Distanz und Vergötterung

Der Protestantismus und Otto von Bismarck, der vor zweihundert Jahren geboren wurde
Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 in Schönhausen an der Elbe geboren, kurz danach, an Pfingsten, in der Dorfkirche getauft und 1831 in Berlin durch den Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) konfirmiert. Wie sich seine Politik auf den deutsc
Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 in Schönhausen an der Elbe geboren, kurz danach, an Pfingsten, in der Dorfkirche getauft und 1831 in Berlin durch den Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) konfirmiert. Wie sich seine Politik auf den deutsc
Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 in Schönhausen an der Elbe geboren, kurz danach, an Pfingsten, in der Dorfkirche getauft und 1831 in Berlin durch den Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) konfirmiert. Wie sich seine Politik auf den deutschen Protestantismus auswirkte, zeigt Uwe Rieske, Privatdozent für Kirchen-und Dogmengeschichte an der Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn.

Am 1. April 1815, wenige Monate bevor Gesandte der europäischen Staaten auf dem Wiener Kongress zusammentrafen, um die Ordnung Europas nach der Napoleonischen Ära neu zu justieren, wurde dem preußischen Adligen Wilhelm Ferdinand von Bismarck und seiner Frau Luise Wilhelmine ein zweiter Sohn geboren. Wie viele Sprösslinge der alten märkischen Adelsgeschlechter verbrachte er seine Schulzeit in Berlin. Den Religionsunterricht gab Friedrich Schleiermacher, einer der bedeutendsten evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts, von dem er auch konfirmiert wurde.

Am 23. September 1862, mitten im preußischen Verfassungskonflikt, ernannte der preußische König Wilhelm I. Bismarck zum Ministerpräsidenten und Minister des Auswärtigen, und damit wurde er der zweite Mann nach dem Monarchen. Mit seiner Ernennung wurde die uneingeschränkte Vasallentreue des späteren Reichskanzlers gegenüber seinem König deutlich, die über Jahrzehnte sein politisches, aber auch sein kirchenpolitisches Handeln bestimmte: "Ich will lieber mit dem König untergehen als Ew. Majestät im Kampf mit der Parlamentsherrschaft im Stich lassen."

Konsequent verfolgte Bismarck den Ausbau der europäischen Vormachtstellung Preußens und seines Königs, durch Kriege gegen Dänemark, Österreich-Ungarn und Frankreich und eine flankierende zielorientierte Diplomatie. Mit dem Sieg über Österreich und seine Verbündeten konnte 1866 nicht allein das preußische Territorium vergrößert werden. Es gelang die Beilegung des Verfassungskonfliktes, und die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates. Nach dem Sieg über Frankreich wurde Preußenkönig Wilhelm in Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Bismarck begann nun eine kluge außenpolitische Bündnispolitik, gestaltete aber auch Verfassungs-, Wirtschafts- und Verwaltungsreformen.

Und Bismarcks Bedeutung für die Kirchen? Diesbezüglich gingen die Meinungen bereits zu seinen Lebzeiten weit auseinander. Je nachdem, welchem kirchenpolitischen Lager oder welcher Kirche man angehörte, fielen Zustimmung und Ablehnung vehement aus. Preußische Theologen wie der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrates Preußens Wilhelm Hoffmann (1806–1873) und der spätere Berliner Generalsuperintendent Benno Brückner (1824–1905) begeisterten sich für den Reichskanzler und seine Politik. Von der nationalen Einigung erhofften sie sich auch einen Aufbruch im deutschen Protestantismus. Dagegen blieben die konservativen Lutheraner eher skeptisch: Es sei verhängnisvoll, dass der ehemals den preußischen Hochkonservativen nahe stehende Kanzler die Reichsgründung mit der Unterstützung der Nationalliberalen erkauft habe. So halte der Geist des verderblichen Liberalismus Einzug in eine nicht auf Prinzipien, sondern auf Interessen gegründete Politik. Entsprechend blieben die lutherischen Stellungnahmen zu dem - in der Öffentlichkeit begeistert gefeierten - Sieg über Frankreich überaus nüchtern. Kurhessische Geistliche hegten infolge der preußischen Annexion ihres Landes nach dem Sieg von Königgrätz 1866 die Sorge, dass Bismarck auch den Bekenntnisstand ihrer Landeskirche antasten und eine Union einführen könne. Sie waren 1871 in ihren Bußmahnungen so deutlich geworden, dass sie in den Verdacht "vaterlandsverräterischer Gesinnung" gerieten. Schleswig-Holsteinische Lutheraner wandten sich nach dem Sieg über Frankreich entschieden gegen die Auffassung, dass das Kriegsglück "ein Zeichen von Gottes Gnade" sei. Mit den preußischen Siegen habe Deutschland vor allem eines gewonnen, "und das ist mehr Hochmuth als wir Deutschen früher hatten".

