Nicht wegducken

Glaube ist keine peinliche Privatangelegenheit
Wie kann es gelingen, dass kirchlicher Protest gegen ungerechte Verhältnisse als unmittelbarer Ausdruck unseres persönlichen Glaubens erkennbar wird? Solange das eine als wohlfeiles Mitschwimmen im Mainstream ankommt und das andere als peinlich frömmelnde Privatangelegenheit, ist etwas grundlegend falsch.

"Wenn ich mein Unbehagen an der evangelischen Kirche in einem Wort zusammenfassen müsste, dann ist es ihre Leisetreterei... als schäme sie sich für das, was man ihr Innerstes nennen könnte, wie für eine unansehnliche und sozial inakzeptable alte Tante", so die Journalistin Friederike Gräff kürzlich in der Wochenzeitung "Christ und Welt" (09/2014). Es ging ihr spürbar nicht um billige Kirchenschelte. Im Gegenteil: "Ich wünschte mir", schreibt sie, "ich hätte in meiner Kirche ein Gegenüber. Eines, das sich nicht wegduckt, eines, das man respektieren kann."

Sich wegzuducken kann man dem segnenden Riesen in Rio de Janeiro nicht vorwerfen. Die gigantische Christus-Statue, dreißig Meter hoch und aus Stahlbeton, ist weltweit bekannt als Wahrzeichen der brasilianischen Hauptstadt. Christo Redentor - Christus, der Erlöser: Weithin sichtbar breitet er auf dem Berg Corcovado seine segnenden Hände über der Stadt aus. Wofür steht diese große Segensgebärde? Für einen Glauben, der wache Sinne hat für die krassen Unterschiede in einer Gesellschaft? Für eine Kirche, die an der Seite Christi Partei ergreift und ihren Mund auftut für die Stummen?

Oder erscheint dieser Christus als einer, der erhaben über einer zerklüfteten Gesellschaft thront, alle umarmt und alles absegnet?

"Der Riese ist aufgewacht!", mit diesem Protestruf demonstrierten letztes Jahr im Sommer die Brasilianer gegen die Situation in ihrem Land. Und meinten mit dem Riesen nicht den segnenden Christus aus Beton, sondern das brasilianische Volk. Dort gären Protest und Wut. Die große Mehrheit ist noch immer arm. Sie will keine gigantischen Glitzerbauten für WM und Olympia. Brasilien braucht Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen und intakte Verkehrsmittel. "Der Riese ist aufgewacht!"; ob die Brasilianer die kommende WM nutzen, um diesen Ruf in die Welt zu tragen?

Die segnende Christusstatue wird an ihrem Ort bleiben. Mit riesiger Figur und mehrdeutiger Botschaft. Auch ein äußerlich beeindruckendes Monument kann leisetreten und in Wirklichkeit dem Wegducken des Glaubens dienen. Mir gibt das zu denken. Zuallererst im Blick auf meine eigene Kirche. Im Blick auf meinen Glauben.

Wie klar benenne ich, was mich selber trägt? Spüren mir andere ab, dass ich aus dem Glauben lebe und daraus Hoffnung gewinne?

"So wie es außerhalb der Kirche sonderbar geworden ist, über Glaubensdinge zu sprechen ... -, so ist es inzwischen auch innerhalb der Kirche unüblich", stellt Friederike Gräff fest. Das ist starker Tobak. Und in dieser Verallgemeinerung nicht zutreffend. Doch schon dass der Eindruck entsteht, macht mich unruhig.

Wie kann es gelingen, dass kirchlicher Protest gegen ungerechte Verhältnisse als unmittelbarer Ausdruck unseres persönlichen Glaubens erkennbar wird? Solange das eine als wohlfeiles Mitschwimmen im Mainstream ankommt und das andere als peinlich frömmelnde Privatangelegenheit, ist etwas grundlegend falsch. Da haben wir richtig was zu tun. In der Kirche und als Kirche.

Gott sei Dank sind wir dabei immer schon im Blick des segnend-wachen Christus.

Und ich meine jetzt nicht den Riesen über Rio ...

Annette Kurschus ist Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Mitherausgeberin von zeitzeichen.

Annette Kurschus

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