Spekulativ

Deutschland und die Armenier
Bild
Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die deutsche Verwicklung in den Völkermord an den Armeniern weiter zu fassen sein könnte, als bisher bekannt?

Insgesamt, so der kanadische Historiker Ulrich Trumpener, dessen Urteil von der Forschung im Wesentlichen geteilt wird, hat die deutsche Reichsregierung die Verfolgung der Armenier während des Ersten Weltkriegs weder unterstützt noch willkommen geheißen. Allerdings müsse man ihr eine extreme moralische Gleichgültigkeit und einen grundsätzlichen Mangel an entschiedenen Maßnahmen vorhalten, selbst im Rahmen des politisch Möglichen gegen die Verbrechen ihres Bündnispartners vorzugehen.

Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die deutsche Verwicklung in den Völkermord an den Armeniern weiter zu fassen sein könnte? Jürgen Gottschlich meint, dafür entscheidende Argumente vortragen zu können. Die Fallbeispiele, die er nennt, sind seit langer Zeit bekannt. Einige dieser Offiziere waren aktiv in antiarmenische Aktivitäten involviert. Von dem Marineattaché Hans Humann schließlich stammt die Äußerung, die Vernichtung der Armenier sei "hart, aber nützlich". Ähnlich äußerte sich der deutsche Generalstabschef im türkischen Großen Hauptquartier, Fritz Bronsart von Schellendorf und auch die Admirale Souchon und Usedom. Alles das sind Beispiele eines sozialdarwinistisch infizierten militaristischen Extremismus, dem jede ethischen Maßstäbe abhan-dengekommen waren. Es sind zweifellos skandalöse Fälle.

Aber reichen diese Handvoll Individuen aus, um Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier als "Beihilfe zum Völkermord" zu beschreiben? Um einen entsprechenden Nachweis zu führen, muss Gottschlich die Machtverhältnisse im Osmanischen Reich in der Tradition gewisser älterer Imperialismustheorien als die einer deutschen Halbkolonie darstellen, was nach heutiger Forschungslage nie der Fall war. Ein Hauptmotiv des Kriegseintritts war für die Jungtürken, alle ausländischen Einflüsse ein für alle Mal loszuwerden und neue deutsche nicht erst zuzulassen. Geradezu fahrlässig ist deshalb Gottschlichs Behauptung, dass Bronsart "der organisatorische Kopf hinter den Deportationen" gewesen sein soll. Belege führt Gottschlich nicht an, außer dass die jungtürkischen "Dilettanten" dazu nicht in der Lage waren und deshalb der überlegenen deutschen Planung bedurften. Bronsart hatte allerdings, anders als Liman von Sanders und Colmar von der Goltz, keine sehr weitreichenden Kommandobefugnisse. Er war auch nicht in der Lage, wie Gottschlich unterstellt, Anweisungen an das osmanische Innenministerium zu erteilen. Alle diese Vermutungen bleiben nebelhaft spekulativ und sind zum Teil nachweislich falsch. Der Völkermord an den Armeniern war ein ausschließlich jungtürkisches - innenpolitisches - Projekt, das auf einem Parteitag in Istanbul im Herbst 1916 offen als eine politische "Ära der Säuberungen" bezeichnet wurde, und das von den Instanzen dieser rechtsnationalistischen Partei und des von ihr kontrollierten Innenministerium mit äußerster Effektivität exekutiert wurde.

Ob das Deutsche Reich den Völkermord an den Armeniern selbst um den Preis einer Auflösung des Bündnisses hätte verhindern können, ist stark umstritten. Deutschland, so Isabel Hull in einer jüngeren Untersuchung über die Militärkultur des Wilhelminismus, wandte im Ersten Weltkrieg allerdings auf allen Kriegsschauplätzen in extremer Weise die Standards einer existentiellen militärischen Auseinandersetzung an und nahm mit dieser Mentalität auch den Völkermord an den Armeniern in Kauf. Dieser nihilistische Geist ist das eigentliche Problem und die Hypothek, mit der wir uns beschäftigen müssen, ohne in die Bigotterie zu verfallen, wir hätten heute eine befriedigende Lösung gefunden, wie man mit den Verbrechen von Bündnispartnern umgehen soll.

Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Ch. Links Verlag, Berlin 2015, 344 Seiten, Euro 22,-.

mehr zum Thema

Rolf Hosfeld

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Rezensionen