Ein wenig Licht, viel Schatten

Die reformierten Reformatoren lehnten Juden ab, aber weniger heftig als Luther
Bedeutende Kunst, aber eine stereotype Sicht des Judentums: Fotos: akg-images
Bedeutende Kunst, aber eine stereotype Sicht des Judentums: Fotos: akg-images
Die schlimmen Ausfälle Martin Luthers gegen die Juden sind im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 immer wieder ein Thema. Aber wie verhielten sich eigentlich andere Reformatoren in dieser Frage? Der Generalsekretär des Reformierten Bundes, Achim Detmers, zeigt Übereinstimmungen mit Luther und Unterschiede.

Die Judenschriften Luthers von 1543 wurden bereits von Zeitgenossen sehr kritisch gesehen. So schrieb zum Beispiel der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger im Dezember 1543: "Ich werde nicht mit wenigen Worten aufgezählt haben das Widersinnige, Falsche und Verdrehte, das sich in dieser Ansicht Luthers zeigt. (...) Ja, bald wird nicht von ,Hebräischer Wahrheit', sondern von ,jüdischem Wahn' die Rede sein. So weit ist es nämlich mit dem maßlosen Charakter dieses Menschen dadurch gekommen, dass alle Amtskollegen und Diener der Kirchen selbst jede beliebige Schrift [Luthers] als Orakel anbeten (...). Wahrhaftig muss aufgrund des bisher Vorgefallenen befürchtet werden, dass dieser Mensch noch einmal großes Unglück über die Kirche bringen wird."

Diese deutlichen Worte könnten vermuten lassen, dass die Reformatoren in Zürich und Straßburg eine grundsätzlich andere Haltung gegenüber dem Judentum eingenommen haben als Luther. Doch dieser Eindruck täuscht, wie im Nachfolgenden gezeigt werden soll.

Der Erfinder der oberdeutsch-schweizerischen These von der Einheit des Alten und Neuen Bundes ist Ulrich Zwingli (1484-1531). Er markierte damit einen Kontrapunkt zur Wittenberger Lehre von "Gesetz und Evangelium". Gleichwohl setzte auch er voraus, dass das Judentum nach Christus verworfen sei. Zudem glaubte Zwingli, dass das Judentum in seiner Religionsausübung auf Äußerlichkeiten fixiert sei und dadurch Gott und seine Gerechtigkeit verfehle. Weil die Juden Christus verkannt und ans Kreuz geliefert hätten, seien sie zu Recht verdammt worden. Diese Auffassung führte Zwingli allerdings nicht dazu, diskriminierende Maßnahmen zu fordern. In auffallender Weise verzichtete er sogar darauf, den Juden Vorwürfe wie Gotteslästerung oder Feindschaft gegenüber dem christlichen Glauben zu machen. Auch mit dem Vorwurf des Wucherns war Zwingli zurückhaltend. Zudem glaubte er an die Möglichkeit, dass auch außerhalb der Kirche eine Erwählung möglich sei, und er warnte davor, überheblich zu werden und die Juden verächtlich zu behandeln. Die jüdische Bibelauslegung kannte Zwingli allerdings nur aus antijüdischen Schriften. Im Ganzen beurteilte er sie als wenig hilfreich. Er kritisierte, dass die jüdischen Ausleger eine "fleischliche" Vorstellung von der messianischen Erlösung hätten und deshalb auch die auf Christus vorausweisenden Verheißungen nicht verstünden. Andererseits konnte Zwingli aber auch positive Aspekte der jüdischen Religion hervorheben. So lobte er zum Beispiel die Heiligung des Gottesnamens und die strenge Einhaltung des ersten Gebotes.

Interessant ist auch Zwinglis Bericht von der Begegnung mit einem Juden: Zusammen mit anderen Gelehrten hatte er nämlich 1522 Kontakt zu dem jüdischen Arzt Mosche von Winterthur aufgenommen. Dieser besuchte zweimal die Hebräischvorlesungen in Zürich. Als Zwingli 1524 verdächtigt wurde, er habe seine ganze reformatorische Theologie bei Juden gelernt, wies er diesen Vorwurf zurück, verteidigte aber den Kontakt mit Juden als legitim.

