Ein paar Jahrhunderte schmäler

Stand der Theologie (I): Perspektiven der alttestamentlichen Wissenschaft im 21. Jahrhundert
Exegese – ein ewiges Thema. Aufgeschlagene Biblia Hebraica von 1709. Foto: epd/ Jens Schulze
Exegese – ein ewiges Thema. Aufgeschlagene Biblia Hebraica von 1709. Foto: epd/ Jens Schulze
Lange schien die Entstehung der Schriften des Alten Testaments geklärt - ein Verdienst der exegetischen Forschung in den Jahrzehnten vor und nach 1900. Seit einiger Zeit aber bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass die Ergebnisse dieser Epoche vielfach auf Spekulationen beruhen. Hannes Bezzel, Professor für Altes Testament in Jena, schildert die Neujustierung seines Faches seit der Jahrtausendwende.

Oft, vielleicht ein wenig zu oft, wird der von Thomas S. Kuhn geprägte Begriff des "Paradigmenwechsels" bemüht, wenn Vertreterinnen und Vertreter einer wissenschaftlichen Disziplin über den aktuellen Stand und zukünftige Perspektiven ihres eigenen Faches referieren. Nicht selten verbirgt sich dahinter der Zwang, in einem zunehmend ökonomisierten Wissenschaftsbetrieb durch Innovation die eigene Bedeutung hervorheben, wenn nicht gar, um es böse auszudrücken, generieren zu müssen. Bei einem Besuch der regelmäßig stattfindenden exegetischen Großkongresse drängt sich bisweilen der Eindruck auf, dass dies zumindest auch eine der Triebkräfte darstellen könnte, welche die kontinuierliche Produktion einer biblischen "Deutungsindustrie" (Friedrich Wilhelm Graf) am Laufen erhalten.

Dagegen steht die Frage im Raum, was man denn nach gut zweieinhalb Jahrtausenden Auslegungsgeschichte und zweieinhalb Jahrhunderten kritischer Forschung an Neuem noch herausfinden kann. Ihr kann nichtsdestoweniger mit dem Rückgriff auf den Kuhnschen Paradigmenwechsel begegnet werden - im Falle der alttestamentlichen Wissenschaft sogar - wie könnte es anders sein - mit Recht.

Tatsächlich können die aktuellen Diskussionen im Fach und - soweit sie sich absehen lassen - die Forschungsaufgaben der kommenden Jahre als Konsequenzen eines grundlegenden Perspektivwechsels verstanden werden, der langsam, aber stetig bereits seit den späten Siebzigerjahren vollzogen worden ist, wenn auch längst nicht in allen Bereichen. Er lässt sich mit dem Schlagwort "Wende zur Schrift" überzeichnen - scheint dies doch zu suggerieren, es sei vorher um etwas anderes gegangen. In der Tat schien damals die Entstehung der schriftlichen Gestalt der biblischen Bücher seit der Etablierung der großen Modelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend geklärt zu sein. Und das Augenmerk hatte sich vermehrt der vorliterarischen, mündlichen Überlieferungsgeschichte der Einzelstoffe zugewandt. Schriftlich gefasste Texte wie der Dekalog oder die Erzählung von Josuas "Landtag zu Sichem" in Josua 24 wurden auf ihre mündliche Vorgeschichte hin befragt, für die ein Sitz im Leben der frühen, nicht selten vorstaatlichen Geschichte Israels rekonstruiert wurde.

Gegen dieses Verfahren erhob sich nun der Vorwurf des logischen Zirkelschlusses: Texte würden vor dem Hintergrund einer historischen Situation erklärt, die zuallererst aus ihnen selbst erhoben worden sei. Hinzu kam eine steigende Skepsis, inwieweit es überhaupt möglich sei, von der schriftlich vorliegenden Überlieferung auf angenommene mündlich tradierte Vorstufen rückzuschließen. Methodisch anzusetzen sei daher vielmehr bei der Auslegung dessen, was vergleichsweise unstrittig vorliege: der literarischen Endgestalt des Textes.

Versöhnte Verschiedenheit

Aus dieser Grundeinsicht wurden zwei unterschiedliche Konsequenzen gezogen, die in ihrer Polarität die globale Forschungslandschaft in nunmehr zunehmend versöhnter Verschiedenheit prägen:

So sehen die einen die historische Fragestellung nicht nur nach mündlichen, sondern auch nach schriftlichen Vorstufen des vorliegenden Bibeltextes als methodisch desavouiert an und wollen sich ausschließlich der Auslegung der "kanonischen" final form widmen - sich selbst unter Anwendung der reichen kulturwissenschaftlichen Methodenpalette in unterschiedliche post- und post-post-criticisms und -readings ausdifferenzierend. Ihr Hauptargument gegen die historisch-kritische Arbeitsweise liegt im Vorwurf der Hypothesenhypertrophie: Alle literargeschichtlich scheidenden und unterscheidenden Vorschläge entbehrten objektiver Evidenz. Bereits die schiere Vielzahl an konkurrierenden Entwürfen entlarve diese Arbeitsweise als rein spekulativ.

