Geschenkte Zeit

Warum das Ehrenamt in evangelischen Kirchengemeinden immer mehr an Bedeutung gewinnt
Foto: dpa/epd/ Nicola O`Sullivan
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Veränderungen in der Ausbildung und Erwerbsarbeit erschweren in Zukunft das Ehrenamt. Und doch wird es für Kirchengemeinden und für die Diakonie unerlässlich sein, noch mehr Engagierte zu gewinnen. Die EKD arbeitet derzeit an einer "Engagementstrategie". Eine Bestandsaufnahme.

Sie übernehmen die Kinderkirche, leiten den Gemeindekirchenrat, leisten soziale Arbeit im Altenheim oder im Krankenhaus, verteilen den Gemeindebrief und backen Kuchen für das Gemeindefest. Von den etwa acht Millionen Menschen, die sich in Deutschland in ihrer Freizeit freiwillig engagieren, verrichten 1,5 Millionen Menschen ihr Ehrenamt in der evangelischen Kirche, in den Kirchengemeinden, Vereinen und Verbänden. Tendenz steigend. Und dabei ist ihr Engagement so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Die meisten von ihnen sind zwischen 45 und 65 Jahre alt. Das hat die Sonderauswertung des dritten Freiwilligensurveys (2012) ergeben, in dem im Auftrag der Bundesregierung erstmals über einen Zeitraum von zehn Jahren, von 1999 bis 2009, ehrenamtliches Engagement in Deutschland 2009 untersucht wurde. Und eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD aus dem vergangenen Jahr kommt zu dem Schluss, dass die ehrenamtliche Arbeit in den evangelischen Kirchengemeinden in sehr hohem Maße von "einem Mehrfachengagement geprägt ist", wie Martin Horstmann in seiner Auswertung schreibt. Eine Ehrenamtliche übernimmt im Durchschnitt in einer Kirchengemeinde vier verschiedenen Aufgaben. Bemerkenswert ist auch: Die Mitgliedszahlen der evangelischen Kirche gehen insgesamt zurück, aber die Zahl der Ehrenamtlichen in der Kirche ist zwischen 1999 und 2009 dagegen sogar gestiegen. Und dabei ist die evangelische Kirche gleich nach Sport und Bildung der dritte Ort, an dem ehrenamtliches Engagement ausgeübt wird. Dazu kommt: Sie ist gleichsam Motor für das Engagement. "Eine starke kirchliche Bindung ist - neben einem großen Freundeskreis - ein wichtiges Kennzeichen Ehrenamtlicher", formuliert Martin Horstmann. Fast die Hälfte aller kirchlich Engagierten sind auch ehrenamtlich in Vereinen, Parteien oder Bürgerinitiativen aktiv. Also kein Grund zur Sorge? Mitnichten. Denn die evangelische Kirche muss einerseits die in der Kirche engagierten Ehrenamtlichen spirituell begleiten und sie in ihrem geistlichen Wachstum fördern. Und gleichzeitig muss sie als Akteur dafür Sorge tragen, das Engagement in den eigenen Feldern zu unterstützen und auszubauen.

Zukunftsaufgabe Ehrenamt

"Ehrenamtliche zu gewinnen, zu begleiten und zu qualifizieren gehört für die evangelische Kirche zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben", hieß es bereits im 2009 veröffentlichten Impulspapier des Rates der EKD "Kirche der Freiheit". Und auch die EKD-Synodalen formulierten 2009 in ihrem Beschluss zur Kundgebung zum Schwerpunktthema "Ehrenamt. Evangelisch. Engagiert": "Eine gabenorientierte Kirche weiß um den Schatz des Ehrenamtes und fördert es in vielfältiger Weise." Doch wie sollen Ehrenamtliche gewonnen und unterstützt werden? Wie kann man Strategien entwickeln, von denen kleine und große Landeskirchen und Kirchengemeinden gleichsam profitieren können? Und warum ist das überhaupt nötig?

Wie komplex sich das Thema darstellt, zeigt sich allein schon im Sprachgebrauch: Die einen sprechen von Freiwilligenarbeit, von freiwilligem oder gar bürgerschaftlichem Engagement, die anderen halten fest am Begriff des Ehrenamts oder des ehrenamtlichen Engagements. In den Kirchengemeinden herrscht weiterhin der Begriff des Ehrenamtes vor. Aus gutem Grund, denn das Amt und damit das Engagement in der evangelischen Kirche leitet sich aus der Taufe und dem allgemeinen Priestertum aller Getauften ab (siehe auch Reinhard Mawick, Seite 33).