Im Unterschied zu Zwingli hat sein Nachfolger Bullinger (1504-1575) wahrscheinlich nur Christen jüdischer Herkunft gekannt. Er teilte im Wesentlichen die theologischen Auffassungen Zwinglis. Allerdings konnte er sich in sehr abschätziger Weise über die Juden äußern. Besonders deutlich wird dies in einem Gutachten von 1572. Bullinger lehnte darin eine Duldung der Juden ab und verwies auf Erfahrungen der Geschichte: Die Juden seien durch den Talmud verblendet, würden durch Wucher die sozialen Probleme verschärfen und einfache Christen in ihrem Glauben verunsichern. Selbst durch Gesetze könne man sie nicht von ihrem gotteslästerlichen Tun abhalten. Deshalb sei eine Aufnahme von Juden in einem christlichen Gemeinwesen nicht zu verantworten. Wenn dies an manchen Orten dennoch geschehe, dann weil die Juden es bekannterweise verstünden, sich durch Bestechungsgelder und finanzielle Abhängigkeiten Vorteile zu verschaffen.

Bullingers Ablehnung einer Duldung von Juden gleicht hier Argumenten Luthers von 1536/37. Vergleicht man Bullingers Aussagen aber mit den späten Judenschriften Luthers, ist nicht zu übersehen, dass der Zürcher Reformator zwar die Aufnahme von Juden ablehnte, anders als Luther aber keine Vertreibung forderte. Und auch die Judenschutzrechte des Kaisers stellte er nicht in Abrede. Luther hielt es dagegen nicht nur für angemessen, Juden totzuschlagen, sondern forderte auch von der Obrigkeit, Synagogen und jüdische Schulen zu verbrennen. Außerdem regte er an, Häuser von Juden zu zerstören, ihr Vermögen zu konfiszieren und sie zu Zwangsarbeiten heranzuziehen. Von solchen judenfeindlichen Maßnahmen ist Bullinger in seiner Stellungnahme weit entfernt.

Ein ungewöhnlich aufgeschlossenes Verhältnis zum Judentum hatte der Straßburger Reformator und Hebraist Wolfgang Capito (1478-1541). Als einziger Reformator ging er davon aus, dass am Ende der Zeit einige erwählte, aber derzeit verblendete Juden ins Land Israel zurückkehren würden. Zudem kannte Capito jüdische Schriftauslegungen und pflegte Kontakte zu dem Juden Josel von Rosheim (1476-1554). Dieser besuchte sogar einige Vorlesungen Capitos. Und Capito verfasste für ihn 1537 ein Schreiben, in dem er Luther bat, Josel zu unterstützen, beim sächsischen Kurfürsten die Vertreibung der Juden von 1536 rückgängig zu machen. Luther weigerte sich jedoch, Josel zu empfangen und unterstrich in seinem Antwortbrief, dass er eine Duldung in keiner Weise unterstütze, weil von Juden Gefahren, Wucher, Türkenspionage und Proselytenmacherei ausgingen.

Während Capito ein freundliches Verhältnis zum Judentum hatte, kann dies von seinem Straßburger Kollegen Martin Bucer (1491-1551) nicht behauptet werden. Er entwickelte sich sogar zu einem zentralen Gegner Josels neben Luther. Dies ist umso erstaunlicher, da Bucer wie alle "reformierten" Reformatoren die substantielle Einheit des Alten und Neuen Bundes voraussetzte und im Blick auf die endzeitliche Wiederannahme ganz Israels von einem Rest erwählter Juden ausging.

