Wie wollen wir sterben?

Es ist Zeit, über das Wesentliche zu reden
Foto: Rolf Zöllner
Low tech, high touch - weniger medizinische Technik und mehr menschliche Zuwendung wäre ein Segen für viele alte und kanke Menschen. Das würde Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglichen.

Deutschland redet über das Sterben. Endlich. Denn bislang wurde über diese Seite unseres Menschseins viel zu wenig gesprochen: in der Öffentlichkeit, in Familien oder im Büro und auf der Arbeit. Wie wollen wir sterben? Die erste breite parlamentarische und mediale Debatte über den ärztlich assistierten Suizid wird hoffentlich zu einer Debatte über die Umstände und die Art, wie wir selbst in Würde aus dem Leben scheiden wollen. Das wäre ein Segen!

Endlich wird über die gefährdete Selbstbestimmung bei schwerer Erkrankung und am Lebensende gesprochen. Endlich wird breit und öffentlich darüber diskutiert, dass nicht jede medizinisch mögliche Therapie einem schwer erkrankten Menschen, wohl aber Dritten nutzt, die durchaus gut daran verdienen. Endlich wird öffentlich danach gefragt, wie die Umstände und die Qualität einer Begleitung eines würdevollen Sterbens zu Hause aussehen müssten, wo immer noch die meisten Menschen sterben möchten. Und darüber, was wir uns das kosten lassen müssten.

Die meisten Menschen sterben im Krankenhaus oder in einem Altenpflegeheim. Die Ursachen für diese Entwicklung weisen uns auf die anderen Seiten unseres mobilen und so selbstbestimmten Lebens: Es gibt zu viel Vereinzelung und zu wenig Nachbarschaft, vor allem in den großen Städten, aber auch in manchen menschenleeren ländlichen Regionen. Altersarmut, steigende Mieten und fehlende soziale Infrastruktur zwingen deshalb viele alte Menschen, unfreiwillig ihre Selbstbestimmung aufzugeben. Unsere Versorgungssysteme prägen Zuständigkeitsdenken und Schubladenlogik. Selbstverständlich wird hier an vielen Orten sehr gute Arbeit unter oft schwierigen Bedingungen geleistet! Aber in der aktuellen Debatte wird viel zu wenig darüber geredet, dass heute bei der Begleitung von über vier Millionen hochaltrigen Menschen am Lebensende die eigentliche flächendeckende Gefährdung der Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft droht. Bis zu fünf - vermeidbare! - Krankenhausaufenthalte müssen alte Menschen statistisch in den letzten beiden Jahren ihres Lebens über sich ergehen lassen. Das hat viel mit zu wenig Pflegepersonal, mit überforderten Hausärzten und viel zu wenig Wissen um die Bedeutung von palliativer Begleitung von alten Menschen zu tun.

Untersuchungen und Modelle belegen: die Versorgung hochaltriger und oft multipel erkrankter alter Menschen ist in unserem Land immer noch mangelhaft. Sie zu verbessern, kostet Geld und erfordert qualifizierte Pflegende und einen erheblichen Ausbau der geriatrischen Medizin. Low tech, high touch - weniger medizinische Technik und mehr menschliche Zuwendung wäre ein Segen für viele dieser Menschen. Das würde Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglichen. Viele unserer Alten sterben aber viel zu früh einen sozialen Tod. Es wird allerhöchste Zeit, dass sich in der aktuellen Debatte um den assistierten Suizid der Scheinwerfer der medialen und öffentlichen Debatte endlich auf unsere Alten und ihre tägliche Passion richtet! Sie werden jeden Tag mehr und bis wir selbst dazu gehören, ist nur eine Frage der Zeit!

Ulrich Lilie ist Präsident der Diakonie Deutschland und Herausgeber von zeitzeichen.

Ulrich Lilie

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Foto: Rolf Zöllner

Ulrich Lilie

Ulrich Lilie (geboren 1957) studierte evangelische Theologie in Bonn, Göttingen und Hamburg. Bis 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhausseelsorger mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. 2011 übernahm Lilie den Theologischen Vorstand der Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf. Seit 2014 ist er Präsident der Diakonie Deutschland.


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