Als für den Oktober 1871 zu einem kirchlichen Kongress nach Berlin eingeladen wurde, um nach der nationalen Einheit auch die Einigung des Protestantismus in einer Nationalkirche zu erreichen, sperrten die Lutheraner sich sowohl gegen diese Idee wie gegen die Konferenz selbst. Die mit großen Hoffnungen verbundene "Berliner Oktoberkonferenz", an der 1200 Teilnehmer aus deutschen Landeskirchen teilnahmen, scheiterte mit ihrem Anliegen einer konfessionsübergreifenden Kirchenkonföderation am Widerstand der lutherischen Konservativen - und mit ihr die Idee einer deutschen Nationalkirche. Die selbstbewussten Lutheraner Preußens und der neupreußischen Provinzen forderten, dass die geschichtlich gewachsenen Bekenntnisse respektiert, insbesondere aber auch der Bereich des kirchlichen Wirkens von allen staatlichen Machtansprüchen frei bleiben müsse.

Der Lutheraner Christoph Ernst Luthardt (1823–1902) proklamierte, dass der Staat der Kirche "ihr besonderes Wesen, ihre eigenen Ziele und ihre eigenthümliche Form" zugestehen müsse, damit sie ihre unverzichtbare sittliche Kraft für das staatliche Leben entfalten könne. Allein eine unabhängige evangelische Kirche, die der Macht des Evangeliums verpflichtet sei und sich auf ihre Bekenntnisse besinne, werde den ihr von Gott gegebenen Auftrag erfüllen und auch dem Staat zum Segen dienen.

Gewiss hat Bismarcks leidenschaftliche auf die Interessen Preußens und seines Königs gerichtete Machtpolitik evangelisches Selbstbewusstsein in allen Lagern gestärkt. Ähnlich wie die römisch-katholische Kirche gestärkt aus dem Kulturkampf hervorging, weil sich staatliche Repressionen als untaugliches Mittel erwiesen hatten, beförderte Bismarcks Politik evangelisches Sendungsbewusstsein: Preußens Machtgewinn machte aus dem Bund von Thron und Altar eine zuweilen nahezu imperial anmutende protestantische Kirchlichkeit. Andererseits aber und in mindestens ebenso hohem Maße entwickelte sich eine staats- und politikkritische Haltung insbesondere in den Bismarck distanziert gegenüberstehenden lutherischen Landeskirchen.

In Preußen und in manchem der 1866 annektierten Länder trug der durch Bismarck geschaffene und gesicherte Rahmen des jungen Kaiserreiches zu einer positionellen Klärung im pluralen Protestantismus bei. Ohne die neuen politischen Rahmenbedingungen und insbesondere die von Bismarck seit 1878 erlassenen Sozialistengesetze hätte auch ein preußischer Hofprediger wie Adolf Stoecker (1835–1909) schwerlich mit seiner christlich-sozialen und antisemitischen Propaganda den sich ihm bietenden Resonanzraum finden können.

Sichtbares Zeichen für den kirchlichen Bedeutungsgewinn waren zahlreiche neue Kirchenbauten in den wachsenden deutschen Städten. Sie verdankten sich nicht allein der wirtschaftlichen Blüte der Gründerzeit, sondern auch der Prosperität, die nach dem Amtsantritt Wilhelms II. einsetzte. Die meisten der vielen nach 1880 gebauten neuen Kirchen entsprachen dabei einem traditionell orientierten Kirchenbild. Das für Kirchbauten maßgebliche "Eisenacher Regulativ" von 1861 forderte "Anschluss an einen der geschichtlich entwickelten christlichen Baustyle". Neue Kirchen sollten der "sogenannten romanischen (vorgotischen) Bauart" oder eher noch dem "sogenannten germanischen (gotischen) Styl" entsprechen. Seinen imperialen Ausdruck fand dieser retrospektiv orientierte Kirchenbaustil im Berliner Dom, der nach der Bismarckära neu gestaltet wurde und in dessen Gruft 93 Mitglieder des Hauses Hohenzollern bestattet sind.