Bucer machte aber schon 1534/35 keinen Hehl daraus, dass er das Judentum in religiöser und ökonomischer Hinsicht als eine Gefahr für die christliche Bevölkerung betrachtete. Deshalb drängte er darauf, die Juden als Ungläubige aus dem christlichen Gemeinwesen auszugrenzen. Wenn Bucer sich dennoch bereit zeigte, die Juden aufgrund ihrer biblischen Wurzeln zu dulden, dann nur zum Zwecke ihrer Missionierung und nur unter harten Bedingungen. Vor allem forderte er, ihre Erwerbstätigkeit auf die Sicherung des Existenzminimums zu beschränken und ihrer religiösen Betätigung enge Grenzen zu setzen. Für den Fall, dass Juden Christen in ihrem Glauben verunsicherten oder bloßstellten, drohte er mit Enteignung und Vertreibung.

Vor diesem Hintergrund überraschten die harten Maßnahmen nicht, die Bucer 1538 in seinem "Judenratschlag" für die Landgrafschaft Hessen empfahl. Sie basierten auf der Grundannahme Bucers, dass die Obrigkeit im Dienste der wahren Religion alle Ungläubigen aus dem christlichen Gemeinwesen auszugrenzen hat. Unter dieser Prämisse kam der "Judenratschlag" zu dem Ergebnis, dass von der jüdischen Gemeinschaft zahlreiche Gefahren ausgingen - vor allem für ärmere und ungebildete Kreise. Angesichts dieser Gefahren betrachtete der Ratschlag die Vertreibung der Juden als angemessene Lösung; nur unter härtesten Bedingungen sei überhaupt eine Duldung zu verantworten. Und das bedeutete: Handels- und Wucherverbot für Juden, Ausschluss von öffentlichen Ämtern, Schutzgeldbestimmungen, Enteignung reicher Juden, Zwangsarbeit mit den allerniedrigsten Verrichtungen, Verbot des Baus neuer Synagogen, Verbot talmudischer Schriften, Verpflichtung zum Judeneid und zur Teilnahme an judenmissionarischen Predigten. Ein Verstoß gegen diese Bestimmungen wurde mit Vertreibung beziehungsweise der Todesstrafe bedroht.

Insgesamt ist also festzuhalten, dass die Reformatoren Zwingli, Bullinger, Capito und Bucer gemeinsam die reformierte Position einer Einheit des Alten und Neuen Bundes vertreten haben. Um die Kontinuität zum Alten Bund zu sichern, war es für sie wichtig zu unterstreichen, dass einige Juden bleibend erwählt seien und zum Glauben an Christus gelangen würden. Zugleich wurde das Judentum aber mehr oder weniger als verworfen und durch die Kirche ersetzt betrachtet. Bei den Konsequenzen für das zeitgenössische Judentum kamen die genannten Reformatoren zu keinem einheitlichen Ergebnis. Die Auffassungen reichten von einem Eintreten für die Duldung (Capito) über ein weitgehendes Desinteresse an judenpolitischen Maßnahmen (Zwingli) bis hin zum Abraten von einer Duldung (Bullinger) und massiven antijüdischen Maßnahmen (Bucer). Vor allem das Beispiel Bucers zeigte, dass massive antijüdische Ausfälle bis zur Androhung von Vertreibung schon vor Luthers späten Judenschriften präsent waren. Der Unterschied lag jedoch darin, dass Luther im Grunde zum Landfriedensbruch aufrief, wenn er zur Zerstörung von Synagogen, jüdischen Schulen und Häusern aufforderte und sogar die Tötung von Juden als Vergeltung auf die angebliche Ermordung Christi und den angeblichen Ritualmord an Kindern für angemessen hielt.

