Der Tatort-Blues

Versuch über die deutsche Alltagskulturv
1989 auf einem Campingplatz im Kreis Röbel: Freiheit in der DDR. Foto: dpa / Benno Bartocha
1989 auf einem Campingplatz im Kreis Röbel: Freiheit in der DDR. Foto: dpa / Benno Bartocha
Die Deutschen: Wilde Kerle (wobei hier einmal ausnahmsweise das weibliche Geschlecht mitgemeint sein soll) mit einem Faible für Rundumversicherung - Klaas Huizing, Schriftsteller und Theologe, assoziiert lustvoll über die deutsche Alltagskultur. Wir tippen darauf, dass ihm viele Leserinnen (ausnahmsweise sind hier die Leser mitgemeint) mit Vergnügen folgen werden ...

Wer als Ethnologe der eigenen Kultur durch den Alltag flanieren möchte, muss sitzend starten, sollte sich, mit Rotwein, Langnese-Eis und Erdnüssen eingedeckt, als Couch-Potato mit Freunden oder Familienmitgliedern am Sonntagabend vor dem noch nicht ganz abgezahlten, fabrikneu riechenden Flachbildfernseher lümmeln. Die sonore Stimme des Tagesschausprechers Jan Hofer stimmt ein auf die Erkennungsmelodie, den Trailer mit dem fliehenden Mann, der seinem Mörder nicht entkommen kann, das Blau saugt die Aufmerksamkeit an, wir werden optisch gedopt und die Gefühle kanalisiert, einig Vaterland.

Und natürlich gibt es Helden, die Münchner Lieblinge etwa, Batic und Leitmayr, der eine mit der Physiognomie eines Löwen, der andere hat ein Gesicht wie eine Hostie, oder, auf der Liste ganz vorne, das Duo aus Münster: Thiel, ein Typ wie vom Flohmarkt, der die Schäden eines 68er-Kindes gemeinsam mit dem Bildungsmonster Börne therapiert, die Charmebolzen aus dem Kohlenpott, der hyperaktive Ballauf und der mit jeder Currywurst runderneuerte Schenk, oder, die neuen Aufsteiger aus Wien, Eisner, gelernter Bergdoktor, und Fellner mit einer Trinkerkarriere aus ihrer Zeit bei der Sitte. Und dann die Liste der Unvergessenen, die Kommissare im Ruhestand, die in den Gehirnkammern der Älteren überlebt haben: Kommissar Trimmel, Oberinspektor Marek, (gelegentlich recycelt: Schimanski und Hänschen), Palu aus Saarbrücken, Haverkamp alias Hansjörg Felmy (der Schwarm der Müttergeneration) und natürlich Zollfahnder Kressin.

Ein Shitstorm zieht noch am Abend im Internet auf, wenn der Streifen nicht das Gefühl bedient, wenn zu viel Kunstwille sich vor die Geschichte zwängt, wenn der Plot die Fallhöhe an notwendiger Spannung unterbietet, wenn, der größte dramaturgische Gau, die Gerechtigkeit nicht siegt. Das Ritual des Sonntagabend-Krimis bündelt die wegeilende Woche und gibt den Startschuss für die nächsten sieben Tage: Die Welt ist manchmal aus den Fugen, ja, aber es gibt die Heroen, die Cleaner, die Legenden, die um 21.44 Uhr am Sonntagabend stellvertretend das Böse aus der Welt jagen. So kann man entspannt ins Bett gehen und nun den ehelichen oder partnerschaftlichen Pflichten angstfrei nachkommen.

Knabberndes Globalisierungsmonster

Vererbt wurde dieses Ritual auch an die nächste Generation, jetzt unter dem Stichwort "Public Viewing" verhandelt. Ein Brite, Adam Fletcher, hat den spannendsten Reader zum Thema deutsche Alltagskultur, zunächst als Blog geschrieben, veröffentlicht: "In meiner ersten WG hatten wir einen Fernseher, der auf einem Skateboard befestigt war und in einem Schrank wohnte. Nur einmal in der Woche wurde er für den Tatort herausgerollt. Freunde meiner Mitbewohner kamen vorbei, der Fernseher wurde in der Küche aufgebaut, aufwändige Mahlzeiten wurden gekocht und miteinander verzehrt, dann senkte sich Schweigen über die Versammlung. Das Ritual begann."

