Suche nach Identität

Zu Besuch bei einer jüdisch-messianischen Gemeinde
Der Gottesdienst beginnt. Foto: Natascha Gillenberg
Der Gottesdienst beginnt. Foto: Natascha Gillenberg
Die Gruppe der Messianischen Juden ist in Deutschland, aber auch in Israel und den USA, umstritten. Sie verstehen sich selbst als Juden - nur eben als solche, die an Jesus als den Messias glauben. Ein Besuch in der einer jüdisch-messianischen Gemeinde in Berlin.

Ein heller Sechzigerjahrebau, etwas abseits gelegen in einem Hinterhof im südlichen Berlin: Die Menora auf der Hauswand führt den Besucher in einen schlichten Saal mit großen Fenstern. Es ist Samstagvormittag und die Gemeinde "Beit Sar Shalom" wird heute ihren Schabbat-Gottesdienst feiern.

Die Stuhlreihen sind fast bis auf den letzten Platz besetzt. Etwa achtzig Menschen sind gekommen, viele von ihnen tragen als Kopfbedeckung eine Kippa. Die meisten der Besucher sind älteren Jahrgangs, aber es gibt auch viele junge Ehepaare mit Kindern, und auch eine Reihe von Jugendlichen hat sich eingefunden. Fremd oder unbemerkt bleibt man hier nicht lange - die meisten begrüßen sich mit einem Händedruck oder einer herzlichen Umarmung; das weiche Russisch der Einwanderer aus den GUS-Staaten mischt sich ganz selbstverständlich mit der deutschen Sprache.

Deutsch, russisch, hebräisch

Der Gottesdienst beginnt mit dem Sch'ma Jisrael. Mit dem Rücken zur Gemeinde steht der Vorbeter an seinem Pult, eingehüllt in seinen Tallit, den weißen Gebetsumhang mit den langen Wollfransen. Ein Beamer wirft den hebräischen Text und seine Transkription sowie die deutsche und russische Übersetzung an die Wand - so kann jeder mitbeten, selbst wenn die Liturgie nicht sehr vertraut sein sollte.

Irgendwann wird der Toraschrank geöffnet, die in dunkelblauen Samt eingeschlagene Schrift herausgenommen und feierlich und unter lautem Singen durch die Reihen getragen. Die Umstehenden strecken die Hände nach der Heiligen Schrift aus, berühren sie mit ihren Taschentüchern oder dem Saum ihres Tallits, den sie dann mit ihren Lippen berühren.

Schließlich treten drei Männer vor, um laut aus der Tora vorzulesen, genauer: aus dem Buch Esther. Denn heute ist Purim - der Feiertag, an dem die Juden der drohenden Vernichtung und Errettung ihres Volkes in der persischen Diaspora gedenken. Für Außenstehende wirkt das alles auf den ersten Blick sehr jüdisch. Auffällig ist nur, dass hin und wieder der Name "Jeschua" fällt: "Jeschua HaMaschia": Jesus, der Messias. An anderen Tagen wird hier auch oft aus dem Neuen Testament gelesen; im Regal am Eingang findet man die entsprechenden Texte in hebräischer Schrift. Und auf dem Tisch an der Seite liegen Werbezettel und Aufkleber parat: "Jeschua. Jesus. Jude, der ihnen helfen kann." Denn die Menschen, die sich hier zum Gottesdienst versammeln, sind ihrem Selbstverständnis nach zwar Juden - aber eben solche, die an Christus glauben.

Foto: Natascha Gillenberg
Foto: Natascha Gillenberg

Die Tora-Rolle wird durch die Reihen getragen.

Als so genannte messianische Juden gehören sie damit einer seit Jahren in Deutschland, aber auch den USA und Israel höchst umstrittenen religiösen Gruppierung an. Denn Juden selbst betrachten sie nicht als Juden, sondern als Christen, die sich bloß jüdisch geben. Für sie ist ihre Existenz ein Widerspruch in sich - in ihren Augen kann ein Jude nicht mehr Jude sein, wenn er glaubt, Jesus sei der von Israel erwartete Messias.

