Wer hat Angst?

Kritische Nachlese zur Rezeption der EKD-Orientierungshilfe zu familiären Lebensformen
Damals wie heute liegt die Haushalts- und Sorgearbeit in den Händen der Frauen. Pyotr Ivanovich (1889-1953): "QWashing Day", 1934. Foto: dpa/ Fine Art Images
Damals wie heute liegt die Haushalts- und Sorgearbeit in den Händen der Frauen. Pyotr Ivanovich (1889-1953): "Washing Day", 1934. Foto: dpa/ Fine Art Images
Die EKD-Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit" sorgte im Sommer vor einem Jahr für eine aufgeregte Debatte, die vor allem in den Medien geführt wurde. Sie entzündete sich an der Frage der Gleichbehandlung unterschiedlicher Familienformen. Die Mitautorinnen Ute Gerhard und Barbara Thiessen, die in der Kommission als wissenschaftliche Expertinnen beteiligt waren, werfen einen Rückblick auf die mitunter hitzigen Debatten.

Seit der legendären Ostdenkschrift des Rates der EKD von 1965, die die Aussöhnung mit Polen entscheidend vorangebracht hat, gab es kein Papier des Rates mehr, das eine ähnlich breite und heftige Debatte auslöste wie die Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken". Diese wurde im Sommer vor einem Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Wirbel um das Familienpapier ist klärungsbedürftig. Der Auftrag an die Ad-hoc-Kommission, vom EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber im April 2009 unterzeichnet, war die Formulierung einer evangelischen Position zur Familie, "die aktuelle gesellschaftspolitische Fragestellungen aufnimmt ohne darin aufzugehen", die sich mit dem "Verhältnis von staatlicher Fürsorge und individuellen Elternrechten" befassen sollte, mit der Weiterentwicklung des deutschen Sozialstaatsmodells im europäischen Vergleich sowie der Bedeutung der steigenden Frauenerwerbsarbeit und der Zunahme von Ganztagesangeboten in Erziehung und Bildung. Sie sollte nicht zuletzt "die wachsende Bedeutung der Kinderrechte für das tradierte christliche Familienbild" thematisieren.

Explizit ausgenommen war im Auftrag des Rates an die Kommission die theologische Bearbeitung "des evangelischen Eheverständnisses und Folgerungen für die rechtliche Ausgestaltung der Ehe". Entsprechend steht im Mittelpunkt des Papiers die Auseinandersetzung mit der unterschiedlichen Alltagspraxis von Familien und ihren sozialpolitischen Rahmungen sowie den aktuellen Arbeitsmarktbedingungen. Kern ist die Stärkung und Wertschätzung der vielfältigen Formen familialer Fürsorge. Mit Fürsorge oder Sorge für andere (Care) wird ebenso Erziehung, wie auch Betreuung, Versorgung und Pflege in Familien aufgegriffen. Dabei hat die Kommission das Leben in modernen Gesellschaften als Hintergrund ernstgenommen. Es bietet Männern und Frauen Möglichkeiten zu eigenständigen Bildungs- und Berufswegen und zwingt sie durch erhöhte Flexibilisierung und Mobilitätserwartungen zugleich dazu, ihre Lebensläufe aufeinander abzustimmen und partnerschaftliche Vereinbarungen zu treffen. Die Verbesserung der individuellen Rechte von Frauen und Kindern hat dazu geführt, dass Gleichberechtigung in der Partnerschaft und Mitsprache von Kindern in der Familie mittlerweile selbstverständlich geworden sind. Zumindest äußert sich dies in den Vorstellungen und Absichten der Mehrheit, an der Umsetzung hapert es jedoch noch.

Seltener getauft

Gleichzeitig haben sich durch Globalisierungstrends und verschlechterte wohlfahrtsstaatliche Absicherungen soziale Ungleichheiten zwischen Familien erhöht. Jedes dritte Kind in Deutschland ist sozial abgehängt. Vor allem Alleinerziehende, erwerbslose Eltern sowie Familien mit Migrationshintergrund sind von Armut betroffen. Festgestellt wurde, dass sich für sie häufig nur noch die Diakonie zuständig fühlt, während Kirchengemeinden, die verfasste Kirche, oftmals keine proaktive Einbindung sozial benachteiligter Familien im Sprengel versuchen. Die Ausgangsfrage für die Orientierungshilfe war im Rat der EKD übrigens, warum Alleinerziehende, mithin sozial benachteiligte Familien, ihre Kinder immer seltener taufen lassen.

