Offenes Haus für Gott

Gespräch mit dem islamischen Theologen Harry Harun Behr über den Koran, Dschihad, Scharia und die Gleichberechtigung von Frauen und Schwulen
Foto: privat
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Fundamentalisten und Terroristen prägen das Bild des Islam in der deutschen Öffentlichkeit. Liberale Stimmen werden eher selten laut. Sicher sind sie (noch) nicht repräsentativ, aber es gibt sie.

zeitzeichen: Herr Professor Behr, Sie sind im Alter von 17 Jahren zum Islam konvertiert. Hat es da ein Ereignis gegeben, das Sie von einem zum anderen Augenblick fundamental verändert hat? Im Christentum würde man von Bekehrung sprechen.

Harry Harun Behr: Nein. Ich stamme aus einem jüdischen Elternhaus und bin geprägt durch meinen Vater, der Feuilletonist war und meine Mutter, die Tänzerin am Koblenzer Staatsballett gewesen ist. So haben mich Fragen, die Kunst, Kultur und Philosophie aufwerfen, von Kindheit an beschäftigt. Mit 17 Jahren bin ich als Gastschüler nach Indonesien gegangen. Und dort bin ich zum Islam konvertiert aufgrund der Begegnung mit gelebter islamischer Kultur und dem Koran, zunächst auf Englisch, dann zunehmend auf Arabisch. Der Islam hat mich ästhetisch und intellektuell angesprochen. Doch dann ist am 11. September 2001 der Anschlag in New York passiert. Just an diesem Tag habe ich mit einer Doktorarbeit zum Thema "Curriculum Islam" beginnen wollen. Ich habe mich gefragt, ob das noch sinnvoll ist. Ich habe mein Vorhaben zwar ausgeführt, aber die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem, was mich bislang nur religiös beschäftigt hatte, hat dazu geführt, dass ich phasenweise nicht mehr gebetet und die religiösen Riten nicht mehr beachtet habe. Aber nach diesem Moratorium habe ich zurückgefunden. Und wenn ich heute zurückblicke, habe ich das Gefühl, dass ich auf meinem Weg begleitet und an der Hand genommen worden bin. Ich bin auch mal geschubst worden und hingefallen, aber immer wieder aufgestanden, mit und ohne Hilfe.

Und was ist Ihnen im Augenblick an Ihrem Glauben besonders wichtig?

Harry Harun Behr: Ich möchte als Professor, der angehende Religionslehrer ausbildet, gerade in Zeiten des IS und anderer schrecklicher Dinge, den Islam als Ressource erschließen und nicht nur als Hindernis für eine demokratische Gesellschaft diskutieren. Darum geht es ja auch muslimischen Jugendlichen. Sie fragen sich: Hilft mir der Islam dabei, mein Leben als Muslim oder Muslimin in Deutschland zu führen und mich hier einzurichten, oder ist er dabei ein Hindernis? Muss ich ihn loswerden, oder kann ich ihn so stark verändern, so dass ich mich vom Korsett der Traditionen befreien kann? Ich entdecke zunehmend, dass die alten theologischen Traditionen des Islam das Potenzial zur Verfügung stellen, die Lehre zu reformulieren und neu zu erschließen, den Koran neu zu lesen, ihn auch in seinem Gewachsensein zu verstehen und spirituelle Tiefe zu gewinnen. Die akademische islamische Theologie ist noch zu narzisstisch ausgelegt, um die Menschen draußen in den Blick zu nehmen. Aber ich bin optimistisch. Ich denke schon, dass sich dies in den kommenden Jahren ändern wird. Ja, es hat schon begonnen.

Inwiefern?

Harry Harun Behr: Bei uns hat vor kurzem ein islamischer Theologe mit summa cum laude seine Doktorprüfung bestanden, der sich mit islamischer Erkenntnistheorie beschäftigt hat und schlicht und ergreifend zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Scharia menschengemacht ist.

Deutet das auf eine anthropologische Wende im Islam hin?

