Nur mit, nicht gegen

Wie Deutschland seine Rolle in der Welt wahrnehmen sollte
Quäker erinnerten 2005 in New York mit Stiefeln an die im Irak gefallenen Soldaten. Foto: dpa/ Kathy Willens
Quäker erinnerten 2005 in New York mit Stiefeln an die im Irak gefallenen Soldaten. Foto: dpa/ Kathy Willens
Einige Freikirchen haben vor kurzer Zeit die Äußerung Bundespräsident Joachim Gaucks zu Deutschlands Rolle in der Welt kritisiert. Der Mennonit Fernando Enns, der auch dem Zentralausschuss des Weltkirchenrates angehört, erläutert die Gründe. Und er skizziert, wie eine deutsche Außenpolitik aussehen könnte, die verstärkt auf zivile Konfliktlösung setzt.

Eine Kolonne von vierzig Wagen fährt vom Flughafen Eindhoven nach Hilversum. Tausende Niederländer säumen die Straßen, um die Opfer der Flugzeugkatastrophe - des Abschusses? - in der Ostukraine auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Die Menschen rücken zusammen. "Heute sind wir alle Niederländer", sagt jemand. Der zentrale ökumenische Trauergottesdienst in der St. Joriskerk im beschaulichen Amersfoort lässt die sonst so säkularisiert erscheinenden Menschen im Schutz eines alten Gotteshauses Worte und Trost finden. Krieg, der immer irgendwo auf der Welt stattfindet, ist plötzlich so real, so nah. Der Verlust von Menschen, die mit dem Konflikt in der Ukraine scheinbar nichts zu tun hatten, schmerzt unsäglich und treibt selbst jenen Tränen in die Augen, die kein Familienmitglied betrauern.

So grausam ist Krieg, und so schmerzhaft sind die "Kollateralschäden", die jeder militärisch ausgetragene Konflikt mit sich bringt. Sind wir fähig, diesen Schmerz auch zu fühlen, wenn es sich bei den Getöteten nicht um Niederländer, Australier, Amerikaner oder Deutsche handelt, sondern um Afghanen, Syrer, Irakis oder Malier? Ja, müsste dies nicht die primäre, handlungsleitende Fragestellung sein: Wie sind die Verwundbarsten zu schützen, nicht nur vor der Gewalt durch fremde Aggressoren, sondern vor unserem eigenen militärischen Handeln?

Vor sechs Jahren wurde in Berlin ein Ehrenmahl für Angehörige der Bundeswehr errichtet, die "ihr Leben in Folge der Ausübung ihrer Dienstpflichten für die Bundesrepublik Deutschland verloren haben", aber kein Mahnmahl für die durch deutsche Soldaten oder Waffen Getöteten. Warum nicht

Beunruhigt und irritiert

Compassion, Mitleid mit möglichen Opfern in der weltweiten Ökumene, scheint - wenn überhaupt - nur am Rande auf, wenn öffentlich darüber diskutiert wird, wie "Deutschlands Rolle in der Welt" und seine "Verantwortung" definiert und gestaltet werden soll? Die Verteidigungsministerin, der Außenminister und sogar der Präsident der Bundesrepublik haben sich dazu während der diesjährigen "Münchener Sicherheitskonferenz" nahezu gleichlautend positioniert.

"Höchst beunruhigt und irritiert" haben sich daraufhin verschiedene evangelische Freikirchen, Mennoniten, Methodisten und Baptisten, gemeinsam an Bundespräsident Joachim Gauck gewandt. Von einem, der die schmerzvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib erfahren und die gewaltfreie Umwälzung seines Landes mitgestaltet habe und der selbst bekennender Christ und Theologe sei, wäre doch zu erhoffen, dass er die eigene politische Verantwortung so zur Sprache bringe, dass sie "dem Weg Jesu Christi entspricht". Für die Freikirchen heißt dies zunächst ganz allgemein, "dass in all unserem Handeln - gegenüber Freunden wie Feinden - stets die Liebe Gottes zu allen Menschen sichtbar werden möge ... und alles zu unterlassen, was dieser Liebe widerspricht".

Freilich ist der dringenden Aufforderung des Präsidenten unbedingt zu folgen, die Augen nicht zu schließen, vor Bedrohungen nicht zu fliehen, sondern standzuhalten, universelle Werte weder zu vergessen oder gar zu verraten, sondern "gemeinsam mit Freunden und Partnern zu ihnen stehen, sie glaubwürdig vorleben und sie verteidigen". Aber muss ein solches Engagement nicht auch - und gerade - beharrlich im Dialog mit jenen gesucht werden, die offiziell nicht zu unseren Freunden zählen? Ein wesentlicher Teil der beschworenen Werte würde sich doch darin bewähren, dass das Denken in Kategorien von Freund und Feind aufgebrochen wird und vor allem diejenigen in den Mittelpunkt gerückt werden, deren Stimme kaum Gehör findet, die wirtschaftlich Benachteiligten und an Leib und Leben Bedrohten, egal welcher Nationalität sie angehören? Inwiefern wir ihren Bedürfnissen gerecht werden, daran wird sich die Glaubwürdigkeit dieser Werte messen lassen müssen.