Während im Kirchenbau konservative Tendenzen vorherrschten und ein traditionelles Kirchenbild favorisiert wurde, avancierte in der evangelischen Theologie und Kirchenpolitik der Bismarckära hingegen der Liberalismus, der sich als zeitgemäße moderne Theologie darstellte und das Luthertum als vorherrschenden Deutungsrahmen ablöste. Der Göttinger Theologe Albrecht Ritschl (1822–1909) bestimmte mit seinen Schülern Wilhelm Herrmann (1846–1922) und dem später von Wilhelm II. geadelten Adolf Harnack (1851–1930) über eine Generation lang die Universitätstheologie.

Gleichwohl: Wenn auch die evangelischen Kirchen in vielen Aspekten vom preußischen Machtgewinn profitierten, am Ende haben sie den Kampf um Einfluss und Meinungsführerschaft in der Gesellschaft klar verloren. Die gesellschaftspolitische Kluft, die mit der "Sozialen Frage" der Kaiserzeit zum "Vierten Stand" in den Städten aufging, konnten die Kirchen nie mehr wirklich schließen. Gegenüber einer erklärt antikirchlichen Sozialdemokratie und einer zunehmend unkirchlichen Arbeiterschaft griffen alle Strategien zu kurz. Die Kirchen verloren weithin die Arbeiter in den rasch wachsenden Städten - und zugleich auch ihren Einfluss auf den zunehmend säkularen Staat, der nun mit der Einführung von Zivilehe und staatlicher Schulaufsicht jahrhundertelang gepflegte Domänen kirchlichen Wirkens in seine Hände nahm. Die Entwicklung einer auf Absatzmärkte konzentrierten Wirtschaft folgte mehr und mehr ihren eigenen Gesetzen und scherte sich kaum um die sozialpolitischen Einreden von Kirchenvertretern, deren Forderungen Bismarcks Sozialpolitik längst umgesetzt hatte.

So wurde die Bismarckära die Epoche, in der der Verlust des kirchlichen Einflusses auf das öffentliche Leben immer deutlicher wurde. Das protestantische Selbstbewusstsein wuchs - während die Kirchen an Bedeutung verloren. Hellsichtige Beobachter erkannten dies. Ihre Hoffnungen auf eine christliche Erneuerung des Volkes durch eine selbstständige und lebenskräftige Kirche, deren segensreichen Wirkungen auf eine "Versittlichung" der Lebensverhältnisse abzielten, wurden mehr und mehr anachronistisch. Nicht allein der preußische Sozialreformer Hermann Wagener (1815–1889) sah die Gefahr einer "fortschreitenden Zersetzung und moralischen Entleerung des Volksorganismus", die sowohl Kirche als auch den Staat unterminiere. Eine theologische Akzeptanz des modernen säkularen Staates war im pluralen Protestantismus der Kaiserzeit allenfalls in Ansätzen zu finden.

Gleichwohl - bereits zu seinen Lebzeiten wurden dem Reichskanzler besonders in den protestantisch geprägten deutschen Bundesstaaten zahllose Bismarckdenkmäler errichtet. In ihnen, zum Beispiel oberhalb des Hamburger Hafens, wirkt bis heute die Faszination nach, die Bismarcks Wirken zu seinen Lebzeiten, aber auch lange darüber hinaus entfachte.

Wirkungen hatten auf ihre eigene Weise auch Bismarcks Frömmigkeit und sein Gottesglaube. Der Reichskanzler war im Hegelschen Sinne vom "Walten Gottes in der Geschichte" überzeugt, aber spätestens seit dem Tod der ihm nahe stehenden überzeugten Pietistin Marie von Blankenburg 1846 auch von der Bedeutung und Kraft eines persönlichen, innerlichen Glaubens.

Uwe Rieske

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