch die nationalsozialistische Revolution wieder Geltung verschafft wurde.

Ohne als Schweizer Gogartens politische Option zu teilen, griff auch Brunner auf den Dialogischen Personalismus zurück. Denn er meinte, dass die Offenbarung Gottes die Ansprechbarkeit des Menschen durch das Du Gottes voraussetze. Sie sei der Anknüpfungspunkt der Offenbarung, auch wenn diese einen radikalen Widerspruch gegen den natürlichen Menschen bedeute. Barth sah darin wie auch in Gogartens Anlehnung an den Dialogischen Personalismus und in Bultmanns Rezeption der Existenzanalytik, also in der Verbindung von Theologie und Anthropologie, nur eine Wiederkehr der von ihm attackierten natürlichen Theologie und des neuprotestantischen Menschengottes. So nahm er 1933 "Abschied von 'Zwischen den Zeiten'" und schleuderte Brunner ein Jahr später sein zorniges "Nein!" entgegen.

Mit allen Resten natürlicher Theologie, die auch seinen eigenen frühen Publikationen noch anhafteten, hatte Barth inzwischen gründlich aufgeräumt und eine Offenbarungstheologie ausgearbeitet, die bei der Selbstoffenbarung des unerforschlichen dreieinigen Gottes einsetzte. Nach mehreren Entwürfen nimmt dieses Programm, das Barth ausgerechnet bei Anselm von Canterbury vorgebildet sieht, 1932 seine endgültige Gestalt in der "Kirchlichen Dogmatik" an. Die Dogmatik wird hier als Funktion der Kirche ausgegeben, die sich zum dreieinigen Gott bekennt, und sie ist selbst ein Akt des Glaubens, der Glaube gefasst als Gehorsam gegenüber der Selbstoffenbarung Gottes, die keinerlei Anknüpfungspunkt auf Seiten des Menschen voraussetzt.

Barths Absage

Der Offenbarungsbegriff wird dabei radikal eingeschränkt, da es nur die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus gibt, der somit das eine Wort Gottes ist. In ihm offenbart sich Gott als Vater, Sohn und Geist, also als der Dreieinige, weil er in sich selbst dreieinig ist. Dass er sich offenbart, ist ein völlig kontingenter Akt der freien Gnade Gottes, der somit auch ohne die Welt Gott wäre. Die Trinitätslehre wurde damit für Barth zum Ausdruck der unaufhebbaren Subjektivität Gottes als des Ganz Anderen. Mit dem Ansatz der Dogmatik bei der Selbstoffenbarung des trinitarischen Gottes wurde nicht nur jeder Spielart natürlicher Theologie eine Absage erteilt, sondern der gesamten protestantischen Theologie der Neuzeit, die Barth als anthropozentrisch verurteilte.

Schon früh wandten sich führende Vertreter des theologischen Liberalismus gegen die Dialektische Theologie. Ernst Troeltsch sah in Gogarten den Repräsentanten eines Antiintellektualismus auf religiösem Gebiet, und Adolf von Harnack betrachtete die Dialektische Theologie als Moment einer internationalen romantischen Welle, die statt Wissenschaft Leben und Intuition statt Ratio verlange. Doch diesen Stimmen standen andere aus den Lagern der Bibeltheologie, des nationalen Jungluthertums und des religiösen Sozialismus gegenüber, die die Kritik der Dialektiker an der liberalen Theologie und am Idealismus des 19. Jahrhundert durchaus teilten.

Der Bibeltheologe Wilhelm Lütgert konnte die Religion des deutschen Idealismus als etwas attackieren, das zwangsläufig zu Atheismus, Materialismus, Pessimismus und Sozialismus geführt habe und vom Christentum der Reformation denkbar weit entfernt gewesen sei.

Was die Rückbesinnung auf das reformatorische Erbe betrifft, so lieferte Karl Holl mit seinen Arbeiten zum jungen Luther die Grundlage für die Lutherrenaissance der Nachkriegszeit. Sowohl Paul Althaus wie auch Emanuel Hirsch waren in ihrem Lutherverständnis dem Berliner Kirchenhistoriker verpflichtet, insofern sie den im Rechtfertigungsglauben begründeten Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit betonten. Indem sie, beide an Deutschlands Schicksal leidend, in der Krise der Nachkriegszeit eine enge Bindung der Sittlichkeit an die deutsche Volksgemeinschaft forderten, wurden sie zu Protagonisten eines nationalen Jungluthertums.