Bundespräsident Gauck aber verbindet in seiner Münchener Rede den Frieden in Deutschland unmittelbar mit Wohlstand und freiem Handel. "Aus all dem leitet sich Deutschlands wichtigstes außenpolitisches Interesse im 21. Jahrhundert ab: dieses Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen."

Aber für wen hat dieses System denn tatsächlich Wohlstand und Frieden geschaffen? Zu viel Elend in der Welt, nicht nur in fremden Regionen, zu viele Verlierer auch in unserer Gesellschaft, verbieten es, Gaucks Schlussfolgerung zu folgen. Zukunftsfähigkeit wird vielmehr daran zu messen sein, inwiefern die Rechte und Überlebensbedürfnisse der Schwächsten für eine Außenpolitik von Belang sind. Konflikt- und Kriegsprävention, Friedensbildung beginnt genau hier.

Großes Ungleichgewicht

In diesem Zusammenhang weist der Bundespräsident auf die Entwicklungszusammenarbeit hin. Deutschland investiere hier auch deshalb große Summen, "weil es helfen möchte, stabile und eben sichere Gesellschaften aufzubauen". Wiederum ist kritisch nach der Glaubwürdigkeit solcher Aussagen zu fragen, so lange Deutschland weit von seinem Versprechen entfernt ist, bis 2015 die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7 Prozent (!) des Bruttoinlandsprodukts wachsen zu lassen. Wie klingt das in den Ohren derer, die schon jetzt ums Überleben bangen und von denen wir den Verzicht auf Waffengewalt auch dann einfordern, wenn sie ihre Grundrechte durchsetzen wollen? Das große Ungleichgewicht zwischen Deutschlands Verteidigungshaushalt und dem für Entwicklungszusammenarbeit ist nicht geeignet, Vertrauen wachsen zu lassen.

Zu Recht analysiert Gauck, dass die Gefahren durch die Aufrüstung ganzer Regionen wachsen und vor allem im Nahen Osten einzelne Feuer zu einem Flächenbrand führen. Doch die sich aufdrängende Folgerung, Deutschland müsse Rüstungsexporte sehr viel zurückhaltender gestalten oder - besser noch - ganz unterlassen, bleibt aus. In der internationalen Ökumene aber wird darauf immer lauter hingewiesen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg haben Deutschlands Kirchen weltweit wachsende Anerkennung dafür geerntet, dass sie mit ihrer Vergangenheit selbstkritisch umgehen. Andere respektieren Deutsche auch, weil sie offensichtlich aus ihrer Geschichte lernen und auf gewaltfreie Konfliktlösung setzen. Nur wenn wir dies beharrlich als unsere besondere Verantwortung vertreten, bleibt das über Jahrzehnte erworbene Vertrauen, auch bei nicht befreundeten Nationen, erhalten.

Niemand sieht in der internationalen Ökumene "Deutschland schlicht als Drückeberger in der Weltgemeinschaft", wie es anscheinend der Bundespräsident tut. "Bei schwierigen Fragen ducke sich Deutschland allzu oft weg", meint er zu hören. Wenn solche vage Behauptungen darauf abzielen, die Bereitschaft der Deutschen für militärische Einsätze zu erhöhen, wird jenes kostbare Vertrauen in der Ökumene leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Nur wer sich in einem Konflikt nicht leichtfertig als Partei vereinnahmen lässt, bewahrt zumindest die Chance auf gewaltfreie Konflikttransformation.

Lehren aus Afghanistan

Viel hängt davon ab, welche Lehren aus dem umfangreichen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan gezogen werden. "Vielleicht ist nicht exakt genug zu klären, ob nach dem Militäreinsatz die Verhältnisse in einem Krisengebiet besser sein werden", stellt Gauck fest, meint aber: "Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig." Selbst wenn man der Lehre vom gerechten Krieg folgt, die die Ökumene längst verabschiedet hat, kann man diesen Schluss nicht ziehen. Die evangelischen Freikirchen, die dem Bundespräsidenten schrieben, sind der Meinung, "dass deutsche Soldaten (in Afghanistan) 'umsonst' gestorben sind und vergeblich getötet haben". Sie distanzieren sich von diesem Einsatz, wie sie das schon zu seinem Beginn getan hatten.

Völlig unbestritten ist, dass Hilfe jenen nicht versagt werden darf, die von Völkermord oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedroht sind. Auch die Kirchen in der internationalen Ökumene haben das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) ausführlich diskutiert. Doch dieses in sich wertvolle theoretische Konzept ist bereits diskreditiert, auch von deutschen Politikern und Politikerinnen, spätestens seit der Diskussion um einen Militäreinsatz in Libyen. Daher muss die entscheidende Frage jetzt lauten: Wie kann dieser Schutz so gestaltet werden, dass dabei gerade nicht jene Werte preisgegeben werden, für die Deutschland einzutreten will?

