Unterscheidung von innen und außen

Der Monotheismus hat das Ende blutiger religiöser Opfer durchgesetzt
Zwei Beduinen im Sinaigebirge. Hier soll Moses laut der biblischen Überlieferung die Zehn Gebote empfangen haben. Foto: epd/ Hermine Oberück
Zwei Beduinen im Sinaigebirge. Hier soll Moses laut der biblischen Überlieferung die Zehn Gebote empfangen haben. Foto: epd/ Hermine Oberück
Der Heidelberger Ägyptologe und Religionswissenschaftler Jan Assmann ist der Auffassung, dass durch die biblische Exodustradition eine völlig neue Spannung in die Welt gekommen ist. Er zeigt auf, inwiefern der "Mythos Exodus" für die Geschichte der monotheistischen Offenbarungsreligionen bis heute erhebliche Folgen hat.

Oft werde ich gefragt, wie denn der Begriff "Revolution" im Titel meines Buches "Exodus. Die Revolution der Alten Welt" zu verstehen sei. Hat das Ereignis des Auszugs aus Ägypten die Welt revolutioniert, die doch - wann immer das genau stattfand - hinterher so weitermachte wie vorher? Oder hat das Buch Exodus, das Zweite Buch Mose, die Welt verändert, als es in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen wurde? Oder meine ich es wie der politische Philosoph Michael Walzer, der 1985 ein Buch mit dem Titel "Exodus and Revolution" herausbrachte und die Geschichte des Auszugs aus Ägypten mit Wüstenwanderung und Landnahme als eine Art Modell oder Urszene politischer Revolutionen deutete?

An das "Ereignis" Exodus glaube ich nicht. In den Dimensionen, in denen es die Bibel darstellt, hätte es in ägyptischen Quellen und in der palästinischen Archäologie Spuren hinterlassen müssen. Ich halte die Exodusüberlieferung für einen Mythos, in den freilich vielfältige historische Erinnerungen und Erfahrungen eingegangen sind, angefangen Ende des 16. Jahrhunderts vor Christus von der Vertreibung der "Hyksos", palästinischer Einwanderer nach Ägypten, die sogar für hundert Jahre als 15. und 16. Dynastie den pharaonischen Thron bestiegen haben, über die drei- bis vierhundert Jahre ägyptischer Kolonialherrschaft in Kanaan bis zur Rückkehr aus dem babylonischen Exil am Ende des sechsten Jahrhunderts vor Christus. Was die Welt verändert hat, war nicht das fiktive Ereignis, das alle diese historischen Erfahrungen in einer Erzählung, dem Gründungsmythos des Judentums, kristallisiert hat, sondern die Erzählung, genauer gesagt: Es waren die religiösen Ideen, die in dieser Erzählung eine grandiose, überwältigend eindrückliche Gestalt gewonnen haben und dann von Christentum und Islam aufgegriffen und verbreitet worden sind. Die Christianisierung und Islamisierung der Alten Welt zwischen dem zweiten und siebten Jahrhundert, das ist die Revolution, die ich meine und die ich auf die drei zentralen Ideen der Exodus-Erzählung zurückführe: Offenbarung, Glauben und Treue. Mit deren Durchsetzung hat die Exoduserzählung im Laufe der Jahrhunderte eine tiefgreifendere Verwandlung der Welt bewirkt als alle politischen Revolutionen, die nach ihrem Schema abgelaufen sind.

Konflikt durch Glauben

Mit dem Prinzip des Glaubens, das dieser Mythos erstmals grundlegend entfaltet, ist eine Spannung in die Welt gekommen, von der Goethe in seinem Essay "Israel in der Wüste" schreibt: "Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Conflict des Unglaubens und Glaubens." Diesen Konflikt gibt es erst, seitdem Religion "Glauben" bedeutet, und das bedeutet sie erst, seitdem sie auf Offenbarung gegründet ist. Das Gegenteil von Offenbarung ist natürliche Evidenz; da geht es nicht um Glauben, sondern um Erkenntnis, Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Pflege, was ja "religio" bei Cicero bedeutet. Das ist oder war die Grundlage der sogenannten polytheistischen Religionen, deren Gottheiten auf natürlicher Evidenz beruhen. Glauben gibt es erst, wo eine Offenbarung ins Spiel kommt, und das ist erstmalig in Israel der Fall, in Gestalt der Sinaioffenbarung, die von dem Volk, dem sie zuteil wird, 'aemunah verlangt, was so viel heißt wie Glauben, Vertrauen und Treue.