Leider knabbert das Gobalisierungsmonster an einigen anderen kulturellen Alleinstellungsmerkmalen: Das deutsche Frühstück mit Rührei und Käseplatte ist in Gefahr! Mit Schaudern sehe ich morgens immer häufiger Studentinnen und Studenten mit eingeschweißten Sandwiches und Kaffee-To-Go-Bechern in die Universität hasten. Gott sei Dank sind wenigstens am Sonntag - ein später Segen der Sonntagsheiligung und der protestantischen Mentalitätskultur - noch alle Cafés überfüllt, auch wenn mir das Wort "Brunch", ein Wort, als würde man gurgeln, nicht über die Lippen kommt. Und der gute Schwarzwälder Schinken wurde durch Parma- oder, noch schicker, durch Serrano-Schinken ersetzt, die deutsche Dauerwurst heißt jetzt Mailänder Salami, es gibt, eine Franzosenkrankheit, Eier im Glas oder aus dem Wasserbad, und alle schlürfen dieses infantile Getränk, das nach Muttermilch schmeckt: Latte macchiato. Das ist die Berlusconisierung des Heißgetränks. Zum Trost: Immerhin hat der deutsche Kartoffelsalat bei Grillpartys überlebt.

Mit aller Kraft verteidigen werde ich, auch aus schnöden monetären Gründen, wie ich unumwunden gestehe, das Hardcover-Buch: Nirgendwo auf dem Globus werden so viele Hardcover produziert wie in Deutschland - und das ist gut so. Versuche der Buchbranche, mit Billigversionen wie "französisch broschiert" zu reüssieren, scheiterten. Der Deutsche liebt sein Hardcover, jedes Buch muss stehen können, darf keine Eselsohren aufweisen, soll im Bücherschrank sichtbar Wissen, Wert, Wahrheit darstellen! Das Leinengewand ist leider etwas aus der Mode gekommen, Schlichtheit ist angesagt, die Harz-IV-Dünnwanddeckel sind zwar salonfähig geworden, werden zu Weihnachten und Ostern aber äußerst selten verschenkt (das tut man nicht!).

Waldromantik und Mülltrennung

Jeder Kauf eines Hardcovers fördert herrlich dezent die Existenz der Spezies Autor/Autorin, denn um den gleichen Erlös wie bei einem Hardcover zu erzielen, muss ein Autor mindestens sechs Exemplare seines Elaborats im Taschenbuchformat verkaufen. Wer nur Taschenbücher liest, droht zudem allein durch diesen Umgang zu verrohen. Der Taschenbuchlektüre ist Gewalt zwangsweise inhärent, denn wer in diesen portablen Büchern lesen möchte, der muss, da Lesebändchen fehlen, Ecken einknicken, also Eselsohren absichtsvoll produzieren, wenn die Lektüre unterbrochen wird, und selbst der behutsamste Leser kommt nicht umhin, irgendwann das nur schwach ausgeprägte Rückgrat des Buches zu brechen. Ein gut eingebundenes Buch dagegen öffnet sich, wenn man es in die Handmuschel legt, schamfrei von selbst, gibt seinen Inhalt selbstbewusst frei, bittet den Leser darum, in die Welt dieses Buches einzutreten, sei es, um in ein Schweben zu gelangen oder im Tosen der Buchstaben genüsslich zu versinken. Auf den Lippen noch das erlesene Glück, wenn das Buch geschlossen und der Körper zum Leser zurückgekehrt ist. Ob Deutschland noch das Land der Dichter und Denker ist, darf man milde bezweifeln, aber ein Land der Hardcover-Leser, das ja. Wir leben im Gutenberg- und Luther-Land.