Die vielen zivilen Einsätze in gewalthaltigen Krisen belegen: Es gibt Alternativen. Und diese zu fördern und zu entwickeln, sollte primäre Aufgabe deutscher Sicherheitspolitik sein und vom Staat gezielt unterstützt werden. Sicher ist damit nicht jeder Gewaltexzess aufzuhalten, auch darüber sollte es keinen Zweifel geben. Doch es entspricht den angemahnten Werten eher, alle Kraft in die Weiterentwicklung und Praktikabilität internationaler polizeilicher Maßnahmen unter dem Mandat der Vereinten Nationen zu stecken (just policing, in Ausbildung, Methodik und Rechenschaftspflicht eben nicht-militärisch!), statt auf ein stärkeres Engagement Deutschlands in der NATO zu drängen oder gar unabhängig von der Fortentwicklung des internationalen Rechts national über die Anschaffung neuer Waffensysteme wie bewaffneter Drohnen zu diskutieren.

Der Bundespräsident sagte, Deutschland solle "entschlossener weitergehen, um den Ordnungsrahmen aus Europäischer Union, NATO und den Vereinten Nationen aufrechtzuerhalten und zu formen. Die Bundesrepublik muss dabei auch bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr von anderen seit Jahrzehnten gewährt wurde". Während in EU und UNO zumindest der wertvolle Versuch zu erkennen ist, alle Beteiligten zum Wohle des Friedens einzubinden, erschließt sich Gaucks Logik nicht bei einem reinen Militärbündnis, das zuweilen jene politischen Institutionen gerade aushebelt und primär die eigene Sicherheit verfolgt. "Unsere Sicherheit" isoliert von der Sicherheit der jeweils Anderen zu diskutieren, greift ganz sicher zu kurz. Der Wandel vom Streben nach nationaler Sicherheit zur gemeinsamen Vorrangigkeit menschlicher Sicherheit ist von allen Kirchen der weltweiten Ökumene längst vollzogen worden. Sollte Deutschland nicht politische Antriebskraft gerade solcher Denkbewegungen sein?

Vereinfachende Logik

Es braucht keinerlei prophetischer Gaben um zu erkennen, dass in der wirtschaftlich wie medial vernetzten Welt gewaltsame regionale Konflikte in Zukunft noch unmittelbarer unseren Alltag berühren. Die momentanen Flüchtlingsströme sind womöglich nur ein Vorgeschmack dessen, was Westeuropa erwartet, wenn nicht - gemeinsam mit den jeweils direkt Betroffenen - gewaltfreie, gerechte Lösungen gelingen. Frieden in der Ukraine wird nicht gegen, sondern nur mit Russland möglich. Frieden in Israel und Palästina wird nicht gegen, sondern nur mit den gemäßigten Kräften der Hamas möglich. Frieden in Afghanistan wird nicht gegen, sondern nur mit den Taliban möglich. Frieden in Syrien wird nicht gegen Präsident Baschar al-Assad möglich - jedenfalls so lange er einen solch großen Rückhalt hat. Und dies gilt ganz sicher auch für die vielen Dauerkriege in Afrika.

Wenn es tatsächlich um Sicherheit für ein gelingendes Leben der Menschen am Ort geht und nicht vorrangig um unsere (Wirtschafts-)Interessen, müssen wir aufhören, das Böse jeweils allein auf einen Machthaber oder eine gewaltbereite Gruppe zu projizieren und zu meinen, Frieden werde schon möglich, wenn diese mit Gewalt gestoppt würden. Dieser vereinfachenden Logik neigt seit dem Ende des Kalten Krieges auch die deutsche Außenpolitik zu. Die eigene Bevölkerung mag mit kampagnenartig vorgetragenen Argumentationsmustern einigermaßen beruhigt werden, um gegen militärische Auslandseinsätzen nicht noch lauter zu protestieren, aber Frieden wird so nicht geschaffen. Denn er ist eben mehr als die Abwesenheit von Krieg. Der Weg dorthin wird wohl nur gelingen, wenn wir uns von der Versuchung militärischer Gewaltanwendung befreien lassen, kein militärisches Gerät mehr exportieren und nicht vorrangig Soldaten andere Ländern ausbilden, sondern beständig Recht und Gerechtigkeit üben, auch gegen uns selbst.

Im Weltrat der Kirchen haben die Kirchen vor einem Jahr, bei der Vollversammlung im koreanischen Busan, entschieden, die kommenden sieben Jahre als "Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens" zu gestalten. Leitend ist dabei die Einsicht, dass Frieden und Gerechtigkeit nur wachsen können, wenn auch unsere Mittel und Wege bereits durch Frieden und Gerechtigkeit charakterisiert sind.

Das ist eine Spur, die auch der Verantwortung Deutschlands in der Welt angemessen wäre. Man muss kein Christ sein, um solchem politischen Kalkül zu folgen. Aber Christen erschließt sie sich womöglich leichter, weil wir uns in Trauergottesdiensten - wie in Amersfoort - an die Verletzbarkeit und Unverfügbarkeit jeden Lebens erinnern lassen, das unbedingt zu schützen ist, in der Nachfolge Jesu bei der Überwindung des Bösen durch das Gute.

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Fernando Enns

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