Mit dieser Offenbarung sind zunächst einmal sehr besondere und positive Emotionen verbunden, die den auf natürlicher Evidenz beruhenden, kurz: "natürlichen Religionen" abgehen, wie Liebe, Erwählung, Treue, die allesamt nichts natürliches haben, sondern gestiftet und aus freier Willensentscheidung heraus eingegangen und daher sehr viel anspruchsvoller und schwieriger aufrechtzuerhalten sind. Mit dem Glauben ist der Zweifel mitgegeben. So kommt es zu dem Konflikt, von dem Goethe spricht. Er sieht ihn in den berühmten Szenen des "Murrens", in denen sich die Kinder Israels gegen Moses und Gottes Führung empören und nach Ägypten zurückwollen. Diese Szenen fangen zwar schon vor der der Bundesoffenbarung am Sinai an, als das Volk auf dem Hinweg in der Wüste Durst und Hunger verspürt, aber da schafft Gott gleich Abhilfe und schlichtet so den Konflikt. Als sich diese Szenen dann aber nach dem Bundesschluss fortsetzen, entbrennt sofort Gottes Zorn, und er schickt furchtbare Strafen. Goethe meint ja, dass Mose im Zuge einer solchen Revolte ermordet wurde, und der Alttestamentler Ernst Sellin und Sigmund Freud sind ihm darin gefolgt. Das also versteht Goethe unter dem Konflikt des Unglaubens und Glaubens.

Der Zusammenhang zwischen Bund und Gewalt im Alten Testament ist unverkennbar. Gott sagt ja selbst, dass er ein eifersüchtiger, zornmütiger Gott ist, der die Sünde der Väter bis ins dritte und vierte Glied verfolgt, andererseits aber barmherzig und von großer Güte ist gegenüber denen, die ihn lieben und seine Gebote halten und das in tausend Generationen. Die Szene mit dem Goldenen Kalb stellt sofort klar, wie das gemeint ist. Da haben die Israeliten gegen das Bilderverbot verstoßen, Gott will sie in seinem Zorn allesamt vernichten und gibt sich erst durch Moses Fürbitte mit der Exekution von 3.000 zufrieden. Glauben ist eine hochemotionale Sache, Liebe und Zorn, Treue und Verrat, Huld, Gnade und unnachgiebige Strenge sowie leidenschaftlicher Eifer für die Sache Gottes gehören hier untrennbar zusammen.

Die Sache Gottes aber - das darf man nicht vergessen - ist nicht Gewalt und Krieg, sondern Frieden und Gerechtigkeit, auch wenn es manchmal oder manchen scheint, dass dies Ziel nur mit Gewalt zu erreichen sei.

Was die Frage der Gewalt angeht, scheint es zunächst ganz anders auszusehen. In den alten Kulten fließen Ströme von Blut, in manchen sogar Menschenblut. Dies ist der Punkt, an dem nun umgekehrt der Monotheismus humanisierend, gewalteindämmend eingegriffen hat. Die Bibel ist voll flammender Invektiven gegen die Menschenopfer, besonders die Kinderopfer der Kanaaniter. Bis heute ist unklar, was davon Greuelpropaganda und was historisch ernstzunehmen ist. Jedenfalls erhält man den Eindruck einer Konversion von einem älteren Zustand, in dem solche Opfer, besonders das Opfer des erstgeborenen Sohnes, praktiziert wurden, zu einem jüngeren, dem genau das zum Abscheu geworden ist. Was die biblischen Texte als kanaanitische Religion verteufeln, ist aller Wahrscheinlichkeit nichts anderes als die eigene hebräische Vergangenheit. Das Christentum hat dann für sich auch noch die Tieropfer abgeschafft und in der Spätantike überhaupt verboten. Allerdings ist der biblische Monotheismus hier Teil eines allgemeinen Prozesses der Eindämmung sakrifizieller Gewalt in der Alten Welt. Auch in Mesopotamien, Ägypten und Griechenland gab es in historischer Zeit keine Menschenopfer mehr und Philosophen wie Theophrast forderten sogar, die blutigen Opfer überhaupt abzuschaffen. Das Ideal der "thysia logike", des rein geistigen, spiritualisierten Opfers in Gestalt von Gebet und Lobpreis, breitete sich in der römischen Kaiserzeit in der ganzen jüdischen, christlichen und heidnischen Welt aus. Hier handelte es sich um eine allgemeine Wende, die der biblische Monotheismus nicht eingeleitet, aber die er dann endgültig durchgesetzt hatte.