Harry Harun Behr: Das könnte man sagen, wobei sich der Doktorand auf Literatur aus dem 10. und 11. Jahrhundert nach Christus gestützt hat. Sie haben mich gefragt, was mich am Islam fasziniert. Dazu gehört, dass man in den alten Quellen Denkansätze findet, die fast zu einer existenzialen Interpretation führen, wie sie der evangelische Theologe Rudolf Bultmann für das Neue Testament betrieben hat. Aber das gegenwärtige islamistische Brimborium führt dazu, dass Muslime zunehmend von ihren eigenen Quellen abgeschnitten sind.

Was meinen Sie mit Brimborium?

Harry Harun Behr: Ich meine die zunehmende politische Ideologisierung des Islam als politische Kraft wie zum Beispiel in Malaysia. Ich bin im Juli im Auftrag der Europäischen Kommission dort gewesen, um über religiöse Minderheitenrechte in den Asean-Staaten zu sprechen. Der Premierminster Najib Razak sagte, die größte Gefährdung des Islam gehe vom westlichen Humanismus und den Menschenrechten aus, während der damalige isis gut sei, weil Muslime von ihm lernen könnten, dass man vor dem Westen keine Angst haben muss. Oder nehmen wir die Türkei: Dort missbraucht die AKP den Islam, um eine politische Leitkultur in ihrem Sinne zu entwickeln.

Bei Protestanten gibt es grob gesprochen zwei Gruppen: Die einen sagen: Die Bibel ist Gottes Wort. Die anderen sagen dagegen: Die Bibel enthält Gottes Wort. Wie würden Sie das für den Koran formulieren?

Harry Harun Behr: Ich würde sagen, der Koran ist Rede Gottes im Sinne des Wortes Gottes, aber in der Gestalt menschlicher Wörter. Und diese Einsicht ist gar nicht neu. Man muss nur die Diskussionen um die Natur des Koran zur Kenntnis nehmen, die im 10. Jahrhundert nach Christus in Basra geführt worden sind. Dort sind einige kritisch-rationale theologische Schulen entstanden, die nach Zeitgebundenheit und Überzeitlichkeit der Wörter Gottes im Koran gefragt haben. Aber sie haben sich nicht durchgesetzt. Für mich enthält der Koran weniger Informationen über Gott als darüber, wie die Menschen ihrer Zeit Gott gesehen haben. Aber gerade darin spiegelt sich für mich das Wirken Gottes. Der Koran ist im Grunde genommen der Beginn der islamischen Theologie. Und diese muss fortgeschrieben, das heißt, der Koran muss weitergelesen werden. Denn er ist nicht so etwas wie ein Endbahnhof des göttlichen Zuges. Und so fordert der syrische Theologe Jawdat Said im Hinblick auf die Gewalt eine völlig neue Lesart des Koran, da die bisherigen Auslegungen nicht die friedenstiftenden Effekte erreicht hätten, die sie postuliert haben.

Welche Rolle hat aus Ihrer Sicht Mohammed bei der Entstehung des Koran gespielt?

Harry Harun Behr: Das ist schwer zu beschreiben, weil wir keinen Zugang zu außerislamischen historischen Quellen haben. Aber das, was Muhammad ergriffen hat, kann ich nachvollziehen, wenn ich bete. In der islamischen Anbetung wird ja der arabische Koran zitiert. Ich suche dazu die Gebetsrichtung nach Mekka, verlasse mich selbst und schaffe Raum für die Rede Gottes. Ich öffne sozusagen mein Haus, um Gott Eintritt zu gewähren. Er redet in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist, auf Arabisch. Und das ist unheimlich wichtig.

Warum?

Harry Harun Behr: Nur dann spüre und empfinde ich, dass hier eine authentische Rede geschieht, die etwas mit mir macht, was sich meiner kognitiven Beobachtung und Kontrolle entzieht. Und ich lasse das zu.

Warum ist denn dabei das Arabische so wichtig?