Althaus konnte schon 1919 das Volkstum als göttliche Schöpfungsordnung dem Individuum als etwas vorordnen, in das Gott den Einzelnen hinein erschafft. Am Volkstum konkretisierte sich für ihn das Verhältnis Gottes zur Geschichte, wobei er jede Form von idealistischer Geschichtsphilosophie ablehnte. Gott bezeugt sich aber Althaus zufolge nicht nur im Volkstum, sondern auch in anderen Schöpfungsordnungen, so dass es so etwas wie eine allgemeine Uroffenbarung gibt, eine Auffassung, die übrigens auch Brunner gegen Barth vertrat. Wie Althaus griff auch Hirsch auf den Dialogischen Personalismus zurück, der so etwa wie die Standardphilosophie der Theologie der Zwanzigerjahre wurde, zum Teil vertieft durch Kierkegaard, Martin Heidegger oder Karl Jaspers. An die Stelle der idealistischen Einheit Gottes mit dem Menschen im Geist trat bei Hirsch die Vorstellung, dass Gott das Du ist, das uns zum Ich macht. Er redet uns an im Gewissen, das sich vor Gott verantwortlich weiß. Und aus dem Gewissen wird der Glaube als unbegreifliches Innewerden des göttlichen Du geboren, das das Geschöpf nicht anders zu sich erheben kann als durch das Zerbrechen des selbstsüchtigen Menschen. Das war für Hirsch der Kern der theistischen Gewissensreligion Luthers.

Auch der mit Hirsch befreundete Paul Tillich, der als religiöser Sozialist im Kairos der revolutionären Nachkriegszeit für eine Synthese von Christentum und Sozialismus eintrat, berührte sich mit der Dialektischen Theologie in der Kritik an der autonomen Geisteshaltung des 19. Jahrhunderts. Zudem stimmte er mit der theologischen Religionskritik der Dialektiker zwar insofern überein, als er gleichfalls nicht von der Religion ausging, sondern von Gott als dem Unbedingten. Aber die Religion wurde von ihm nicht preisgegeben, sondern zur Kultur in Beziehung gesetzt. Sie ist keine eigene Geistesfunktion neben anderen, sondern in allen bedingten Kulturfunktionen die Erfahrung des Unbedingten. Während die Erhebung eines Bedingten zum Unbedingten das Dämonische ausmacht, bedeutet "Theonomie" den Bezug aller bedingten kulturellen Formen auf den unbedingten Gehalt und Offenbarung, den Einbruch des Unbedingten in das Bedingte.

Tillichs Theologie ist daher Kulturtheologie. Während das nationale Jungluthertum sich für den völkischen Staat stark machte, votierte Tillich, in der Ablehnung der Weimarer Republik mit ihm durchaus einig, noch 1933 in seiner Schrift "Die sozialistische Entscheidung" für einen Sozialismus, der die neuzeitliche Autonomie zur Theonomie religiös vertiefte. Das Plädoyer für den religiösen Sozialismus bedeutete zugleich eine Absage an die politische Romantik, die eine rationale Rückkehr zu den irrationalen Ursprungsbindungen, zu Blut und Boden, herbeiführen wollte. Für Tillich war sie nichts anderes als ein Verrat am prophetischen Charakter des protestantischen Prinzips.

Althaus, Hirsch und Gogarten, die die nationalsozialistische Machtergreifung emphatisch begrüßten, waren für den zur Emigration gezwungenen Tillich Vertreter der politischen Romantik. Aber Tillich sah zugleich die Gefahren, die mit der Opposition der Bekennenden Kirche gegen die Gleichschaltungspolitik des neuen Regimes verbunden waren. Denn die "Barmer Theologische Erklärung" von 1934 schrieb in ihrer ersten These nicht nur Barths Lehre von der Exklusivität der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus fest, sondern, da sie die Geschichte des Protestantismus seit der Reformation als einen Verfallsprozess deutete, der im Irrtum der Deutschen Christen kulminierte, verurteilte sie auch die gesamte protestantische Theologie der Neuzeit und bereitete so einem neoorthodoxen Dogmatismus den Boden, der bis in die Gegenwart reicht.

Jan Rohls

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