Dem halten die anderen entgegen, dass auch der Kanon selbst eine historische und noch dazu unscharfe Größe darstelle, deren Geschichtlichkeit ein zeitgenössischer Leser auszublenden gar nicht in der Lage sei. Bereits der Umstand, dass in unterschiedlichen sich auf eine "Bibel" berufenden religiösen Gemeinschaften auch unterschiedliche Kanones vorlägen, zeige, dass es sich auch bei der Vorstellung einer Endgestalt um ein methodisches Konstrukt handle, bei dessen Bestimmung bewusst oder unbewusst historische Setzungen vollzogen würden. Daraus folge, dass bereits die Lektüre einer der möglichen relativen Endgestalten die historische Frage nach ihrer Entstehung impliziere - eine Frage, der im Rahmen der redaktionsgeschichtlichen Forschungsrichtung nachgegangen wird. Anders als die ältere überlieferungsgeschichtliche Exegese beginnt sie ihre Analyse des Textes nun jedoch nicht vom Postulat einer mündlichen Vorstufe ausgehend, sondern bei der kritischen Lesung der unterschiedlichen relativen Endtexte.

Parallel zu dieser exegetischen methodischen Binnendiskussion wurden auch seitens der Archäologie die überkommenen Thesen einer Neubewertung unterzogen. "The Bible Unearthed", die Monographie von Israel Finkelstein und Neil Asher Silberman aus dem Jahr 2001, auf Deutsch unter dem ein wenig reißerischen Titel "Keine Posaunen vor Jericho" erschienen, fasst den damaligen Stand der schon länger andauernden Diskussion zusammen und markiert einen Wendepunkt.

Keine Selbstverständlichkeiten mehr

Nicht nur bereits länger hinsichtlich ihrer Historizität kritisch hinterfragte Erzählzusammenhänge wie Exodus und Landnahme, sondern auch eine scheinbar so feste Größe wie das vereinigte Königreich unter David und Salomo erwiesen sich nun eher als literarisch-theologische denn als archäologisch-historisch plausibel zu machende Entität. Darüber hinaus sei in den Kleinstaaten Israel und Juda erst ab dem achten vorchristlichen Jahrhundert mit einer ausgeprägten Schriftkultur zu rechnen.

Diese veränderte Sicht auf die Archäologie Israels, verbunden mit der exegetisch-methodischen Besinnung auf den schriftlichen Charakter der biblischen Überlieferung, verändern in erheblichem Maße die Rahmenkoordinaten, innerhalb derer sich der Diskurs der alttestamentlichen Wissenschaft ereignet.

Die Rede vom Paradigmenwechsel erscheint daher tatsächlich nicht als übertrieben, und seine Konsequenzen sind vielfältig. So ist das überkommene zeitliche Gerüst absoluter Datierungen der einzelnen biblischen Schriften in Bewegung gekommen. Eine Schriftkultur erst ab dem achten Jahrhundert und das Fehlen eines vereinigten Königreiches lassen beispielsweise keinen Raum mehr für eine "Salomonische Aufklärung" als geistige Heimat eines "Jahwisten". Der Zeitraum, in dem sich die Genese der biblischen Bücher ereignet haben muss, wird um ein paar Jahrhunderte schmäler - und damit ist nicht nur die Entstehung einzelner Bücher deutlich später anzusetzen, als es früher üblich war. Auch auf die literarischen und theologischen Beziehungen zwischen den Einzelschriften fällt ein neues Licht, wenn diese insgesamt näher zusammenrücken: Frühere Selbstverständlichkeiten, wie der Einfluss des Amosbuches auf Jeremia, die durchgehende Abhängigkeit der Chronik von den Samuel- und Königebüchern oder, um ins Detail zu gehen, das (deutlich) höhere Alter der jahwistischen Fassung der Flutgeschichte gegenüber ihrer priesterschriftlichen Version, sind keine Selbstverständlichkeiten mehr. "Stücke" aus dem Amos"buch" können durchaus auf "Texte" des Jeremia"buches" zurückgreifen. Passagen aus Samuel-Könige kennen womöglich bereits chronistisches Denken. Und herauszufinden, aufgrund welcher Kriterien die nichtpriesterschriftliche Literatur im Pentateuch ins rechte Verhältnis zur (im großen und ganzen unstrittigen) Priesterschrift gebracht werden kann, ist eine der großen aktuellen Forschungsaufgaben.

Die veränderte Sicht auf die Geschichte Israels und der geänderte Blick auf die Texte gehen jedoch nicht nur mit einer neuen Diskussion in Fragen der Datierung einher. Sie bedingen auch ein in wesentlichen Punkten anderes Verständnis der Religions- und Theologiegeschichte.