Harry Harun Behr: Ich habe mich mal eine Zeit lang betenderweise mit einer deutschen Übersetzung abgemüht. Aber das hat nicht funktioniert. Warum das so ist, ist schwer zu erklären, ja, ich kann es nicht auf den Punkt bringen.

Hat die Rezitation des Koran auf Arabisch eine Wirkung wie Musik?

Harry Harun Behr: Genau. Das stellt auch der Koran selber fest. Sure 34 Vers 10 sagt, in den Psalmen sangen die Vögel und die Berge gemeinsam mit David den Lobpreis Gottes. Vielleicht spielt bei mir auch eine Rolle, dass meine jüdischen Eltern mich katholisch taufen ließen. Im Religionsunterricht habe ich das Vaterunser auch auf Latein gelernt. Und wenn ich es in einer muslimischen Klasse mit den alten arabischen Rezitationsregeln vortrage, was in etwa dem singenden Vortrag nach der alten jüdischen Gesangstradition, hebräisch "zemra" und arabisch "zabuur", entspricht, sagen die Schüler, das klinge wie der Koran.

Muss jemand, der den Islam richtig erfassen und spirituelle Erfahrungen machen möchte, also auf jeden Fall arabisch lernen?

Harry Harun Behr: Ja, das ist wichtig.

Und was machen Leute, die sich mit fremden Sprachen schwer tun?

Harry Harun Behr: Ich habe beobachtet, dass auch Leute, die zum Islam konvertieren und kein Arabisch können, spirituelle Erfahrungen machen. Aber diese vertiefen sich, wenn sie sprachlich einen besseren Zugang zu den Quellen des Koran bekommen. Dabei spielen Lehrer eine wichtige Rolle.

Es ist immer schwierig, ja eigentlich ein Unding, aus einer heiligen Schrift Verse losgelöst vom Zusammenhang zu zitieren. Trotzdem wollen wir Sie mit einer Sure konfrontieren, die immer zitiert wird, um Kritik am Islam zu untermauern. In Sure 5 Vers 82 heißt es laut einer deutschen Übersetzung: "Du wirst ganz gewiss finden, dass diejenigen Menschen, die den Gläubigen am heftigsten Feindschaft zeigen, die Juden und diejenigen sind, die sich ihnen beigesellen. Du wirst ganz gewiss finden, dass diejenigen, die den Gläubigen in Freundschaft am nächsten stehen, die sind, die sagen, wir sind Christen." Heißt das, Muslime stehen den Christen näher als den Juden?

Harry Harun Behr: Das heißt zunächst, dass dies in der Situation, in der der Vers entstanden ist, offensichtlich eine Rolle gespielt hat. Er bezieht sich auf die Zeit in Medina und die zunehmenden Konflikte, die die eine oder andere Gruppe in der Stadt ausgelöst hat, weil sie Verträge nicht gehalten hat. Gerade dieser Vers zeigt, dass man den historischen Zusammenhang ergründen muss. Aber das ist manchmal schwer, weil der Koran die Kenntnis der historischen Situation schon voraussetzt. Dann muss man eben ähnliche Texte des Koran - an anderen Stellen und aus anderen zeitlichen Kontexten - hinzunehmen und fragen, welche Entwicklung zu erkennen ist. Schwierig wird es, wenn eine Handlungsmaxime, die der Koran formuliert, als allgemein gültige religiöse Regel überhöht wird, um zum Beispiel Antisemitismus islamisch zu unterfüttern. Wenn im Koran "yahuudiyyan" steht, meint er selbstverständlich damalige Menschen und Gruppen und natürlich nicht die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg oder das Leo-Baeck-Institut in London - und mit "nasraaniyyan" nicht die Glaubenskongregation des Vatikan oder das EKD-Kirchenamt. Und was der Koran "tauraa" nennt, kann man nicht einfach als Thora übersetzen. Denn hier geht es nicht um die geschriebene, sondern um die gesprochene Thora, was in der jüdischen Theologie ja ein fundamentaler Unterschied ist. Dasselbe gilt für "indschiil". Damit sind nicht die Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes gemeint, sondern die Kindheitsmythen Jesu, die zum Beispiel das Thomasevangelium erzählt und die im orientalischen Christentum noch eine Rolle spielen.

