Schwindelerregend

Trifonov in der Carnegiehall
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Es ist nicht auszuschließen, dass aus Trifonov wirklich ein Jahrhundertmusiker werden wird. Das muss man heute noch nicht wissen.

Es wird einem schon schwindelig angesichts all des Lobes, mit dem Kollegen und Kritikerinnen Daniil Trifonov gleichermaßen überschütten. "Er hat alles und mehr (...). So etwas habe ich noch nie gehört", sagte beispielsweise die große Martha Argerich. Und ein Rezensent der "Süddeutschen Zeitung" schrieb nach Trifonovs Münchendebüt: "Man muss in der Geschichte der Klavierkunst weit zurückgehen, womöglich mehr als hundert Jahre, um auf diesem genialischen Pianisten vergleichbare Phänomene zu stoßen." Der so Erhobene wird in diesen Tagen 23 Jahre alt.

Die Live-CD "The Carnegie Recital" dokumentiert Trifonovs Auftritt im Februar 2012 in New Yorks berühmter Konzerthalle mit Skrjabins zweiter Klaviersonate, Liszts h-moll-Sonate und Chopins 24 Préludes opus 28 sowie einer kurzen Medtner-Zugabe. Eine gute Gelegenheit, dem Phänomen Trifonov auf die Spur zu kommen und zu überprüfen, ob dessen Lorbeerkranz zu Recht so früh gewunden wird.

Mit der leisen Eröffnung der Skrjabinsonate tastet sich der Russe in sein Programm hinein. Zunächst keine virtuosen Überschläge, dafür ein schwingender Ton mit sehr viel Weite und Empathie. Hier ist einer, der sein Publikum nicht überfallen und überwältigen will. Schon in der Mitte des Andante deutet sich freilich an, welche Klanggewalten die Zuhörerin und den Zuhörer noch erwarten. Im Presto verblüfft der Pianist durch die Leichtigkeit, mit der er Skrjabins komplexe Weltenbilder erfasst.

Trifonov liebt das Spiel mit den Extremen, sowohl in der Dynamik wie auch im Umgang mit dem Tempo auch an Stellen, von denen man es kaum erwarten würde. Man könnte denken, dass er damit einen manierierten, plakativen Eindruck erzeugt, doch das stimmt keinesfalls. Sein Umgang mit den Werken ist schlüssig, emotional wie strukturell.

Von technischen Anforderungen scheinbar völlig unbeeindruckt, entlockt der Musiker seinem Instrument das Unerhörte. Bei Liszt wirkt es mitunter, als ob sich Zeit und Klang für einen kleinen Moment zusammenfalten - alles steht still, um beim nächsten Ausatmen einen desto gewaltigeren Aufbruch zu erleben. Und dann Chopin: Ein Rausch; Musik zum Verlieben.

Es ist nicht auszuschließen, dass aus Trifonov wirklich ein Jahrhundertmusiker werden wird. Das muss man heute noch nicht wissen. Die Plattenfirma legt es immerhin nahe, indem sie das Cover an eine andere wegweisende Platte anlehnt: "The Freewheelin' Bob Dylan", vom Meister fünfzig Jahre früher eingespielt, ebenfalls im Alter von 21 Jahren.

Daniil Trifonov - The Carnegie Recital. Werke von Skrjabin, Liszt, Chopin, Medtner. Deutsche Grammophon 00289 479 1728.

Ralf Neite

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