Der Bürger als Werbefläche

Der öffentliche Raum wird verhökert. Der private auch
Es scheint, dass in deutschen Städten mittlerweile jede Straßenecke, jede Fassade, jeder freie Platz an Werbeagenturen verhökert wird.

Fernando Rossi lebt in einer lichtdurchfluteten Berliner Altbauwohnung. Doch von einem Tag auf den anderen fand er sich unvermittelt in einem abgedunkelten Raum wieder - der Hauseigentümer hatte im Zuge von Renovierungsarbeiten die gesamte Fassade mit einem riesigen Plakat eines bekannten Softdrink-Herstellers verhängt. "Wir hatten hier 40 Prozent weniger Licht und fühlten uns wie in einer orangenen Box", erzählt der junge Mann, "als wären wir in dieser Wohnung eingeschlossen - da konnte man eine Klaustrophobie entwickeln." Es kam noch schlimmer. Während die Wohnung tagsüber dunkel blieb, strahlten nachts Scheinwerfer hinein. Denn der Getränkekonzern sorgte dafür, dass seine Werbebotschaft - ironischerweise mit dem Slogan "Tut mir nicht leid" - auch nach Sonnenuntergang ins rechte Licht gerückt wurde. Rossi fand kaum noch Schlaf; sein natürlicher Tag-Nacht-Rhythmus geriet in seinen privatesten Räumen völlig aus dem Gleich-gewicht.

Rechtlich hatte er keine Chance. Ein Vermieter darf die Baugerüste gegen Geld hinter großflächiger Werbung verstecken. Eine lukrative Einnahmequelle, gerade in einer Stadt wie Berlin, in der an jeder Straßenecke saniert und modernisiert wird. Die Hyperposter dürfen bis zu sechs Monate lang hängen bleiben. Düstere Aussichten für betroffene Mieter.

Es scheint, dass in deutschen Städten mittlerweile jede Straßenecke, jede Fassade, jeder freie Platz an Werbeagenturen verhökert wird. Ob Spaziergänger oder Autofahrer: Sobald man sich durch die Stadt bewegt, wird man als Konsument angesprochen - ohne jede Ausweichmöglichkeit.

Es geht dabei nicht nur darum, ob man den Werbeschriftzug für ein Präparat gegen juckende Hämorrhoiden schon so kurz nach dem Frühstück verkraftet oder ob man im kalten Winter an einer Bushaltestelle den Fotos spärlich bekleideter Unterwäschemodels ausgesetzt sein will und sich zum hundertsten Mal fragt, wie lange das zugrundeliegende Frauenbild eigentlich noch die öffentlichen Bilder dominieren wird.

Wenn Bewohner einer Stadt aus den Fenstern ihrer öffentlichen Verkehrsmittel kaum noch einen Blick nach draußen erhaschen können, weil sie mit Werbefolie verklebt sind, wenn jeder Schnappschuss mit dem Fotoapparat unfreiwillig zur privat verbreiteten Kampagne wird, - dann wird der Bürger ungefragt zum Dauerwerbeträger.

Fernando Rossi wollte sich nicht damit abfinden, dass die koffeinhaltige Limonade ungefragt einen derartigen Einfluss auf sein Leben nahm. Er protestierte auf seine Art: Per Twitter, Facebook, einem eigenem Blog und per Online-Petition auf www.change.org.

Er hatte Erfolg: Innerhalb weniger Stunden fand er im In- und Ausland Unterstützer - und die Firma, die einen Image-Schaden fürchtete, schickte PR-Manager vorbei. Sie entschuldigten sich persönlich bei ihm und ließen den Werbeslogan mit einem neuen Schriftzug überkleben, so dass dort nun stand: "Tut uns leid". Innerhalb von drei weiteren Tagen wurde das Plakat schließlich abgehängt.

In der Heimatstadt von Fernando Rossi, in São Paulo in Brasilien, hat man vor einigen Jahren übrigens eine ganz andere Lösung für derartige Probleme gefunden: Seit 2010 ist Werbung komplett aus dem öffentlichen Raum verbannt. "Clean City Law" nannte die Politik das Gesetz, welches das Aussehen der Stadt seitdem völlig verändert hat. Den Bürgerinnen und Bürgern von São Paulo gefällt's. Und: Sie erzählen sich oftmals überrascht, was sie in ihren Straßen und an den freigewordenen Fassaden ihrer Häuser neu entdecken konnten - weil es bisher unsichtbar war. Und: berichten von der wohltuenden "optischen Stille", die sich plötzlich um sie herum breit macht.

Natascha Gillenberg

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Foto: privat

Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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