Schon gar nicht sind alle Mitglieder der jüdisch-messianischen Gemeinden - in Deutschland schätzt man ihre Zahl auf etwa viertausend, weltweit auf mehr als dreihunderttausend - Juden nach der Definition der Halacha: Sie sind also nicht immer Söhne und Töchter jüdischer Mütter oder nach strengen Regeln und einer längeren Zeit der Prüfung konvertiert.

Dennoch: Die meisten von denen, die man in dieser Berliner Gemeinde und auch anderswo trifft, sind zumindest mit einem jüdischen Vater aufgewachsen oder berichten von einem jüdischen Großvater. Das "Kontingentsflüchtlingsgesetz", das zwischen 1991 und 2004 den Zuzug von Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion regelte, erkannte sie ebenfalls als Juden an.

Bittere Erfahrungen

Auch in den Augen ihrer vormals sowjetischen Heimatländer galten sie als Juden - eingetragen als zusätzliche Nationalität in Klassenlisten und Personalausweisen, wie so mancher hier aus eigener, bitterer Erfahrung berichten kann. Nicht zuletzt die Menschen in ihrer Umgebung machten ihnen klar: Sie waren Juden. Geschichten von alltäglicher Ausgrenzung, von Verachtung, von beruflicher Diskriminierung oder der Androhung von Gewalt kann man hier von denen hören, die aus einem der GUS-Staaten eingewandert sind. Ihre Umwelt machte ihren alltäglichen Antisemitismus nicht abhängig von halachischen Definitionen. So haben sie sich als Juden erfahren, ohne immer jüdisch leben zu können.

Paradoxerweise klingt es so, als sei es für viele von ihnen ausgerechnet der Weg über das Christentum, der ihnen einen Zugang zum Judentum verschafft hat. Sie erzählen von existenziellen wirtschaftlichen und privaten Krisen, in denen ihnen unbekannte Gemeindemitglieder ganz selbstverständlich geholfen haben. Von Besuchen in deutschen jüdischen Synagogen, in denen sie sich fremd und unerwünscht fühlten. Es sind Geschichten davon, wie sie mit anderen begannen, jüdische Feste zu feiern, wie sie die Gebete kennenlernten oder jüdische Küche. Und man ihnen sagte, Jesus - Jude wie sie - habe ihre Sünden vergeben.

Foto: Natascha Gillenberg
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Lesung aus der Tora.

Foto: Natascha Gillenberg
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Wladimir Pikman ist Gründer der Beit-Sar-Shalom-Gemeinde.

Es sind Geschichten der Sehnsucht. Nach Identität, nach Zugehörigkeit, nach Religiosität.

Zu diesen Menschen stoßen in der Berliner Gemeinde auch regelmäßig Christen ohne jüdische Wurzeln. Sie kommen vor allem aus dem evangelikalen oder charismatischen Spektrum: Baptisten zum Beispiel, aber auch Adventisten und Neuapostolen. Sie scheinen auf so etwas wie einer Suche nach Identität, sprechen davon, wie sie in der Bibel lesen und sich dann beispielsweise fragen, warum sie nicht am Samstag Gottesdienst feiern, obwohl es in der Heiligen Schrift doch so steht.

Es treibt sie der Wunsch, etwas zu finden, das ihrer Vorstellung einer urchristlichen Gemeinde entspricht - der Gemeinschaft aus Judenchristen und Heidenchristen, in der der gemeinsame Glaube trotz unterschiedlicher religiöser Pflichten möglich ist. Und hier in Berlin-Lichterfelde übersetzt in modernere Zeiten.

Charismatisch anmutend

Ein Ehepaar: Sie als Jüdin isst selbstverständlich koscher - und er aus Rücksicht auf sie ebenfalls, obwohl er es nicht muss. Da ist die Taufe, die erst im jugendlichen Alter in einer Mikwe durchgeführt wird. Das Abendmahl, das einmal im Jahr gefeiert wird und zwar integriert in die Pessachfeier.

