"Ich will frei sein!"

Roland Walter: Seine Behinderung nimmt ihn gefangen, doch er kämpft dagegen an
Mit geschickten Bewegungen windet sich Roland Walter aus den Fesseln der Kette. Die Bühne ist der Ort, an dem sein Talent am stärksten zum Vorschein kommt. Foto: Benny Ulmer
Mit geschickten Bewegungen windet sich Roland Walter aus den Fesseln der Kette. Die Bühne ist der Ort, an dem sein Talent am stärksten zum Vorschein kommt. Foto: Benny Ulmer
Roland Walter ist Performance-Künstler, Buchautor, Fotograf. Auf der Bühne testet er Grenzen aus, seine eigenen körperlichen, aber auch die Toleranzgrenzen der Zuschauer. Seine Ehrlichkeit polarisiert, seine Kreativität fasziniert, berichtet die Journalistin Kristin Oeing.

Der Mann, graue Haare, spindeldürr, liegt auf dem schwarzen Linoleumboden. Er trägt eine fleischfarbene Unterhose, seine dünnen Arme und Beine sind mit einer schweren Metallkette gefesselt. Sein Körper ist angespannt, seltsam verdreht. "Abgelehnt", ruft er, doch er ist schwer zu verstehen. Seine Aussprache ist undeutlich, er nuschelt, verschluckt Silben. Spucke läuft am Kinn runter.

Roland Walter, der Mann auf der Bühne, ist 49 Jahre alt, Performance-Künstler, Buchautor, Fotograf. Er ist mit spastischen Lähmungen zur Welt gekommen, sitzt Zeit seines Lebens im Rollstuhl. Kurz vor seinem Auftritt in einem Künstlerloft eines alten Berliner Fabrikgebäudes ist er ruhig, fast schon in sich gekehrt. Eine ungewöhnliche Stille für den sonst so lebhaften Mann. "Lampenfieber ist die Ehrung an das Publikum", sagt er. An diesem Abend füllen knapp dreißig Menschen den Raum. Viele von ihnen kennt er, begrüßt sie herzlich. "Im Kopf scheint er ja ganz fit zu sein", sagt eine ältere Dame. Roland Walter bekommt das nicht mit, er hat sich mit seinem Assistenten in einen Nebenraum zurückgezogen, der ihn anzieht. Sein Bühnenoutfit ist schlicht. Weißes Shirt, helle Hose, nackte Füße. Seine Performance besteht aus drei Teilen, kurze Videosequenzen bilden den Übergang. "Das hat sich so ergeben", sagt Roland Walter, "aus einer Performance ist die Nächste gewachsen." Heute Abend soll es zum großen Ganzen werden. Sein Assistent rollt ihn auf die Bühne, sichert den Rollstuhl. Roland Walter lacht ins Publikum, einladend, mitreißend, dann erstirbt sein Lachen.

Im Raum wird es still, nur das Rascheln der Kleidung ist zu hören. Auf der weißen Leinwand hinter dem Künstler fällt der Schriftzug "Discovery of Life" - Entdeckung des Lebens. Der Performancekünstler kauert sich zusammen, zieht die Knie an die Brust, lässt die Füße über die Armlehnen des Rollstuhls hängen. Die Musik setzt ein, einzelne Töne zunächst. Seine Hände fahren ruckartig über seine Brust, den Bauch, die Beine, als pelle er seinen Körper aus einer Eierschale. Dann wird die Musik fließender, die Spannung in seinem Körper lässt Minute um Minute nach, die Bewegungen werden größer, weicher, wie eine Blume, die langsam aufgeht, sich entfaltet. Seine Zehen bewegen sich im Takt der Musik, filigrane Bewegungen, die seiner abgehackten Motorik im Alltag so wenig entsprechen.

Grenzen ausloten

Vor drei Jahren beginnt Roland Walter, seine Grenzen auszuloten und darüber hinaus zu gehen. Die Theater- und Tanzbühne begeistert ihn. "Es ist faszinierend zu sehen, was man mit dem Körper alles machen kann, wie man ihn verbiegen und verformen kann." Die Idee, selbst die Bühne zu betreten, kommt ihm dann eher zufällig. Der Flyer einer Performancegruppe für Menschen mit Behinderung fällt ihm in die Hände. Er besucht die Proben, fühlt sich jedoch schnell unterfordert, will weiter gehen, neue Wege beschreiten, professioneller arbeiten. Er nimmt Kontakt mit Bühnenkünstlern, Choreographen und Tänzern auf - die meisten von ihnen ohne Behinderung. Er besucht Workshops und Improvisationstheater, trainiert so oft es geht und Sinn macht. "Ich habe schnell bemerkt, dass Proben nur bis zu einem gewissen Maß zweckmäßig sind. Wenn ich zu oft probe, geht zu viel von der Idee verloren, denn Performance hat mit Spontanität zu tun, nicht jede Bewegung muss einstudiert sein."