Ich sage nur: der Deutsche Wald - ein romantisches Gegenbild zur französischen Urbanität. Dieser Mythos hat sich unter dem Stichwort Umwelt weitervererbt und in die Hochbürokratie der Recyclingverwaltung ausdifferenziert. Wir sind der Klassenprimus weltweit, wenn es um Müllsortierung geht. Gelbe Säcke (PVC), braune (Gartenabfälle), blaue (Altpapier) und schwarze (Restmüll) Abfalleimer. Plus die samstägliche Tour zum Glascontainer. Möglichst mit dem Fahrrad oder dem E-Bike. Weil wir die Natur so lieben und verzückt die Bäume umarmen, waren wir besonders empfindsam für die drohende Verseuchung durch Klimagase und Havarien der Atommeiler. Und wir haben umgesteuert und Windparks errichtet. Die Verspargelung der Landschaft führt allerdings zu einer Traumatisierung der romantischen Seele und grenzt an Blasphemie, wenn die größten Windräder höher in den frisch gestrichenen Himmel ragen als die zwei mächtigsten deutschen Kathedralen. Im Schatten der Windräder lässt sich allerdings herrlich Bionade trinken, das politisch korrekteste Getränk auf dem Globus. Die typisch deutsche Weißweinschorle ist durch dieses Ideologiegetränk deutlich auf dem Rückmarsch.

Leider lässt sich die Seele nicht versichern, obwohl in Deutschland jeder sich gegen alles versichert. "Rundumversicherung" ist ein Wort, wofür es in anderen Sprachen kein Pendant gibt (dort herrscht deutlich mehr Gottvertrauen). Diese deutsche Versicherungswut ruht allerdings auf einer leisen, aber sehr nachhaltigen Revolution: der Sozialstaatsrevolution durch Kanzler Otto von Bismarck, ergänzt durch den Sektor der Versicherungsindustrie. So kann man etwa eine Versicherung gegen drohende Operationen bei Hunden abschließen! Ich habe es versäumt, diese Versicherung abzuschließen, ein Fehler, denn mein Labrador benötigt dringend eine neue Herzklappe. Vielleicht kann meine Rechtsschutzversicherung gegen meine Hunde-Versicherungsgesellschaft klagen, weil diese mich nicht über die Konsequenzen hinreichend informiert hat.

Lob des deutschen Fernsehens

Als Land der Spieler wird man Deutschland zumindest auf den ersten Blick nicht ausmachen, aber es gibt ein Spiel, an dem sich nahezu alle einmal im Leben beteiligten: das GEZ-Versteckspiel. Wenn der GEZ-Mann dreimal klingelte, musste der Fernseher in der WG verschwunden sein. Der freundliche Mann, der so gar nicht an einen Mann von der Horch und Guck erinnern sollte, eher wie ein Vertreter der Hamburg-Mannheimer wirkte, schaute sich freundlich in der Wohnung um, kam wie nebenbei auf die Live-Übertragung des gestrigen Fußballspiels zu sprechen, man teilte etwas dusselig die Erinnerungen an einen genialen Fallrückzieher, dann zeigte dieser Hausbesucher aus dem Fenster auf ein Auto, einen Kastenwagen mit viel Antennenlametta, man habe in dieser Wohnung den Empfang eines Fernsehers gemessen, die Anmeldung des Fernsehers sei sicherlich vergessen worden, kein Problem, er habe zufällig einen Anmeldebogen in seiner Aktentasche. Flankiert wurde das Versteckspiel durch das Murren über die Qualität des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Dieses Murren des Volkes der Fernsehsüchtigen wurde nach ersten Jahren der Erfahrung mit dem Privatfernsehen deutlich leiser, wer häufig auf Reisen ist oder im Ausland gelebt hat, wird zunehmend kleinlauter: Richtig, es gibt grausam seichte Sendungen der Degeto, aber dann ergießen sich Spielfilme aus dem Fernseher, die im Gedächtnis bleiben, ZDF und ARD produzieren investigative Politsendungen (die gibt es wirklich!), Arte sendet zweisprachig, nüchtern und präzise werden Nachrichten in der "Tagesschau" und in "Heute" aufgearbeitet, Spartensender mit kulturellem Tiefgang füttern die Bildungshungrigen - wie verkommen ist im Vergleich dazu das holländische Fernsehen, und rund um die Uhr verstrahlen in Italien Fernsehsendungen das limbische System der Zuschauer.