Dazu gehört, dass auch eher charismatisch anmutende Traditionen ihren Platz im Gottesdienst finden. Und der dauert vielleicht auch seine drei Stunden, damit man all dem gerecht werden kann.

So beginnt Teil Zwei des Gottesdienstes mit gedimmtem Licht und in einer anderen Tonart. Der Kantor wechselt an die andere Seite des Raumes zu den Sängerinnen hinter dem Keyboard und hängt sich eine E-Gitarre um. Dann geht es los mit Anbetung und Lobpreis - gefühlvoll, in eingängigen Pop-Melodien; es wird im Takt geklatscht, viele schließen die Augen, andere erheben ihre Arme im Gebet. Rund eine Stunde geht das so, entspannt, fröhlich, innig: "Praise and Worship".

Auch in Gesprächen im Anschluss an den Gottesdienst wird deutlich, wie stark pietistisch geprägt der jüdisch-christliche Glaube der Gemeindemitglieder ist: Mit der individuellen Bibellektüre, dem intensiven Gemeindeleben, der Betonung der eigenen Sündhaftigkeit, aus der die Begegnung mit Jesus rettet, der Erzählung persönlicher Glaubens- und Bekehrungsgeschichten. Das kennt man so im Judentum nicht.

Foto: Natascha Gillenberg
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Das Purimsfest wird nach dem Gottesdienst ausgelassen gefeiert.

Foto: Natascha Gillenberg
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Hier wird in witziger Weise die Geschichte von Esther und Mordechai aufgeführt.

Es ist aber die Frage nach dem Einfluss vor allem evangelikaler und charismatischer Christen, die die Existenz messianischer Juden so brisant macht. Immer wieder stößt man auf Misstrauen: Wer ist die eigentlich treibende Kraft hinter den jüdisch-messianischen Gemeindegründungen, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren in den USA ihre Verbreitung fanden und schließlich in den Neunzigerjahren in den GUS-Staaten und in Deutschland?

Die Beit-Sar-Shalom-Gemeinde in Berlin wurde 1995 gegründet, von Wladimir Pikman. Ein enthusiastischer Mann Anfang vierzig, Lockenkopf und Vollbart, lebhafte Augen in einem erschöpftem Gesicht. Er selbst wuchs auf als Sohn einer liberalen jüdischen Familie in Kiew. "Liberal jüdisch", das heißt für ihn so viel wie: "nicht gläubig, sondern atheistisch". Ihn trieb die religiöse Sehnsucht; er liebäugelte eine Zeitlang mit dem Zionismus und ging nach Israel.

Er kam dann aber wieder zurück in die Ukraine - und erfuhr dort, dass sein bester Freund Mitglied der neuen jüdisch-messianischen Gemeinde in Kiew geworden war. Es folgten lange leidenschaftliche Diskussionen. Am Ende wurde auch Pikman Christ, übernahm in der Gemeinde bald Leitungsfunktionen und begann eine theologische Ausbildung. Als "messianischer Rabbiner" kam er schließlich nach Deutschland und ist, nach einem Studium am Dallas Theological Seminary, landesweit für Gemeindegründungen des Beit-Sar-Shalom-Evangeliumsdienstes e.V. tätig.

Beziehungen zur Evangelischen Allianz

Tatsache ist: Gemeindegründungen wie diese in Berlin-Lichtenberg werden finanziell und ideell ermöglicht durch das amerikanische Missionswerk "Chosen People Ministries", das sich der Missionierung von Juden verschrieben hat. Und hier gab es zudem Unterstützung durch die Eben-Ezer-Gemeinschaft und die baptistische Gemeinde. Überhaupt sind in Deutschland die Beziehungen zwischen der Evangelischen Allianz und den jüdisch-messianischen Gemeinden eng. Ohne diese Gruppen gäbe es die jüdisch-messianischen Gemeinden wohl nicht.

