Was wäre wenn?

Die Ironie der Geschichte
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Franz Ferdinand war kein moderner Mensch, schon gar nicht einer mit Neigungen zur Demokratie, und er war alles andere als ein friedlicher oder schöngeistiger Charakter, im Grunde ein rechter Stinkstiefel.

Die Welle von Neuveröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg rauscht. Doch nicht alles ist wirklich neu: "Der Thronfolger" erschien erstmals 1937. Der Roman war schon damals unzeitgemäß; wer damals zurückschaute, tat es meist im Zorn und um Revanchegelüste zu nähren. Hitler war schon vier Jahre an der Macht, 1938 erfolgte der "Anschluss" Österreichs. Die Monarchie, der Mord von Sarajewo, die Julikrise: alles, als sei es gestern gewesen, aber doch wiederum weit dahinten, hinter dem Vorhang des bis dato schrecklichsten aller Kriege.

Der Autor des Romans, Ludwig Winder, 1889 geboren, war Feuilletonredakteur der deutschsprachigen Zeitung "Bohemia" in Prag - Tschechien, das alte Böhmen, war damals ein multikulturelles Land, Prag eine multikulturelle Stadt. Ludwig Winder war Jude; 1939 konnte er nach London emigrieren, er starb dort 1946. Seine Tochter und zwei Halbbrüder wurden von den Nationalsozialisten ermordet.

Ulrich Weinzierl, von dem das in-struktive Nachwort stammt, sieht Ludwig Winders Roman auf der gleichen Stufe wie Josef Roths "Radetzkymarsch", ohne die Unterschiede zu verkennen: "Was bei Roth in Poesie und Melancholie des verklärenden Abschiedslichtes getaucht ist, wirkt hier lakonischer (...), hart und prosaisch."

Winder nähert sich seinem Protagonisten nüchtern und doch mit Empathie. In letzterer liegt sein Talent - oder soll man schon sagen: sein Genie? -, nämlich in seiner Fähigkeit, sich in die Psyche seiner Gestalten hineinzuversetzen und das Ergebnis mit hoher Intensität aufs Papier zu bannen, kaum widerlegbar suggerierend, dass er der Wirklichkeit so nahe wie irgend möglich kommt - die Schilderung widerspricht so wenig der historischen Wahrscheinlichkeit, dass auch Historiker hier mehr zu lernen als zu loben oder zu mäkeln haben werden.

Dieser Thronfolger war einmal ein scheuer, übersensibler Junge, der von seiner lungenkranken Mutter, die mit 28 starb, ebenso umsorgt und bevorzugt wurde wie später von seiner Stiefmutter. Das aber half ihm nicht aus seiner Isolation heraus, immer hatte er, so Winders Deutung, seinen jüngeren Bruder, jemandem, dem das Leben leicht fiel, als störenden Vorwurf vor Augen, der ihn die eigene ungelenke Schüchternheit erst recht fühlen ließ. Letztere blieb ihm lange, und so beschränkten sich Franz Ferdinands erotische Kontakte zu Frauen vermutlich bis in seine Dreißigerjahre auf die zu Prostituierten. Dann aber verliebte er sich Knall auf Fall in eine nicht standesgemäße Gräfin: für ihn die maßgebliche Wende zum Besseren. Er, dessen Standesdünkel mindestens so ausgeprägt war wie der seines Onkels, des Kaisers, setzte die durch das Habsburger Hausgesetz ausgeschlossene Heirat mit Gräfin Sophie Chotek durch. Freilich durfte es nur eine Ehe zur linken Hand sein; zu den demütigenden Bedingungen zählte, dass, wo er in offizieller Funktion auftrat, seine Frau nicht an seiner Seite sein durfte, und dass seine Kinder vom Kaiserthron ausgeschlossen wurden. Zur Erinnerung: Franz Ferdinand war nur zum Thronfolger aufgerückt, weil der einzige Sohn von Franz Josef, Rudolf, sich selbst getötet hatte.

Franz Ferdinand lebte mit seiner Frau in großer Harmonie. Das machte ihn weder menschenfreundlicher noch liebenswerter, die Kunst der herzlichen Zuwendung war ihm nicht gegeben, Schroffheit wurde sein Markenzeichen. Seine Frau war die Einzige, die seine cholerischen Anfälle besänftigen konnte, seelischen Ausgleich fand er in seiner "Jagdleidenschaft" - fast schon so etwas wie eine an Tieren ausgelebte Mordlust: Über zweihunderttausend Tiere erlegte er laut seiner Buchführung.

Nein, Franz Ferdinand war kein moderner Mensch, schon gar nicht einer mit Neigungen zur Demokratie, und er war alles andere als ein friedlicher oder schöngeistiger Charakter, im Grunde ein rechter Stinkstiefel. Doch hatte er sich mit Zähigkeit gegen den Kaiser und seine Kamarilla Einfluss im Staate erkämpft - und fragt man nach seiner Rolle als Politiker, bietet sich eine Überraschung : Er wollte als einer der ganz wenigen k.u.k. Einflussreichen das Reich ernsthaft und sinnvoll reformieren. Er war gegen einen Krieg gegen Serbien, mit dem die Militärs liebäugelten, weil dieses seit langem eine Politik der Nadelstiche gegen Österreich-Ungarn führte. Franz Ferdinand zweifelte nicht daran, dass Russland im Kriegsfall an Serbiens Seite eingreifen würde, und er war überzeugt, dass "die Monarchie" dies nicht überstehen würde. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass sein eigener Tod den Anlass bot, die Richtigkeit seiner Einschätzung zu beweisen.

Hätte der Erste Weltkrieg vermieden werden können, wenn Franz Josef Jahre früher gestorben und Franz Ferdinand Kaiser geworden wäre? Das ist umstritten, alle "Was-wäre-wenn?"-Fragen sind nun einmal heillos interpretationsoffen. Müßig sind sie dennoch nicht, lebt doch von ihnen die Hoffnung, dass aus der Geschichte gelernt werden könnte.

Doch Ludwig Winder zeigt unerbittlich, welch ein Geflecht von Zufällen nötig war, um den Mord an Franz Ferdinand und seiner Gattin überhaupt geschehen zu lassen, und er verweigert sich jeder Spekulation: Er schwärmt nicht, er verurteilt nicht, er bietet - seltenes Phänomen - gute Literatur und gute Geschichtsschreibung in einem. Gerade damit öffnet er den Raum für Spekulationen aller Art, geschichtspessimistische, magische, strukturhistorische oder weltanschauliche - eben für die "Was-wäre-wenn?"-Frage, die gewissermaßen unvermeidlich laut wird, immer noch und gerade heute, nach hundert Jahren.

Ludwig Winder: Der Thronfolger. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014, 574 Seiten, Euro 26,-.

Helmut Kremers

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