Als Beispiel mag Josua 24 dienen. Über lange Zeit war es möglich, hier die theologische Stimme des vorstaatlichen, als Stämmebund konstituierten Volkes Israel zu vernehmen, das sich in einem jährlichen Festakt in Sichem getroffen habe, um dort ein Bekenntnis zum Bund mit seinem Gott abzulegen und diesen im Rückblick auf die Geschichte neu zu bestätigen. Heute jedoch erscheint das Kapitel eher als ein theologischer Reflexionstext, der in seiner Gänze bereits mit einem gewissen Abstand auf das Ende der Staatlichkeit Judas im Jahr 587 v. Chr. zurückblickt.

Veränderte Perspektive

Dabei geht es nicht primär um ein paar Jahrhunderte mehr oder weniger. Die veränderte Perspektive auf die Texte von oben nach unten statt von unten nach oben führt dazu, dass gerade die theologischen Akzente, durch die sich das biblische Israel von seiner Umwelt unterscheidet, eben nicht am Anfang der Überlieferung zu stehen kommen, sondern in der Mitte oder am Ende der theologischen Reflexion. Das "alte Israel" steht dann nicht mehr seiner "Umwelt" als kategorial verschieden gegenüber, sondern erscheint vielmehr als integraler Bestandteil der politischen, sozialen und religiösen Denkwelt des antiken Vorderen Orients.

Das Besondere des Alten Testaments gegenüber archäologisch erschlossenen Dokumenten der Region erscheint auf diese Weise in einem völlig neuen Licht. Für theologisch zentrale Themen wie Monotheismus, Bund oder den Dekalog ist dies mittlerweile weitgehend akzeptiert - bei einer vergleichbaren Lesart der Theologie der Psalmen und der Interpretation des altorientalisch singulären Phänomens der Gerichtsprophetie dauert die Diskussion an. Generalisierend lässt sich sagen: Unter der veränderten Perspektive erscheint das Proprium Israels nicht mehr als ein Datum von Anfang an oder vom Sinai her, sondern als Resultat intensiver theologischer Auseinandersetzung mit der Umwelt, vor allem aber mit der kritisch gesehenen eigenen sozialen, politischen und vor allem religiösen Vergangenheit.

Der Blick auf die relativen Endgestalten des Alten Testaments etwa in Gestalt des hebräischen Textes der Masoreten und der Septuaginta zeigt ferner, dass die theologische Reflexion über die überlieferten Schriften nicht an einem bestimmten Stichtag abgeschlossen wurden. Größere und kleinere Varianten, die früher primär textkritisch unter der Maßgabe untersucht wurden, durch direkten Vergleich zur Unterscheidung von echter und verderbter Lesart zu kommen, entpuppen sich zum Teil als durchaus theologisch motiviert - sie sind bewusste oder unbewusste letzte Kommentare im Text. Nun liegen sie in direkter Linie der langen Geschichte kleinerer und größerer Fortschreibungen und leiten direkt über zur Erforschung der alttestamentlichen Rezeptionsgeschichte. Die Schriftfunde aus der judäischen Wüste, insbesondere die Rollen aus der reichen Bibliothek von Qumran, haben gezeigt, wie fließend der Übergang von innerbiblischer zu außerbiblischer Rezeption vonstatten geht.

Noch nicht sehr lange werden diese Dokumente nicht nur als Quellenmaterial für die Erhellung der Umwelt des Neuen Testaments untersucht, sondern in ihrer Bedeutung für die alttestamentliche Wissenschaft erkannt. Sie bieten reiches Anschauungsmaterial nicht nur dafür, mit welchen Methoden Texte ausgelegt, kommentiert und neu geschrieben wurden, sondern bilden zugleich wichtige Bindeglieder für das Verständnis späterer Auslegungstraditionen. Über sie und die Textkritik führt der Weg von der Redaktions- zur Rezeptionsgeschichte, die bei aller Aufmerksamkeit, die ihr in den letzten Jahrzehnten zuteil geworden ist, noch zahlreiche Aufgaben für die Forschung des 21. Jahrhunderts bereit hält. Auf diese Weise zeigt gerade die historische Exegese die Auslegung der Schrift als lebendige, kontinuierliche und niemals abgeschlossene Aufgabe der Theologie.

Literatur

Uwe Becker: Wenn kein Stein mehr auf dem andern bleibt: Neues aus der alttestamentlichen Wissenschaft, in: Braunschweiger Beiträge zur Religionspädagogik 142 (Heft 2/2014), Wolfenbüttel 2014.

Reinhard Gregor Kratz: Historisches und biblisches Israel. Drei Überblicke zum Alten Testament. Tübingen, 2013.

Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft (zaw), 125 (2013).

Stand der Theologie (II): Jesus
Stand der Theologie (III): Systematik

Hannes Bezzel

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