Wenn der Koran sich stark auf die Situation im Mekka und Medina des 7. Jahrhunderts bezieht, welche Bedeutung kann er noch für das Leben der Muslime im 21. Jahrhundert haben? Ist zum Beispiel eine moderne Errungenschaft wie die Gleichberechtigung von Frau und Mann aus islamisch-theologischer Sicht legitim?

Harry Harun Behr: Meine Antwort ist ein klares Ja. Wir leben, wie es mein Kollege und Freund Anis Ahmad, der Leiter der islamischen Universität Islamabad, ausgedrückt hat, "in a man's world", einer männlich geprägten Welt. Und natürlich gibt es im Koran einige problematische Stellen. Wenn man Sure 4, Vers 34 böswillig übersetzt, stehen die Männer über den Frauen, wenn man sie wohlwollend übersetzt, stehen sie für die Frauen ein.

Gibt es auch Stellen, die eindeutig frauenfreundlich sind?

Harry Harun Behr: Das Schlichtungsgebot in Vers 4,35 sieht bei einer Trennung von Tisch und Bett vor, dass beide, Mann und Frau, das Recht haben, jeweils einen eigenen Schlichter zu bestimmen. Das ist für die damaligen Verhältnisse nachgerade revolutionär gewesen. Muhammad ist als Prophet der Frauen, Kinder und Sklaven beschimpft worden. Der Koran brandmarkt die Abtreibung und Tötung von weiblichen Föten, bis der ersehnte Sohn zur Welt kommt. Das ist zum Beispiel in China ein hochaktuelles Problem. Nach Sure 4, Vers 1 wurden alle Menschen aus einer einzigen Seele erschaffen. Das arabische Wort dafür ist feminin: "min nafsin waahidatin". Und das Ursprungswesen, das der Koran erwähnt, ist die Einheit zweier Partner, arabisch "azwaadsch": des rechten und des linken Schuhs. Niemand würde behaupten, dass der eine Schuh wichtiger ist als der andere. Damit ergibt sich ein partnerschaftlicher Ansatz für das Verhältnis von Mann und Frau. Und es gibt auch nicht der Schuh und die Schuh. Wenn Menschen also wie zwei Schuhe zusammengehören, dann trifft das, um das Bild zu übersetzen, die Partnerschaft von Frau und Mann, Mann und Mann, Frau und Frau.

Das heißt, auch homosexuelle Partnerschaften sind aus islamisch-theologischer Sicht legitim.

Harry Harun Behr: Ja sicher, auch wenn sich homophobe Theologen im Islam wie in Christentum und Judentum gerne auf die Sodomgeschichte berufen.

Steht diese Geschichte auch im Koran?

Harry Harun Behr: Ja. Aber der Koran brandmarkt nur die Vernachlässigung der Frauen, die, so die Interpretation, in der homosexuell geprägten Gesellschaft Sodoms entstanden sei. Den Koran interessiert überhaupt nicht die sexuelle Orientierung von Menschen, sondern soziale Gerechtigkeit, die gerechte Verteilung von natürlichen Gütern und dass die Starken für die Schwachen verantwortlich sind.

Können Sie sich einen schwulen Imam vorstellen?

Harry Harun Behr: Sicher, und ich kenne genügend schwule Imame. Aber ein Coming-out kann für sie oft lebensbedrohlich sein.

Das ist in Deutschland sicherlich anders als in Malaysia.

Harry Harun Behr: In muslimischen Gemeinden in Toronto, Seattle und Durban ist es sicher einfacher als in Malaysia, Ägypten und Pakistan.

Glauben Christen und Muslime an den gleichen Gott?