Fest steht: Das ehrenamtliche Engagement hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in der evangelischen Kirche verändert und mit ihm die Motive der Engagierten, aber auch die Strukturen, in denen ehrenamtlich gearbeitet wird. Und darauf muss die evangelische Kirche mit ihren Gemeinden und der Diakonie ihr zukünftiges Handeln ausrichten, will sie im Wettbewerb um Ehrenamtliche mit anderen Organisationen und Institutionen bestehen. Denn gerade Wohlfahrtsverbände, Staat und öffentliche Verwaltung entdecken in diesen Zeiten knapper Kassen das Ehrenamt neu.

Ökonomische Kategorien wie Produktivität, Effizienz, Leistung, Rationalität oder Maximierung haben längst sämtliche Bereiche des Lebens aller Menschen erfasst. Das bleibt auch für die Motivation, vor allem auch für das Selbstverständnis der freiwillig Engagierten nicht ohne Folgen. Neben das traditionelle altruistische Motiv zu helfen oder dieses aus familiärer Tradition zu tun, treten inzwischen Motive, die von den Interessen der Engagierten geleitet sind. Allerdings darf nicht verhehlt werden, dass es im Ehrenamt schon immer um ein Geben und Nehmen gegangen ist. Doch inzwischen tarieren die Engagierten die Balance zwischen dem Nutzen für sich selbst und den für andere eher aus. Anders gesagt: Während sie früher ihre Zeit spendeten, investieren sie diese heute. Dazu kommt: Langfristiges Engagement nimmt ab, kurzfristige Verpflichtungen gelingen leichter. Die Sozialwissenschaften bezeichnen diese Veränderung als Wechsel vom alten zum neuen Ehrenamt. Dieser wird deutlicher, betrachtet man das Selbstverständnis der Engagierten: Während sich in den vergangenen Jahrzehnten die Ehrenamtlichen als Helfer der Hauptamtlichen ansahen, fordern sie heute Beteiligung und Mitsprache ein.

Für die evangelischen Kirchengemeinden bedeutet das: Die individuellen Erwartungen und Kompetenzen der Ehrenamtlichen einerseits und die institutionellen Angebote andererseits müssen zukünftig stärker aufeinander abgestimmt sein. Das erfordert einen Perspektivwechsel vor allem bei den Hauptamtlichen, die das Ehrenamt nicht länger aus den institutionellen Notwendigkeiten sehen dürfen.

Dazu kommen neben dem demographischen Wandel, Veränderungen in der Ausbildung und Erwerbsarbeit, in den Familienformen, der Geschlechtergerechtigkeit. Sie erschweren in Zukunft ehrenamtliches Engagement. Zwei Beispiele: Die Reform an deutschen Gymnasien reduziert die Schulzeit fast flächendeckend von dreizehn auf zwölf Jahre. Und die so genannten Bologna-Reformen an den Universitäten sollten die universitären Standards in Europa angleichen. In der Praxis allerdings führen beide Reformen dazu, dass Jugendlichen immer weniger Zeit für ehrenamtliches Engagement zur Verfügung steht. Gleichzeitig wächst die Frage nach dem eigenen biographischen Nutzen. Ein Blick auf Studien zeigt nun, dass ein Großteil der heutigen erwachsenen Ehrenamtlichen sich schon in der verbandlichen Jugendarbeit engagiert haben. Zudem war das Ehrenamt bislang weiblich. In den Kirchengemeinden und den diakonischen Einrichtungen engagieren sich zu zwei Drittel Frauen, wie Studien belegen. Kein Problem zu einer Zeit, in der allein der erwerbstätige Vater und Ehemann das Geld für den familiären Lebensunterhalt verdiente. Heutzutage hingegen arbeiten fast 70 Prozent der Mütter von Kindern unter 15 Jahren, und sie müssen zudem oftmals noch die Pflege der Angehörigen schultern. Auch da bleibt in Zukunft kaum mehr Zeit für ehrenamtliches Engagement. Nur zwei Beispiele, die zeigen, wie tiefgreifend sich gesellschaftliche Umbrüche auf das ehrenamtliche Engagement auch in der Kirche auswirken. Dass gleichzeitig bei leeren öffentlichen und kirchlichen Kassen auch in der Kirche ehrenamtliches Engagement weiter an Bedeutung gewinnen wird, liegt auf der Hand.

