Inklusion allein reicht nicht

Die Debatte um Behindertenrechte muss unser Wirtschaftssystem hinterfragen
Foto: privat
Das Inklusionsprojekt der UN-Behindertenrechtskonvention revoltiert recht verstanden gegen die machtvolle Zentrallogik der ökonomischen Verwertung.

Im Jahr 2009 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention, also die "Übereinkunft der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung" als innerstaatliches deutsches Recht in Kraft gesetzt. Seitdem zeugen zahlreiche politische "Aktionspläne" von der Programmatik der Inklusion mit dem Ziel der ungehinderten gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen mit Behinderung. Die Semantik von einer Gesellschaft für alle, in der alle "mitmachen", die keinen "draußen" lässt, erzeugt das Bild eines intakten gesellschaftlichen Innenraums, dessen Tore sich nun öffnen, um alle Menschen mit Behinderung den Zutritt und die gastfreundliche Aufenthaltslizenz zu gewähren.

Die soziologische Kritik an einer derart vereinfachenden Konstruktion einer zweigeteilten Gesellschaft, in der es ein Drinnen und ein Draußen gibt, bleibt weitgehend ungehört. So etwa die des Soziologen Armin Nassehi, der zu Recht darauf hinweist, dass Phänomene der gesellschaftlichen Ausgrenzung wie Armut und Unterprivilegierung keine Exklusions- sondern Inklusionsfolgen sind. Wer arm ist und seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann, erlebt spätestens bei der Pfändung des Lohnes, wie wirkmächtig die Folgen der Inklusion ins Wirtschaftssystem sind. Die Teilhabe am Markt der Erwerbsarbeit eröffnet nämlich keineswegs automatisch umfassende Dimensionen gesellschaftlicher Teilhabe, sozialer Anerkennung und finanzieller Sicherheit, insbesondere dann, wenn der Lohn nicht reicht, um das Existenzminimum zu sichern. Die Mobilitäts- und Flexibilitätsansprüche des Arbeitsmarktes, seine teils unnachgiebigen, betrieblichen Verfügungsansprüche, verzehren vielen Menschen die Kraft zur Balance des Lebens. Schlafstörungen, kompensiert durch zahlreiche Sucht- und Aufputschmittel, Rückenleiden, Depressionen und psychosomatisch bedingte organische Erkrankungen sind Vorboten jener grassierenden Kulturkrankheit, die das Dasein in diesem ausgebrannten Zustand metaphorisch summiert: Burnout. Die hohen Hürden, einen wirklich auskömmlichen Arbeitsplatz zu finden, dauerhaft den Anforderungen Stand zu halten, spiegeln sich in Phasen der Arbeitslosigkeit, des Krankheitsausfalls oder der steigenden Eintrittsquote in die Erwerbsminderungsrente mit durchschnittlich fünfzig Jahren. Anders gesagt: Das Wesen der Arbeit schafft Wesen ohne Arbeit.

Gepflegter Inklusionsformalismus

Die Inklusionsdebatte bleibt eigenartig unberührt von solchen Mechanismen der Ausgrenzung und pflegt stattdessen einen Inklusionsformalismus, der die "Aufnahme" ins Regelschulsystem und in den Arbeitsmarkt als Akte moralischer Menschenrechtspraxis stilisiert. Zudem agiert die Politik mit der rhetorischen Figur des Appels an "die" Gesellschaft, denn letztlich realisiere sich Inklusion, so der Bundesaktionsplan, an "der Ladentheke, am Arbeitsplatz, im Restaurant und in der Wohneinrichtung". Richtig ist, dass das selbstverständliche, achtsame und unkomplizierte Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung noch keineswegs die soziale Alltagskultur prägt. Aber zugleich besteht die Gefahr, dass das Thema Inklusion in die moralische Sphäre zivilgesellschaftlicher "Haltung" entrückt und damit auf fatale Weise entpolitisiert wird.

Die politische Behandlung ist mindestens zweifach gefordert: Zum einen braucht "Inklusion" eine finanzielle Kursänderung. Die Unterfinanzierung im Regelschulsystem mit inklusivem Anspruch oder im Bereich der öffentlichen Güter, Dienstleistungen, Kultur- und Bildungseinrichtungen ist kein Versehen, sondern Folge der Finanzpolitik im Zeitalter der Schuldenbremse. Menschenrechtsdiskurse wie der über die Behindertenrechtskonvention der UN finden, wenn es um die Umsetzung geht, da ihre Toleranzgrenze, wo sie die ökonomischen "Gesetzmäßigkeiten" der Sparpolitik, die eigentliche Inklusionsmacht, zu durchbrechen drohen. Politisch ausgeblendet wird zweitens auch jene Behinderungsdynamik, die aktiv durch die Imperative der Arbeitswelt und die Institutionen der Bildungspräparation genau von jenen ökonomischen Mechanismen produziert wird, die ihre inklusive Aufnahmekapazität anpreisen. Das Inklusionsprojekt der UN-Behindertenrechtskonvention revoltiert recht verstanden gegen diese machtvolle Zentrallogik der ökonomischen Verwertung. Wenn in Artikel 1 betont wird, dass "Wechselwirkungen mit verschiedenen Barrieren" Menschen mit Behinderungen "an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können", dann muss inklusionspolitisch auch diskutiert werden, welche Barrieren von jener ökonomischen Logik aufgebaut und zementiert werden.

Uwe Becker ist Vorstandssprecher der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und Autor des Buches "Die Inklusionslüge - Behinderung im flexiblen Kapitalismus", transcript-Verlag, Bielefeld 2015, 208 Seiten. Euro 19,99.

Uwe Becker

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