Beide Themen - die uneingelöste Gleichberechtigung sowie die zunehmende soziale Spaltung - werden in der Orientierungshilfe zentral analysiert und mit praxisnahen Forderungen angegangen. Als wenig zielführend wird die Orientierung an einer bestimmten Familienform gesehen. Dagegen werden Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit und Partnerschaftlichkeit als Kriterien für ein gelingendes Familienleben benannt. Sie beinhalten wechselseitige Anerkennung und fürsorgliche Beziehungen. Diese Kriterien greifen entscheidende Werte eines evangelischen Eheverständnisses auf und werden für alle Familienformen in Anspruch genommen. Damit sollen alle privaten Lebensformen, in denen verbindlich und auf Dauer Verantwortung füreinander übernommen wird, gleiche Wertschätzung - mithin gleiche Kasualien - erfahren.

Immerhin ist bemerkenswert, dass sich in den theologischen Beiträgen sowohl auf dem Theologischen wie auf dem Sozialpolitischen Symposium der EKD vom 28. September 2013 und 4. Juli 2014 gezeigt hat, wie sinnvoll es ist, bei der Diskussion um ein evangelisches Eheverständnis nicht nur die Bibel historisch kritisch zu lesen, sondern auch Luthers reformierende, die Geschlechterverhältnisse revolutionierende Ehelehren zu berücksichtigen. Erst die Reaktion der lutherischen Orthodoxie, die seit dem 19. Jahrhundert durch das bürgerliche Eherecht gestützt wird, prägte das Leitbild christlichen Ehelebens und schrieb die Ungleichheit der Geschlechter fest.

Die aufgeregte Debatte, die vor allem in den Medien geführt wurde, hat sich an der Frage der Gleichbehandlung unterschiedlicher Familienformen entzündet. Die aus dem theologischen Teil resultierende Forderung gleicher Kasualien und Trauagenden für Ehen und Lebenspartnerschaften stieß vor allem in konservativen Kirchenkreisen und bei Evangelikalen auf erbitterten Widerstand. Eine Begründung dafür, warum mit Gleichbehandlung und Anerkennung eine Abwertung heterosexueller Ehekonstellationen einhergehe, konnte jedoch nicht geliefert werden. Ähnlich wäre die Argumentation, dass die rechtliche Gleichstellung von Frauen oder von Minderheiten, wie die der schwarzen Bevölkerung in den USA in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren, mit einer Benachteiligung von Männern oder der weißen Bevölkerung einhergegangen sei. Das kann heute niemand mehr ernsthaft behaupten. Die zum Teil mit homophoben Argumentationen oder Vorurteilen gegenüber Alleinerziehenden gespickte Debatte hat gleichzeitig die Frage nach der sozialen Benachteiligung, der Milieuverengung in der evangelischen Kirche und der Arbeitsteilung zwischen Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen vom Tisch gewischt. Bis heute gibt es dazu von konservativen Kirchenkreisen weder eigene Analysen noch Antworten. Es drängt sich daher der Verdacht auf: Wer sich allein an der Form von Familien abarbeitet, dem sind die Inhalte des Familienlebens gleichgültig.

Auch beim bereits erwähnten Sozialpolitischen Symposium der EKD rückten die Alltagsfragen von Familien - mithin die zentralen Inhalte und Kriterien des Familienlebens - unversehens in den Hintergrund. Das ist symptomatisch für die gesamte Diskussion um die Orientierungshilfe: Die konkret geleistete, alltägliche Care-Arbeit verschwindet hinter den Debatten um richtige Familienformen oder den Dauerbrennern der Renten- und Steuerpolitik. Gerechtigkeitsfragen werden in den sozialpolitischen Debatten einseitig so gestellt, als ginge es "nur" um materielle Ressourcen, um Verteilungsfragen und nicht auch um Anerkennung und Teilhabe.

Die Orientierungshilfe hat die Armutsprobleme der Familien mit Kindern, insbesondere die der Alleinerziehenden und derjenigen, die Angehörige pflegen und betreuen, deutlich benannt. Sie hat jedoch immer wieder insistiert, dass Armut in Familien gerade deshalb so verheerende Folgen hat, weil sie zugleich die Teilhabechancen von Eltern und Kindern im Hinblick auf Bildung und Gesundheit, in Beruf und Politik entscheidend vermindert. Gerechtigkeit im Geschlechterverhältnis aber erfordert - und dies ist der Stein des Anstoßes, der geflissentlich übersehen wird - neben der Aufhebung anhaltender Diskriminierung bei Löhnen, Einkommen und Renten die Wertschätzung und Anerkennung der unverzichtbaren Sorgetätigkeiten. Wir alle sind irgendwann im Lebenslauf auf sie angewiesen, und sie machen zugleich unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und Reichtum aus. Obwohl die ungleiche Arbeits- und Verantwortungsteilung zwischen Männern und Frauen in Beruf und Familie jede/n Einzelne/n betrifft, obwohl sie ein wesentlicher Grund für die Instabilität von Partnerbeziehungen ist, wird diese Problematik in den Debatten nicht aufgegriffen. Kurzum: Care und Geschlechtergerechtigkeit werden angesichts der großen Systemfragen erneut zu Nebenwidersprüchen.

