Mäßigung der Lust auf Fleisch

Wieso die Massentierhaltung nicht zu rechtfertigen ist und was Jesus damit zu tun hat
Protest gegen Massentierhaltung: Aktion des Künstlers Wolfgang Flatz im Dezember 2013 in München. Foto: dpa/ Felix Hörhager
Protest gegen Massentierhaltung: Aktion des Künstlers Wolfgang Flatz im Dezember 2013 in München. Foto: dpa/ Felix Hörhager
Skandale prägen die öffentliche Wahrnehmung der Massentierhaltung von Nutztieren. Und immer wieder demonstrieren Tierschützer gegen diese unwürdige Praxis. Doch der Protest verebbt bis zum nächsten Lebensmittelskandal. Michael Rosenberger, Professor an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz, beleuchtet das Verhältnis von Mensch und Tier.

In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten hat sich in den westlichen Industrieländern ein sanfter, aber bemerkenswerter Wandel der Ernährungsgewohnheiten vollzogen: Während die große Mehrheit der Bevölkerung in enormen, aber nicht mehr steigenden Mengen Fleisch konsumiert (in Deutschland rund 90 Kilogramm pro Person und Jahr), verzichtet eine kleine, aber wachsende Minderheit völlig auf den Fleischkonsum - und zwar großenteils aus tierethischen Gründen. Das wird plausibel, wenn man an die Rücksichtslosigkeit denkt, die 95 Prozent der heutigen Nutztierhaltung prägt: Auf maximale Leistung (an gelegten Eiern, produzierter Milch, angesetztem Fleisch) hochgezüchtete Tiere werden in den engen Gefängnissen der Massentierhaltung gehalten, trotz aller gesetzlichen Verbote systematisch mit Antibiotika vollgestopft und mit importiertem Hochleistungsfutter, das auf fast 40 Prozent der weltweiten Agrarflächen angebaut wird, ungesund und unnatürlich ernährt. Nach einem kurzen Leben, das ihre Grundbedürfnisse nicht annähernd berücksichtigt, werden sie zumeist am Fließband geschlachtet. Entgegen anderslautenden Legenden ist das Fließband nämlich keine Erfindung der Automobilproduktion, sondern wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in den Schlachthöfen Chicagos entwickelt. Das Tier ist zum ersten Produktionsfaktor geworden, den man industriell optimiert und rationalisiert hat.

Angesichts solcher Entwicklungen muss man sich fragen: Mit welchem Recht tut der Mensch das den Tieren an - in einer Zeit höchsten menschlichen Wohlstands, in der genügend Alternativen vorhanden wären? Wie können wir zu einer Ernährungsweise finden, die den uns nährenden Tieren gerecht(er) wird?

In der aktuellen ethischen Debatte gibt es sehr unterschiedliche Begründungsmodelle für einen anderen, besseren Umgang mit Tieren. Inspiriert von biblischen Texten und in Übereinstimmung mit etlichen anderen theologischen Ethikern wie Hans Halter, Hans-Jürgen Münk, Alberto Bondolfi und Andrew Linzey vertrete ich einen Ansatz der Tier- und Schöpfungsgerechtigkeit. Dieses Konzept nimmt seinen Ansatzpunkt in der Erkenntnis, dass Tiere Geschöpfe mit einer ihnen eigenen, unveräußerlichen Würde sind: Philosophisch betrachtet sind Tiere eigenständige Wesen, die aus eigener Kraft danach streben, ihr Gut zu verwirklichen, nämlich die Entfaltung der in ihnen liegenden Möglichkeiten. Theologisch lassen sich drei Gründe für die Annahme ihrer geschöpflichen Würde anführen: Der unmittelbare Bezug Gottes zu allen Geschöpfen; die (mittelalterliche) Überzeugung, dass der Schöpfer seine Geschöpfe in eine Eigenständigkeit, eine Autonomie und Unabhängigkeit von ihm selbst setzt; und die Kernbotschaft des christlichen Glaubens, dass der Schöpfer in Jesus Christus selbst Geschöpf ("Fleisch") wurde und die Geschöpflichkeit als Moment seiner selbst angenommen hat.