Wenn also die ehrenamtliche Mitarbeit in den Kirchengemeinden derzeit noch von einem Mehrfachengagement geprägt ist, wenn Anerkennungskultur und Mitsprachemöglichkeiten in der Sonderauswertung des Freiwilligensurveys mit Zufriedenheit bewertet werden, wie kann schon jetzt eine Weichenstellung vollzogen werden, die die gezielte Werbung von weiteren Ehrenamtlichen gestaltet? Wie kann die im Impulspapier "Kirche der Freiheit" formulierte wichtige Zukunftsaufgabe umgesetzt und neue Ehrenamtliche gewonnen, begleitet und qualifiziert werden?

Theoretische Erkenntnisse über Motivation, Erwartungen und sich verändernde Wege in das Ehrenamt liegen vor. Evangelische Landeskirchen setzen Ehrenamtsreferenten ein, erlassen Gesetze und Richtlinien zum Thema und schaffen Ehrenamtsakademien zur Aus- und Fortbildung (siehe Steffen Bauer, Seite 27). Die württembergische Landeskirche hat das Projekt "Ehrenamtsförderung mit System" initiiert, die hannoversche nannte ihr zweijähriges Projekt "Projekt Ehrenamt". Und auch die EKD lädt zu großen ökumenischen Ehrenamtskongressen ein und will in nächster Zeit eine so genannte Engagementstrategie vorlegen.

"Evangelische Kirche ist in ihrem Kern eine Ehrenamts-Kirche, insofern sie auf Gestaltung und Verantwortung aller Christinnen und Christen angewiesen ist", erläutert EKD-Oberkirchenrätin Cornelia Coenen-Marx bei einem Vortrag im Juli in Stuttgart. Sie fordert deshalb: "Die Reformprozesse, die notwendig werden, müssen zu Veränderungen im Profil hauptamtlicher Arbeit, den Prioritäten und Budgets führen..." Ehrenamtskoordination sollte eine Funktion der Gemeindeleitung werden und eng mit den Aufgaben und Funktionen des Kirchenvorstandes verbunden sein. Und Coenen-Marx formuliert zwei weitere Aspekte: zum einen, dass angesichts des wachsenden Pluralismus Kirche und Diakonie immer mehr darauf angewiesen sein werden, auch Menschen zu gewinnen, die nicht kirchlich sozialisiert sind. Es gehe darum, Engagierten Herberge und Heimat zu geben - und nicht mehr nur darum, sich aus einem Heimatgefühl heraus zu engagieren. Und sie führt aus, dass dieses Engagement auch eine Chance biete, über Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen. Es werde deshalb wesentlich sein, die gesamte Organisation daraufhin auszurichten, ob und wie sie die Arbeit der ehrenamtlich Engagierten unterstützen kann.

Und schon im Impulspapier "Kirche der Freiheit" heißt es: "Wird sich bei den hauptamtlich Mitarbeitenden und den ehrenamtlich Engagierten ein Paradigmen- und Mentalitätswechsel vollziehen, der die evangelische Kirche auf die neue Situation ausrichtet und ihre Chancen zu ergreifen sucht?"

Eine Mammutaufgabe. Und vielleicht kann man sich deshalb des Eindrucks nicht erwehren, dass die theoretischen Erkenntnisse oftmals der Umsetzung harren. Nötig ist die Zusammenarbeit auf allen Ebenen sowie die Vernetzung und Kommunikation aller Inhalte. Die Praxis verlangt eine systematische Förderung durch Ehrenamtskoordination oder auch Freiwilligenmanagement, Hochschulen entwickeln eine "Theologie des Ehrenamtes" und müssen mit den Landeskirchen dafür sorgen, dass ehrenamtliche Arbeit Teil der Aus- und Fortbildung wird. Und die Hauptamtlichen? Wenn Ehrenamtliche systematisch in die Arbeit mit einbezogen werden, ändert sich auch ihr Anforderungsprofil. Sie werden zukünftig Aufgaben delegieren, andere anleiten und unterstützen.

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Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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