Die GEZ hat jetzt (leider, leider) den GEZ-Mann abgeschafft und eine Haushaltspauschale eingeführt. Das Versteckspiel ist aus. Aber ich bin dankbar, weil ich davor geschützt werde, dass das Berlusconi-Grinsen irgendwann durch den Fernseher auf mein Gesicht springt. Doch, man darf stolz sein auf die öffentlich-rechtlichen Programme, die durch ihre Qualität auch für Standards bei den Privatsendern gesorgt haben, und stolz auf die vielen Tages- und Wochenzeitungen (FAZ mit Frankfurter Rundschau, Handelsblatt, TAZ, Süddeutsche Zeitung, WELT, Mannheimer Morgen, Tagesspiegel, Nürnberger Zeitung, DIE ZEIT, FAS, WELT am Sonntag, SPIEGEL, FOCUS), die ein hohes Niveau halten. Dieses Niveau ist nicht umsonst. Auch wenn sich die Lesegewohnheiten ändern, darf der Qualitäts-Journalismus nicht auf der Strecke bleiben. Made in Germany. Deutschland ist das Land der Buch- und Zeitungstrinker.

Ostdeutsche Schamfreiheit

Abschließend ein sehr kurzer Blick auf den Gewinn und Verlust an kulturellem Leben durch die Wiedervereinigung: Die Kita steht nicht mehr unter Ideologieverdacht, leider hat die körperliche Schamfreiheit aus der DDR nicht vollständig überlebt. In ihrem Roman "Die Sonnenposition" hat Marion Poschmann diesen Prozess nach der Öffnung der Grenzen an einem ostdeutschen Badestrand beschrieben: "Fromme Badende aus Polen schraken vor der ostdeutschen Körperkultur zurück. Sie vollführten turnerische Verrenkungen, um beim Umziehen am Strand stets ein Handtuch so in Position zu halten, dass es ihre Blöße bedeckte. Sie vermieden es überhaupt, sich unter freiem Himmel umzuziehen, lieber blieben sie in nasser Badebekleidung hinter ihrem Windschutz. Die polnischen Familien schienen zartere, langbeinigere Kinder zu bekommen, die Eltern hingegen nach der ersten oder zweiten Geburt schneller zu verfetten und die Form zu verlieren.

In der Pubertät trafen die Extreme aufeinander, die halbwüchsigen, gazellenhaften Mädchen trugen enorme, wie kaum noch zum übrigen Körper gehörige Brüste vor sich her; vielleicht war es besser, dass sie alle bekleidet blieben. Stammgäste aus dem Osten Deutschlands, die regelmäßig diesen Strand besucht hatten, ärgerten sich über den plötzlichen Andrang von auswärts, darüber, dass es nicht mehr ihr Strand war. Sie ärgerten sich über die ausbrechende Schamhaftigkeit, die das, was bis dahin als natürlich gegolten hatte, in etwas Anrüchiges, ja Obszönes verwandelte. Als alle nackt gewesen waren, hatte es keine Probleme gegeben, aber seit hochgeschlossene Katholiken anzügliche Blicke aus den Augenwinkeln warfen, seitdem sie Grad und Anlass ihrer Erschütterung regelmäßig überprüften, indem sie empört durch die Lücken im Windschutz spähten, seither fühlte man sich von Voyeuren umgeben und konnte ein leichtes Unwohlsein kaum leugnen. Die Urlauber aus dem Westen zeigten sich verunsichert, wie sie sich zwischen diesen Fronten einzuordnen hatten. Anziehen oder ausziehen?"

Es wäre billig, das Globalisierungsmonster für alles verantwortlich zu machen. Gott sei Dank wurde etwa der deutsche Waschbeton-Minimalismus in Deutschland durch die schwedische und finnische Hausbauweise aufgebrochen. Wer deutsche Alltagskultur beschreibt, ist in der bequemen Situation, Klischees verteidigen zu dürfen. Gerne auch den Gartenzwerg. "Grüß Gott" oder "Moin" sind mir entschieden lieber als ein genuscheltes "Hi!". Und das deutsche "Prost", begleitet von einem lauten Anschlagen der Weißbiergläser, ist unverzichtbar. Die Deutschen sind und bleiben wilde Kerle mit unendlich vielen Versicherungspolicen.

Literatur

Adam Fletcher: Wie man Deutscher wird. In 50 einfachen Schritten. Eine Anleitung von Apfelschorle bis Tschüss. München 2013, Euro 8,95.

Walter Krämer: Typisch Deutsch. Was uns von anderen unterscheidet. Berlin 2013, Euro 24,90.

Hermann Bausinger: Typisch Deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen? München 2009, Euro 10,95.

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Klaas Huizing

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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