Welche ethischen Konsequenzen ergeben sich aus der Grundannahme einer geschöpflichen Würde? Etwas, das Würde besitzt, hat Selbstzwecklichkeit. Es steht nicht beliebig zur Disposition, sondern ist zunächst und zuerst unverfügbar. Der Mensch hat ihm gegenüber direkte Pflichten. Individuen, denen wir Würde zusprechen, müssen gerecht behandelt werden. Ihre Güter und Bedürfnisse sind in jede Güterabwägung fair einzubringen. Genau das fordert die Bibel, indem sie die Tiere in den Schöpfungsbund Gottes mit Noah einschließt. Dieser Bund gilt nicht nur Noah und seinen Nachkommen, sondern allen Lebewesen der Erde (Genesis 9,9f; Hosea 2,20f). Gott, Mensch und Tier sind Bundesgenossinnen. Alle Beteiligten schulden den jeweils anderen gerechte Behandlung. Konsequenterweise wird das Tier in vielen Vorschriften der Tora ausdrücklich zum Adressaten gemacht, allen voran im Sabbatgebot, das auch die Ruhe der Nutztiere fordert. Insgesamt genießt das Tier in der Tora einen ähnlichen Rechtsschutz wie der rechtlich "schwach" gestellte Mensch, also wie Frauen und Kinder, Witwen und Waisen, Flüchtlingen und Sklaven.

Was bedeutet das für eine verantwortbare Haltung von Nutztieren zu Nahrungszwecken? Zunächst einmal gilt es, die breite Palette an Grundbedürfnissen wahrzunehmen, die Tiere haben. Der Veterinärmediziner Hans-Hinrich Sambraus nennt: Gesundheit: somatisch wie psychisch, Fress- und Trinkverhalten: Ort und Zeit, Futterqualität, Art und Weise der Nahrungsaufnahme, das Ausscheideverhalten: Ort, Zeit und Umstände, Körperpflegeverhalten, Ruheverhalten, Bewegungsverhalten, Wahrnehmungsverhalten: Betätigung der Sinnesorgane und der entsprechenden Gehirnareale. Ferner das Handlungsverhalten: aktive und kreative Gestaltung der eigenen Umwelt, Sozialverhalten und das Sexualverhalten.

Wenn es legitim ist, den Analogieschluss vom Menschen auf das Tier zu vollziehen, und genau das lehrt die klassische Analogielehre, wenn es also (bei allen je größeren Unähnlichkeiten) Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier, zwischen menschlichem und tierischem Verhalten und Erleben gibt, dann wird deutlich, wie komplex jedes einzelne Feld tierlicher Bedürfnisse aufgebaut ist, und wie vital das Verlangen des Tieres nach entsprechenden Möglichkeiten sein dürfte: Ein Schwein möchte von Natur aus nicht an dem Platz koten, an dem es frisst - wir zwingen es dazu durch die Enge des Stalles. Eine Kuh möchte nicht den ganzen Tag in der Gruppe sein, sondern sich auch einmal zurückziehen können - wir geben ihr dafür keinen Raum. Ein Huhn möchte im Boden scharren und Körner picken - wir beginnen erst langsam, unsere Haltungsbedingungen darauf einzustellen. Die derzeitige industrielle Tierhaltung der allermeisten Tiere wird den tierlichen Grundbedürfnissen nicht einmal im Ansatz gerecht.