Harry Harun Behr: Ja. Die Frage ist für den Islam als jüngste der drei abrahamitischen Religionen natürlich einfacher zu beantworten als für die anderen beiden. Denn zurückliegende Theologien stellen für Muslime im Grunde genommen keine Herausforderungen dar. Ich bin für interkonfessionelle Schulgottesdienste. Und ich versuche meinen muslimischen Studenten beizubringen, dass es für sie überhaupt kein Problem sein muss, das Vaterunser mitzusprechen. Denn mit Vater ist ja nicht eine Person der Trinität gemeint. Vielmehr wird das vertrauensvolle Verhältnis deutlich, das Jesus mit Gott verbunden hat und das er seinen Jüngern vermitteln möchte.

Wenn in Deutschland über den Islam diskutiert wird, fällt immer das Stichwort "Scharia". Gemeint ist damit eine Rechtsordnung, die mit dem Grundgesetz unvereinbar ist. Was bedeutet für Sie Scharia?

Harry Harun Behr: Wenn ein Christ vor dem Essen betet, ist das Scharia. Denn das arabische Wort Scharia bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als einer Religion Gestalt zu verleihen. Eine Religion wird nun einmal sichtbar durch Riten, bestimmte Gebetsformen, Gottesdienste und moralische Einstellungen. Der arabische Begriff Scharia bedeutet Normen- und Methodenlehre, aber er bedeutet nicht Strafrecht.

Aber es gibt doch Versuche, islamische Rechtsvorschriften auch in Deutschland durchzusetzen, oder?

Harry Harun Behr: Für eine Schariatisierung Deutschlands sorgen nicht eine obskure Schariapolizei, sondern deutschen Gerichte. Leider - muss ich sagen. Im vergangenen Jahr hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, muslimische Mädchen könnten am koedukativen Schwimm-unterricht teilnehmen, wenn sie einen Burkini tragen, einen Badeanzug, der einen Großteil des Körpers bedeckt. Somit entfiele der Rechtsanspruch, sich vom Schwimmunterricht abzumelden. Ich halte das Urteil für eine Katastrophe. Denn es kommt in vorauseilendem Gehorsam solchen Muslimen entgegen, die Scharia als ein System strikter Gebote verstehen, denen zu gehorchen ist. Nach der Überlieferung wurde der Koran aber offenbart, um den Menschen glücklich zu machen und nicht, um ihn unglücklich zu machen.

Entspricht das der Mahnung Jesu, der Sabbat sei für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat?

Harry Harun Behr: Ja. Der Islam dient den Menschen und nicht umgekehrt. Aber wir haben leider eine zunehmende Ideologisierung des Schariabegriffes. Und die betreiben in der Regel nicht Religionsgelehrte, sondern Technokraten, die sich der Islamisierung bedienen. Der Islamismus ist die theologieferne Technokratisierung des Islam, die Gefügigmachung einer Religion, einer spirituellen Lebensweise, durch Machthaber, die ihre Untertanen gleichschalten wollen.

Der zweite islamische Begriff, den jeder kennt, ist "Dschihad". Er wird mit dem Heiligen Krieg gleichgesetzt, stimmt das?

Harry Harun Behr: Der arabische Begriff Dschihad bedeutet im Koran zunächst die Anstrengung des Subjekts mit Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, größtmögliche Erfolge zu erzielen. Eine adäquate Übersetzung wäre Kampf, nicht Krieg, sondern für eine Sache kämpfen und um jemanden kämpfen.

Zum Beispiel ...

