Am äußersten Rand

Sehnsucht auf Hiddensee
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Ein ungemein dicht formulierter, stilistisch anspruchsvoller und anspielungsreicher Roman, der mit seinem Ideenreichtum begeistert.

"Ein Roman von alttestamentarischer Wucht" titelt etwas schräg "Die Welt", das "erste würdige Gegenstück der deutschen Literatur zu Thomas Manns Zauberberg" lobt "Der Spiegel". "Dieser Roman hat eine geschichtsphilosophische Dimension: Es ist eine große Meditation über verschiedene Formen der Freiheit" sendet die 3sat "Kulturzeit" und "ein Buch wie ein Leuchtturm" schließt sich die "Süddeutsche" an. Das Erscheinen des ersten Romans von Lutz Seiler ruft wahre Lobeshymnen in der deutschen Feuilletonkritik hervor, wie kaum eine anderer Roman in den vergangen Jahren. Nun hat der Roman auch noch den deutschen Buchpreis gewonnen.

Der in Wilhelmshorst bei Potsdam lebende Lutz Seiler war bislang durch seine Lyrik bekannt und vielfach ausgezeichnet worden. In diesem Bücherherbst präsentiert er seinen ersten Roman. Und Seiler kommt dabei zupass, dass sich just in diesem Herbst der Mauerfall zum 25. Mal jährt. Aber das ist nur eine reine Äußerlichkeit; seinen Reiz hat der Roman gerade auch als Zeitbild: Der 24-jährige Edgar Bendler, kurz Ed genannt, flieht vor seinen Erinnerungen nach Hiddensee, die langgestreckte Insel westlich der Insel Rügen. Eds Freundin ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Doch warum die Ostseeinsel Hiddensee? "Versteck im See, geheime See, Hiddensee ... ein unablässiges Raunen umspülte das Eiland", lässt Seiler seinen Protagonisten erzählen, "Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz." Und die Leserin weiß, es ist die Zeit vor dem Mauerfall, genauer: im Frühsommer 1989.

Ed aus Halle/Saale, bekleidet mit einer schwarzen Motorradlederjacke aus den Fünfzigerjahren und langen Haaren, heuert dort als Abwäscher in dem Ausflugslokal "Zum Klausner" an, wo er Teil "der Besatzung" wird, wie Geschäftsführer Krombach seine Leute nennt. Es ist eine Gemeinschaft von Jüngern, zwölf an der Zahl. Da trifft er auf den Kellner Rimbaud, promoviert in Philosophie, auf Cavello, einen promovierten Soziologen, der sich auch als Kellner verdingt. Und auf Alexander Krusowitsch, von allen nur "Kruso" genannt, der "Schirmherr dieses Eilandes", er hat das Kommando. Sie alle: "Aussteiger, Abenteurer, Antragsteller", Menschen, die allesamt nach Hiddensee aufgebrochen sind, weil ihnen das Festland längst keine Heimat mehr bietet, die ihr Land verlassen, ohne die Grenze zu passieren.

Mensch und Tier sind in ihrem Freiheitsdrang nicht weit voneinander entfernt: "Nur deshalb kommen sie hier herüber - sie wittern die Freiheit, sie sind wie die Menschen", heißt es über die Wildschweine. Mit Andeutungen, religiösen Bezügen, Bildern und Metaphern erzählt Seiler über die Freundschaft zwischen den beiden so ungleichen Männern Ed und Kruso. Und über die Saisonkräfte, kurz "Esskaas" genannt: Tresenkräfte, Kellner, Abwäscher - eine skurrile Mischung von Charakteren. Bei ihnen kommen viele "Schiffbrüchige" unter. So nennt Kruso diejenigen, die über die Ostsee in die Freiheit fliehen wollen. Doch es gibt nicht genügend Schlafgelegenheiten für alle. Selbst im Bett des Dichters Gerhart Hauptmann lässt Lutz Seiler seine "Schiffbrüchigen", seine Gestrandeten der DDR, schlafen. Tagsüber, bei guter Sicht ist Møn zu sehen, die dänische Insel unweit der DDR, hingegen unendlich für Ed und all die anderen auf Hiddensee.

"Im Vorhof des Verschwindens", so beschreibt Seiler Hiddensee. Eine traurige Wahrheit, wie es sich im Epilog lesen lässt. Dort gibt er Auskunft über seine Recherche bei dänischen Behörden, über die vielen Flüchtlinge, die versucht haben, über die Ostsee ihrem Land zu entkommen. Die meisten von ihnen wurden von Patrouillenbooten festgenommen, wenigen gelang die Flucht, 179 Tote wurden seit 1961 offiziell, doch viele verschlang das Meer.

Ein ungemein dicht formulierter, stilistisch anspruchsvoller und anspielungsreicher Roman, der mit seinem Ideenreichtum begeistert.

Lutz Seiler: Kruso. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 484 Seiten, Euro 22,95.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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