Zu seinen eindrucksvollsten Performances gehört "Path to Freedom", "Weg zur Freiheit", die er auch an jenem Abend in dem Künstlerloft aufführt. Sein Assistent, eine schwarze Maske über dem Kopf, hebt ihn aus dem Rollstuhl und legt ihn auf den Boden. Er nimmt eine klirrende Eisenkette, legt sie Roland Walter um die nackten Arme und Beine. Die schwere Kette umschließt seinen Körper. Dieses Mal gibt es keine Begleitmusik. Roland Walter versucht zunächst zaghaft, dann immer eindringlicher, die Ketten von seinem Körper zu lösen. Er windet sich, schnauft, die Kette hinterlässt rote Striemen auf seiner Haut. Das Publikum blickt gebannt auf den Mann auf der Bühne, erstarrt, die Angst, dass der Mann auf der Bühne es nicht schafft, sich zu befreien, lähmt es.

Sich nicht fesseln lassen

Er berührt. Er fasziniert. Er polarisiert. "Jeder Mensch hat Dinge im Leben, die ihn fesseln und hindern", sagt Roland Walter. "Ich will die Zuschauer ermutigen, sich nicht fesseln zu lassen, sondern ein freies Leben zu führen." Hindernisse und Grenzen haben Roland oftmals ausgebremst, Ablehnung hat er am eigenen Leib erfahren. Der Anblick seiner körperlichen Behinderung ist für einige Menschen schwer zu ertragen, andere nehmen ihn als Künstler nicht ernst. Sie belächeln ihn, runzeln die Stirn oder schenken ihm großmütig Applaus, als wäre er ein kleines Kind.

Seine Stücke sollen zum Nachdenken anregen, lassen Platz für Interpretationen. "Ich möchte, dass jeder seine eigene Geschichte in meiner Performance liest, über sich selbst nachdenkt. Ich gebe nichts vor." Auf seiner Facebook-Seite diskutiert er mit seinen Freunden über seine Projekte. Ein Bild des halbnackten Roland während einer Performance ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Einige seiner Freunde beglückwünschen ihn zu seinem Mut, andere sehen nicht die Kunst in dem behinderten Körper auf der Bühne, sondern eine Zurschaustellung seiner selbst. "Im ersten Moment verunsichert mich das. Ich frage mich, ob ich zu weit gegangen bin. Doch ich stehe zu dem, was ich mache, die Menschen müssen das akzeptieren", sagt Roland Walter. Verstecken will er sich nicht. "Es werden so viele nackte Models gezeigt, warum nicht mal deutlich machen, dass auch ein behinderter Körper schön ist. Und wenn ich eine Diskussion anrege, dann habe ich mein Ziel als Künstler erreicht."

"Sei realistisch. Versuch das Unmögliche" - steht an seiner Wohnzimmerwand. Roland Walter lebt in einer Zweizimmerwohnung im Südwesten Berlins, mit der S-Bahn dauert es zwanzig Minuten bis ins Zentrum. Sein Tagesablauf hat feste Strukturen. Sechs Assistenten unterstützen ihn abwechselnd im Alltag, nur vier Stunden am Tag ist er alleine. Wenn es sein Terminkalender zulässt, fährt er einmal im Monat zu seinen Eltern nach Magdeburg. Die Beziehung zu ihnen ist eng, dass er nun auf der Bühne steht, macht sie stolz. "Bei dir ist man vor keiner Überraschung sicher, sagen sie, und das stimmt wohl."