Eine Beobachtung der Diskussionen um die Orientierungshilfe könnte hier zu interessanten Antworten führen. Wer hat sich besonders aufgeregt? Wer waren die lautesten Gegner des Papiers? Von wem kam Zustimmung? Es waren auffallend häufig Männer älterer Jahrgänge in gesicherten Lebensverhältnissen und gelegentlich auch jüngere reüssierende Frauen, die sich kritisch geäußert haben. Beide Gruppen haben wichtige - auch biografische - Gründe, geschlechtliche Ungleichheitslagen zu verdrängen. Entweder können oder wollen sie nicht zugeben, dass sie ihre Karrieren der Hintergrundarbeit einer Ehe- und Hausfrau verdanken, möglicherweise bedauern sie auch entgangene Familienerfahrungen, oder - so im Fall der erfolgreichen jungen Frauen - sie haben bisher keine benachteiligenden Erfahrungen gemacht, da sie ihre Doppelrolle mit Hilfe anderer Frauen, bezahlter Care-Arbeiterinnen oder dem Einsatz von Großmüttern bewältigen. Sie alle meinen, nur eigene Leistung zähle, nicht Solidarität. Nicht zuletzt ist da die große Gruppe der Ehefrauen und Ehrenamtlichen, die ihr Leben lang für andere gesorgt, sich um andere gekümmert haben, aus Liebe und vor dem Hintergrund ihrer christlichen Überzeugungen. Ihr Lebenswerk wird in der Orientierungshilfe ausdrücklich betont und anerkannt.

Ungeteilte Zustimmung zum Familienpapier kam hingegen von Frauenverbänden sowie aus Fachkreisen innerhalb und außerhalb der Kirche, die sich mit ihren Anliegen in der EKD erstmals wirklich gesehen und ernst genommen fühlten. Es gab auch Zustimmung aus katholischen Fachverbänden. Kurzum fanden diejenigen, die alltäglich insbesondere mit Familien sozial benachteiligter Schichten zu tun haben oder die Familienarbeit im täglichen Spagat der Vereinbarkeit und der Abwertung durch Unsichtbarkeit kennen, Anerkennung, Anknüpfungspunkte und wichtige Anregungen. Bislang fehlen jedoch vielerorts Ansprechpartner auf der Seite der verfassten Kirche, um das Alltagsleben von Familien anzuerkennen und es konkret zu entlasten.

In ungezählten lokalen Veranstaltungen zur Orientierungshilfe in den Kirchenkreisen haben wir die Erfahrung gemacht, dass nicht selten Pfarrerinnen und Pfarrer erst durch Fachkräfte aus der Diakonie oder der Gemeindearbeit auf die Vielfalt der Lebensformen in ihrem Bereich aufmerksam wurden. Gleichzeitig wurde deutlich, welche guten Beispiele gemeindlicher Praxis für unterschiedliche Familien schon gelebt werden.

Abschließend zeigt die Debatte um die Orientierungshilfe, dass die Verbesserung und Stärkung von Familienleben und familialer Sorgearbeit Geschlechterfragen aufwirft. Wem es um das Alltagsleben in Familien geht, kommt der/die mit Debatten um richtige Familienformen nicht weiter, sondern muss sich konkret mit den Lebensrealitäten von Männern, Frauen und Kindern, von Großeltern, Tanten und Geschwistern, von Liebenden, egal welchen Geschlechts, auseinandersetzen. In der Orientierungshilfe wurden daher Geschlechtergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit zentral verankert. Diese Setzung stellt traditionelle Familienleitbilder in Frage, will damit aber gerade auch die Zukunftsfähigkeit von Familie sichern. Es bleibt die Frage, wie in der EKD zukünftig mit der Nichtachtung von Geschlechtergerechtigkeit und mit Homophobie umgegangen wird. Der vorgeschlagene Perspektivenwechsel in Kirche und Gemeinden könnte langfristig auch zu einem Kurswechsel in der Politik für Familien führen.

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Ute Gerhard / Barbara Thiessen

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