Für viele evangelikale und charismatische Christen innerhalb wie außerhalb der Landeskirchen spielt die Judenmission eine wichtige Rolle - die römisch-katholische Kirche und die EKD dagegen lehnen heute zumindest die aktive, organisierte Judenmission ab: Gott habe das jüdische Volk auserwählt und in seinen Heilsplan aufgenommen - auch ohne den Glauben an Christus.

Pikman dagegen macht keinen Unterschied zwischen der Missionierung von Juden und der anderer Menschen: "Wenn ich jemanden treffe und die Gelegenheit habe, ihm von Jesus zu erzählen - soll ich ihn zuerst fragen, ob er Jude ist? Und dann entscheiden?" Er sieht darin eine Diskriminierung von Juden - offensichtlich aber nicht einen heilsgeschichtlich anderen Status.

Foto: Natascha Gillenberg
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Siebenarmiger Leuchter.

Foto: Natascha Gillenberg
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Werbe- und Informationsmaterial.

Von deutschen Rabbinern ist die Judenmission wiederholt als "Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln" bezeichnet worden. Nachdem jüdisches Leben durch den Nationalsozialismus fast völlig vernichtet worden ist und sich in Deutschland erst langsam und mühevoll wieder herausbilden musste, trifft die gezielte "Abwerbung" vor allem jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion tief. Die jüdische Gemeinde wirft den Missionaren vor, es vor allem auf Menschen abgesehen zu haben, die sich in Lebenskrisen befinden und in ihrer eigenen jüdischen Traditionen nicht gefestigt sind.

Gleichzeitig muss man feststellen: Anders als beispielsweise die "Bekehrung" der Juden durch die Erweckungsbewegungen im 19. Jahrhundert erfordert ihr Christwerden keine Assimilation, kein Aufgehen mehr in einer christlichen Mehrheitskirche. Messianische Juden glauben an Christus, bilden aber ihre eigenen Gemeinschaften und betonen ihre jüdische Identität, so, wie sie sie verstehen.

Nur Affen ohne Schwanz?

Auch für Pikman war es undenkbar, mit dem christlichen Glauben sein Jüdischsein aufzugeben. Man kann schlechter Jude sein, sagt er, sogar ein abtrünniger Jude - aber man kann nicht aufhören, Jude zu sein. Er habe höchstens die Wahl gehabt, zu entscheiden, ob er sich von seinem Volk abwende oder nicht. Die Missionierung unter Juden sieht er als seinen Weg, seinem Volk treu zu bleiben. "Jesus ist der König der Juden - er ist zu ihnen gekommen, er hat in ihrer Sprache und in ihrem Kontext gepredigt. Wenn jemand zuallererst an Jesus glauben sollte, dann sie." Dass die jüdischen Gemeinde darauf nicht gut zu sprechen ist, kann er nachvollziehen: Im letzten Teil des Gottesdienstes predigt Pikman zum Purimfest - lange und frei und auf Russisch, nur hin und wieder greift er freundlich der jungen Übersetzerin vor, wenn diese nicht flott genug die deutschen Formulierungen für seine schnellen Gedankengänge parat hat.

Er spricht von Hitler und vom Holocaust, der Vernichtung der Juden, aber auch die der Sinti und Roma, der Behinderten. Davon, dass die Nationalsozialisten die Evangelisierung der Juden verboten hätten, weil sie nicht wollten, dass ein Jude auch Christ sein könne. Er spricht von der Evolutionstheorie und dem Atheismus Darwins, sieht in ihm die Grundlage für rassistische Überzeugungen, nach denen nur dem Stärkeren ein Lebensrecht zugesprochen werde. Wenn wir nicht von Gott geschaffen seien, "wenn wir alle nur Affen ohne Schwanz sind, die von den Bäumen heruntergekommen sind" - welchen Grund sollten wir haben, dem Schwächeren zu helfen?

Die Bedrohung als Mensch, die Bedrohung als Juden: Sie besteht für Pikman nicht in der die "Bekehrung" zum christlichen Glauben - sondern im Atheismus.

So klingt wohl eine messianisch-jüdische Predigt mit amerikanisch-evangelikalen Einflüssen.

Text und Fotos: Natascha Gillenberg

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Foto: privat

Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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