Harry Harun Behr: … sich im Beruf anstrengen und vorwärts kommen wollen und nach einer Niederlage wieder aufstehen. Das ist alles sehr anstrengend und muss gelernt und eingeübt werden. Muslimische Eltern, die ihre Kinder bei mir zum Islamunterricht anmelden, sagen oft ganz offen, ihnen gehe es nicht um Glaubensfragen, sondern darum, dass der Islamunterricht den Kindern eine Arbeitsethik vermittelt, so dass sie in der Schule bessere Noten erzielen. Das ist ein dschihadistisches Motiv, wenn Sie so wollen. Das arabische Wort für Krieg ist entweder "harb" - wie in Sure 5, Vers 33, wo vom Krieg gegen Gott und den Gesandten die Rede ist - oder "qitaal", das ist die Wallstatt, da wo Blut fließt, wo mit dem Schwert geschnitten wird. Natürlich kennt der Koran den militärischen Kampf, weil Muhammad und die Seinen in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt worden sind. Im Koran gibt es wie im Christentum ein Konzept des Gerechten Krieges. Aber die meisten muslimischen Theologen sagen heute, es gebe keine muslimische Institution, die das Recht hätte, zum Dschihad im Sinne eines bewaffneten Kampfes aufzurufen.

Sie haben die spirituelle Seite des Islam hervorgehoben. Wo kommt Ihre Spiritualität denn ins Schwingen?

Harry Harun Behr: Das hängt von Stimmungen und Orten ab. Besonders ins Schwingen kommt sie, wenn ich in Kairo die Grablege von Imam Schafi'i besuche. Sie befindet sich an einer Moschee, die auf die mamlukische Zeit zurückgeht. Der Besuch dieser Grablege hat mich wesentlich mehr gepackt als die Wallfahrt nach Mekka. Intensive spirituelle Erfahrungen mache ich auch, wenn ich in der Natur bete. Ich habe es nicht so sehr mit Menschenmassen. Aber ich freue mich, wenn ich in einer Moschee gemeinsam mit Leuten bete, die mir zunächst völlig fremd sind und dann plötzlich eine Verbindung entsteht und die Fremdheit sich auflöst.

Muslime heben oft die Ästhetik des Islam hervor. Beziehen Sie selber das auf das Akustische, die Rezitation von Koransuren, oder auf das Optische, Moscheen und ihre Mosaiken, oder auf beides?

Harry Harun Behr: Für mich verbinden sich Klänge mit Farben und Farben mit Tönen. Und das gleiche gilt für Gerüche. Meine Konversion zum Islam wurde ausgelöst durch die bunte muslimische Alltagskultur Indonesiens, die Farbenpracht der Gebetsteppiche, die puppenstubenartige Anmutung der kleinen Moscheen mit ihren Blechdächern, die arabische Kalligraphie, die Speisen und ihre Düfte und vor allen Dingen durch den spiritualisierten Alltag. Und dazu hat gehört, dass die muslimische Mehrheitsgesellschaft nichtislamische Formen in die Alltagsspiritualität und Ästhetik integriert hat.

Wie das?

Harry Harun Behr: Zum Ramadanfest ist die ganze Nachbarschaft zum Essen eingeladen worden, auch mein buddhistischer Klassenkamerad und einer, der zu den Sieben-Tags-Adventisten gehört hat. Umgekehrt sind Muslime zu Weihnachtsfeiern und anderen religiösen Feste eingeladen worden. Am Montagmorgen hat die Schule mit dem Mathematikunterricht begonnen. Das Gebet vor dem Unterricht haben der Reihe nach alle Schüler gehalten, also Muslime, Hindus, Katholiken, das waren meistens Chinesen, Buddhisten, Anhänger animistischer Kulte und erwähnter Sieben-Tags-Adventist. Und alle haben sich dazu erhoben, geschwiegen und zugehört.

Das Gespräch führten Reinhard Mawick und Jürgen Wandel am 25. Februar 2015 in Frankfurt am Main.

Harry Harun Behr lehrt seit einem Jahr Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Islam an der Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind Islam und Pädagogik, Fachdidaktik des Islamischen Religionsunterrichts sowie Anthropologie und Koranexegese. 1962 in Koblenz am Rhein geboren, studierte er auf Lehramt Grund- und Hauptschule und arbeitete als Lehrer in München. Behr promovierte über Islamischen Religionsunterricht und Curriculumtheorie. 2005 wurde er als Professor für Islamische Religionslehre an die Universität Erlangen-Nürnberg berufen.

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