Ambivalente Offenbarung

Dieses Verdienst kann ihm niemand bestreiten. Auf der anderen Seite hat er jene besondere Gewalt eingeführt, die mit den Ideen von Bund und Offenbarung verbunden ist. Zum Bund gehört als Möglichkeit der Bundesbruch, so wie Treue zu Verrat und Segen zu Fluch. Die Bibel, genauer das Alte Testament, entfaltet diese Ambivalenzen der Offenbarung anhand der Erzählung vom Auszug aus Ägypten. Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen Israel und Ägypten. Ägypten steht für Unterdrückung und Despotismus, für die Welt von Unrecht und Unfreiheit, aus der ausgezogen werden muss, um in die Welt von Freiheit und Gerechtigkeit einzuziehen, die Gott mit seinem Bund anbietet. Hier gilt: Null-Toleranz gegenüber den Unterdrückern. Dieser am Sinai geschlossene Bund trifft dann die Unterscheidung zwischen dem auserwählten Volk und dem Rest der Völkerwelt. Hier wiederum gilt: alle Toleranz gegenüber den Völkern, die anbeten können, wen oder was sie wollen und nach ihren eigenen Gesetzen leben mögen, solange sie nur das auserwählte Volk seinem Gott folgen und nach seinem Gesetz leben lassen. Das ist die Unterscheidung nach außen. Nach innen aber gilt: Null-Toleranz gegenüber denen, die den Bund brechen. Und dieses Prinzip wird nun auch ausgedehnt auf die Kanaaniter, die Ureinwohner des Gelobten Landes, die vertrieben werden müssen, damit sich das Volk nicht mit ihrer zum Abscheu gewordenen Religion ansteckt, das heißt, damit es nicht rückfällig wird. Dieser ausgeprägte Antikanaanismus, also der Hass auf die eigene Vergangenheit, ist ein durchaus problematisches Element der monotheistischen Offenbarungsreligionen, der nur durch unerschrockene Selbstaufklärung überwunden werden kann. Apologetik hilft da nicht weiter.

Für das Judentum hatte sich das Problem des Antikanaanismus mit dem Verlust der staatlichen Selbständigkeit erledigt und ist erst neuerdings in Kreisen der extremen israelischen Rechten wieder aufgeflammt. Im Christentum wurde es in den Kreuzzügen virulent und später gegen die Ausschreitungen der spanischen Eroberer, der puritanischen Kolonisten, der Buren und anderer Auszugsbewegungen gegen die jeweiligen Ureinwohner sowie natürlich in den antijüdischen Pogromen. Im christlichen Antijudaismus lebte der jüdische Antikanaanismus weiter: der Hass auf die eigene Vergangenheit. Auf den Islam gehe ich hier nicht ein; die Dinge liegen wohl klar genug, wobei man freilich sorgfältig unterscheiden muss zwischen dem Islam in seinen verschiedenen Richtungen und terroristischen islamistischen Bewegungen, von denen man großenteils annehmen muss, dass sie mit Religion wenig bis gar nichts zu tun haben.

Das Problem liegt im starken Begriff der absolut gründenden, ein für alle Mal ergangenen Offenbarung, an der unter allen Umständen festgehalten werden muss. In den alten Religionen konnte man das Orakel befragen, wenn man nicht weiter wusste. Jetzt gilt: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Jahweh von dir fordert. Dieser Offenbarungsbegriff wurde spätestens dann zum Problem, als drei Religionen mit demselben Anspruch auftraten, im Besitz einer absoluten ein für allemal geoffenbarten Wahrheit zu sein. Diesem Problem suchte man in Gestalt der Ringparabel beizukommen, deren älteste Variante bis in die Zeit um das Jahr 800 nach Christus zurückgeht. Ein Vater, drei Ringe, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen und die niemand auseinanderhalten kann. Es gibt die Wahrheit und es gibt Offenbarung, aber da es mehr als eine gibt, bleibt die absolute Wahrheit verborgen; die einem selbst zuteil gewordene relative Wahrheit aber gilt es im Tun an den Tag zu legen. Dazu gehört dann in allererster Linie Respekt gegenüber den Wahrheiten der anderen, die nicht weiter von der verborgenen absoluten Wahrheit entfernt sein müssen als die eigene.

Offenbarungsreligionen basieren auf einer Theologie der Differenz. Als Träger von Erwählung, Bund und Offenbarung, mit einem Wort: der "Wahrheit", müssen sie sich von den anderen abheben. Die Ringparabel vertritt dagegen eine Theologie der Ähnlichkeit: die Ringe sind hinsichtlich ihrer Echtheit nicht voneinander zu unterscheiden. Lessing gab dieser alten Parabel die entscheidende Wendung: Die Gemeinsamkeit liegt nicht in der Herkunft von Abraham, sondern im Ziel: Sie alle müssen sich im Tun erweisen, den Träger "vor Gott und Menschen angenehm" zu machen. Nicht der Glaube entscheidet, sondern die Praxis.

Literatur

Jan Assmann: Exodus - Die Revolution der Alten Welt. C.H. Beck-Verlag, München 2015, 493 Seiten, Euro 29,95, (siehe Rezension auf Seite 65).

Jan Assmann

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