Ökonomische Zwänge

Nun wird man einwenden, dass die ökonomischen Sachzwänge dagegenstehen und dass eine angemessene Tierhaltung nicht wirtschaftlich realisierbar ist. Grundsätzlich hat der Einwand berechtigte Anliegen: Gerechtigkeit heißt nicht, jedem alles zu geben, sondern jedem das Seine - im Rahmen des Möglichen. Aber gerade die wirtschaftlichen Möglichkeiten einer modernen Industriegesellschaft übertreffen diese aller vorangehenden Menschheitsgenerationen und der meisten heutigen Weltregionen. In Mitteleuropa geben wir nur noch zwischen 10 und 20 Prozent unserer durchschnittlichen Einkommen für die Ernährung aus. Das darf ruhig etwas mehr sein, wenn Tiergerechtigkeit erreicht werden soll.

Bisher hieß es: Welche Haltungsform wird den Tieren gerecht, deren Produkte wir essen und trinken? Die Frage, ob Tiere heute, da es Alternativen gäbe, überhaupt noch getötet werden dürfen, wird nicht gestellt. Bis vor 150 Jahren wären die meisten Menschen in diesen Breitengeraden verhungert, wenn sie auf den Verzehr von Fleisch verzichtet hätten. Im Winter gab es zu wenig pflanzliche Nahrung, weil die Konservierungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt waren. Aber heute? Theoretisch könnten alle in den Industrieländern ohne Fleisch gesund und satt leben. Ist das folglich ein ethisches Gebot?

Wie alle Tiere lebt der Mensch - ob Vegetarier, Veganer oder nicht - von der Tötung anderer Lebewesen. Daher kann man nur einen relativen Unterschied zwischen vegetarischer und nichtvegetarischer Ernährung machen. Will der Mensch leben, ist er gezwungen, Gewalt gegen andere Lebewesen anzuwenden. Er kann versuchen, mit einem Minimum solcher Gewalt auszukommen und diese ehrlich zu rechtfertigen. Er kann ihr aber nicht ausweichen. Aus diesem Grund entbehrt eine allgemeine Verpflichtung zu vegetarischem Leben jeder Grundlage.

Zu dieser tierethisch-individuellen Betrachtungsweise kommt eine ökologisch-ökonomisch-systemische. Sie sieht, dass der ökologische Landbau, der aus anderen Gründen höchst erstrebenswert ist, keinen Acker ohne den natürlichen Dünger aus dem Mist seines Viehs bewirtschaften kann. Sie sieht auch, dass weltweit viele Flächen nicht zum Lebensmittelanbau für den Menschen, wohl aber zum Futtermittelanbau für das Vieh geeignet sind - man denke an Almen und Flächen in Steillage, an Feuchtwiesen und andere nicht beackerbare Böden. Ließe man solche Flächen unbewirtschaftet, wäre ein erheblicher Verlust an Nahrungsmitteln für den menschlichen Verzehr die Folge, aber auch ein enormer Verlust an Biodiversität. Denn solche extensiv genutzten Flächen tragen in höchstem Maße zur Vielfalt von Arten und Biotopen bei. Natürlich könnte man versuchen, diese Flächen ausschließlich für Milchvieh zu nutzen. Dann aber hätte ausgerechnet das Schwein, der Allesfresser und Resteverwerter unter den Nutztieren, keinen Platz mehr in der Landwirtschaft.

Ein Verbot des Fleischverzehrs lässt sich also nicht hinreichend begründen. Jedoch ergeben sich aus dem Ansatz einer Tier- und Schöpfungsgerechtigkeit sehr wohl zwei zentrale Normen, die den Verzehr von Fleisch regulieren und begrenzen: Wo immer möglich, Fleisch aus artgerechter Tierhaltung zu kaufen, und die Menge des konsumierten Fleisches auf sehr niedrigem Niveau zu begrenzen. Diese beiden Forderungen sind eng miteinander verknüpft: Nur bei einer deutlichen Reduktion des Fleischverbrauchs in den Industrieländern kann artgerechte Tierhaltung den Bedarf an Fleisch decken.