Selbstbestimmt leben

Als Kind besucht Roland Walter zwei Schulinternate, nach der zehnten Klasse geht er von der Schule ab, bekommt seine erste Schreibmaschine, später einen Computer. Er erledigt Schreibarbeiten gegen Honorare, absolviert eine Ausbildung zum Kaufmann. "Nach dem Abschluss sollte ein Wirtschaftsstudium folgen, der Plan war, dass ich Heimleiter für Menschen mit Behinderungen werde. Aber nach der Lehre kam die Wende und damit die Arbeitslosigkeit." Statt eines Studiums belegt er Seminare - zum Webmaster, Journalist, Jugendgruppenleiter. Er engagiert sich in Vereinen, vor allem die Jugendarbeit liegt ihm am Herzen. Dann - mit 37 Jahren - zieht er schließlich bei seinen Eltern aus, endlich, fast zwei Jahrzehnte hat die Suche nach einem Ort gedauert, an dem er selbstbestimmt leben kann. Sein Freundeskreis in Berlin ist groß, doch seit einigen Monaten ist seine freie Zeit begrenzt: Proben, Auftritte und auch Lesungen.

Denn die Bühne ist nicht seine einzige Leidenschaft. Schon als Schüler schrieb Roland gerne, erst Aufsätze, dann Tagebuch, später auch für Zeitungen und Magazine. Vor zwei Jahren verfasste er sein erstes Buch, über sein Leben, seine Behinderung, seine Grenzen. Vier Monate arbeitet er an den knapp hundert Seiten, schreibt Verlage an und erhält zwei Zusagen. Das Buch König Roland. Im Rollstuhl durchs Universum geht in Druck. "Plötzlich hielt ich es in meinen Händen. Mein eigenes Buch."

Sein Netzwerk ist engmaschig. Auf Facebook hat er weit über 600 Freunde, dazu noch zwei Fanpages, eine für den Autor, eine für den Performancekünstler Roland Walter, und einen Blog. "Das Internet ist ein wichtiges Medium für mich als Künstler und Mensch." Viele Stunden am Tag verbringt er vor dem Computer. Teilt Freude und Frust mit seinen Freunden. Etwa, als zu seiner Buchlesung nur eine Frau kommt, die dann auch noch mehr redet als er selbst. "Mit der Zeit können mich solche negativen Ereignisse nicht mehr umhauen. Aufstehen und weitermachen!", postet er. Doch nicht immer ist er so optimistisch. Manchmal packt ihn der Frust, über das Leben, seine schwere Sprechstörung, seine Behinderung, über unwillige Behörden und Ämter.

Trost findet er in seinem Glauben. Er ist aktives Mitglied der Steglitzer Johannes-Gemeinde, manchmal hält er Predigten. Und er fotografiert, stellte schon in Buchläden, Künstlergalerien und Begegnungsstätten aus. Die Fotos zeigen einen Fotografen, der noch am Anfang steht, sich aber weiter entwickelt. Sind seine ersten Bilder ausschließlich Selbstporträts, die an Schnappschüsse erinnern, sind in der zweiten Ausstellung die Sinnesorgane anderer Menschen zu sehen, stärkere Aufnahmen mit einem hohen künstlerischen Anspruch.

Unbeirrbarer Wille

Doch die Bühne ist der Ort an dem Rolands Talent am stärksten zum Vorschein kommt, an dem er die Menschen am meisten berührt. Er zerrt an den Gefühlen des Publikums. Es ist sein unbeirrbarer Wille, den eigenen Körper zu beherrschen, der Kampf um die Freiheit, die er sich so sehr wünscht, weil sie ihm wie jedem anderen Menschen, zusteht. Welche Anstrengung und Willenskraft ihn die Auftritte kosten, kann ein Außenstehender nur erahnen. Im Alltag fällt es ihm schwer, zwei Sachen gleichzeitig zu machen. "Wenn ich eine SMS schreibe, läuft mein Speichel wie ein Wasserfall", sagt Roland, weil er sich sowohl auf das Halten des Handys als auch auf das Tippen konzentrieren muss. Hier liegen seine Grenzen.

Auf der Bühne überschreitet er sie. Wie an diesem Abend im Künstlerloft. Am Ende liegt er gefesselt auf dem Boden der alten Fabrikhalle, nur eine fleischfarbene Unterhose am Körper. Ein Bild des Ausgeliefertseins. "Zu jedem Stück gehört die passende Kleidung", sagt Roland Walter: "Ich habe kaum Privatsphäre, habe fast immer Menschen um mich herum. Meine Behinderung nimmt mich gefangen, doch ich kämpfe dagegen an, lasse mich nicht gefangen nehmen."

Mit geschickten Bewegungen windet er sich aus den Fesseln der Eisenkette, greift sie mit der Hand, zieht an ihr und schleudert sie schließlich von sich. "Freiheit!", ruft er, "Freiheit!".

Kristin Oeing

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