Eindeutige Grenzüberschreitung

Die Reaktionen von reformierter Seite auf Luthers Judenschriften zeigen, dass diese eindeutig als eine Grenzüberschreitung empfunden wurden. Sogar Bucer sprach von "überaus bitteren und abstrusen Schriften Luthers". Hinzu kam, dass Luther nicht nur gegen Juden polemisierte, sondern auch die reformierten Hebraisten in Zürich, Basel und Straßburg angriff. In einer besonders geschmacklosen Passage warf Luther ihnen vor, sie würden den Rabbinern zu viel nachgeben. Stattdessen sollten sie ihm lieber dabei behilflich sein, das Alte Testament von der "Judaspisse", das heißt: von den rabbinischen Verfälschungen, zu reinigen.

Für den Zürcher Reformator Bullinger war hiermit eine Grenze überschritten. Sein Verhältnis zum Wittenberger Reformator war damals bereits nachhaltig gestört. Nicht nur der Abendmahlsstreit hatte tiefe Narben hinterlassen, auch der gehässige Kommentar, mit dem Luther auf die Zusendung der Zürcher Bibelübersetzung reagierte, wurde in Zürich als beispielloser Affront empfunden. Es ist darum nicht verwunderlich, wenn Bullinger den Veröffentlichungen Luthers mit großem Vorbehalt gegenüberstand. Überraschend ist jedoch, mit welchem Nachdruck Bullinger die Judenschriften Luthers als unsachgemäß zurückwies. Im eingangs zitierten Brief an Bucer schrieb er:

"Die meisten Menschen beten sogar jene bissige und ekelhafte Beredsamkeit Luthers an. Folglich fährt jener fort und versucht, sich geradezu selbst an Gehässigkeit zu überbieten. Er schreibt gegen die Juden und predigt zugunsten unseres heiligen, christlichen Glaubens weder gänzlich unpassend noch unnütz, aber er hat durch seine dortigen schändlichen Sprüche und durch ein leichtfertiges Gerede, das niemandem, geschweige denn einem bejahrten Theologen ansteht, den nutzbringenden Gegenstand in einen unerfreulichen verkehrt. Aber auch wenn wir einräumen, dass man wegen des vielen Nützlichen und Brauchbaren, das in diesem Buch enthalten ist, unberücksichtigt lassen soll, dass einiges außerordentlich ungeeignet ist, wer, bitte, könnte das in überaus abscheulicher Weise geschriebene Buch ertragen oder gutheißen? (...) Wenn heute jene herausragende Autorität Reuchlin wiedererstünde, würde er sagen, in dem einen Luther seien die (Inquisitoren)Tongern, Hochstraten und Pfefferkorn wieder lebendig geworden, mit so mörderischem Hass greift er die hebräischen Kommentatoren an und verreißt sie. Davon einmal abgesehen mag man sich jenes unbändige Wüten gefallen lassen, wenn er in dieser Abhandlung nur das ehrwürdige Ansehen der biblischen Schriften unangetastet ließe. Er bestreitet sogar, dass die Biblia Hebraica zuverlässig sei; er bestreitet, dass diesen Schriften ein genuin christlicher Sinn entnommen werden könne. Er fügt hinzu, dass sie von den Rabbinen verfälscht seien. Er gibt zu, dass er die Deutsche Bibel nicht unvoreingenommen genug übersetzt habe, bloß zieht er diese Übersetzung nicht zurück. Bedenke, verehrter Bruder Bucer, wie viel Anstoß er dadurch auch bei sehr erfahrenen Lesern erregen dürfte."

Auch wenn Bullinger hier den Judenschriften manches Nützliche attestiert, so ist doch deutlich zu erkennen, was seine Reaktion herausgefordert hat: das kontraproduktive Vorgehen Luthers, dessen theologisch und philologisch unredliche Umgang mit der Hebräischen Bibel und die verantwortungslose Stimmungsmache. Auch wenn Bullinger vor allem die gegen Zürich gerichteten Anfeindungen im Blick gehabt haben dürfte, so wird doch deutlich, dass Bullingers Kritik nicht nur durch die persönliche Abneigung gegen Luther motiviert war, sondern auch in der anders gelagerten Auffassung von der Einheit des Alten und Neuen Testamentes ihren Grund hatte.

Achim Detmers

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