Begründen lassen sich beide Normen mit Argumenten des Tierschutzes, der Gesundheit (zu viele tierischen Fette sind ungesund), der sozialen Gerechtigkeit im Blick auf die ärmeren Länder dieser Erde (fast die Hälfte aller Erträge an Getreide, Mais, Soja und Kartoffeln weltweit werden an Vieh verfüttert) und der ökologischen Verantwortung im Blick auf globale Nachhaltigkeit (Viehhaltung trägt global gesehen über 15 Prozent zum anthropogenen Treibhauseffekt bei. In vielen Ländern verursacht sie eine dramatische Bodenerosion und sorgt noch dazu für eine großflächige Rodung von Regenwäldern).

Dabei allein sollte man es gerade im christlichen Kontext aber nicht belassen. Religion lebt stark von Ritualen und Symbolen, und nicht wenige davon betreffen den Fleischverzehr. Noch vor wenigen Generationen war es zumindest im katholischen und im orthodoxen Christentum selbstverständlich, dass es Tage und Zeiten der Fleischabstinenz gab. Weil sie sehr autoritär von oben durchgesetzt wurden, sind sie in der Westkirche gleichzeitig mit dem Machtverlust der kirchlichen Hierarchie erodiert und werden heute kaum noch beachtet. Eine neue, freiwillige, aber gemeinsam gelebte Kultur fleischfreier Tage und Zeiten wäre aber dringend angeraten, da sie für eine Wertschätzung des Fleisches sorgen würde. Die Initiativen von "Veggie-Days", die derzeit aus den protestantisch geprägten Ländern Nord- und Westeuropas in den deutschsprachigen Raum gelangen, sind aus dieser Perspektive höchst wertvoll. Signifikant ist freilich, dass sie meistens nicht an dem klassischen christlichen fleischfreien Wochentag, dem Freitag, stattfinden, sondern am Montag (Großbritannien) oder Donnerstag (Skandinavien). Sie sind säkular konzipiert und böten doch gute Brücken zur christlichen Spiritualität.

Über das Symbol fleischfreier Zeiten hinaus gibt es im Christentum nahezu von Anfang an auch das Symbol von vegetarisch lebenden Gruppen. Ausgehend vom ägyptischen Mönchtum des 3. Jahrhunderts waren ursprünglich alle monastischen Orden auf die vegetarische Lebensweise verpflichtet. Mit ihrer Ausdehnung über den mediterranen Raum hinaus in die transalpinen Gebiete Europas war diese Regel aus klimatischen Gründen nicht mehr durchhaltbar. Und doch leben einzelne Ordensgemeinschaften bis heute strikt vegetarisch (die Kartäuser sogar an fünf Wochentagen vegan: Eier und Milchprodukte gibt es nur am Donnerstag und Sonntag). Hierfür sollte eine neue, ökumenisch verbindende Hochschätzung entstehen - seitens der Amtskirche wie seitens des Kirchenvolks. Es müssen ja nicht nur Mönche und Nonnen sein, die diese Lebensweise für sich wählen. Auch Getaufte können dieser Option folgen und ihren Mitglaubenden ein wirksames Zeichen geben.

In der west- wie ostkirchlichen Begründung vegetarischer Ernährung spielt das Motiv der Gewaltminimierung eine zentrale Rolle (Fleisch ist ein starkes Machtsymbol). Jesus selbst stellt dieses Motiv in der Bergpredigt als tragenden Baustein seiner Utopie des Zusammenlebens vor (Matthäus 5,38-48). Darüber hinaus hat das westliche Mönchtum die vegetarische Ernährung im Kontext der Armut verwurzelt (Fleisch ist die Speise der Wohlhabenden). Armut und Gewaltlosigkeit können also zwei Motivationen sein, die einer vegetarischen oder zumindest fleischarmen Ernährung ihren spirituellen Rahmen geben.

Michael Rosenberger

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