Vielfältig

Arbeit am Schuldbegriff
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Wer eine systematische Studie zum Schuldbegriff erwartet, ist hier falsch. Wer aber auf vielfältige Anregungen aus ist, wird fündig.

Dass die Theologie beim Thema "Schuld" erst einmal "Erkundungen" unternehmen sollte, wie der Untertitel dieses Buches nahelegt, das mag einigermaßen verwundern. Sind doch Schuld und Vergebung seit jeher Zentralthemen des Christentums - und des Protestantismus allzumal. So sehr stehen beide im Zentrum der theologischen Aufmerksamkeit, dass viele Theologinnen und Theologen die heutige Herausforderung eher darin sehen, das Wesentliche des Christentums endlich einmal ohne den Verweis auf Schuld zur Geltung zu bringen. Paul Tillich etwa war bereits 1925 der Auffassung, dass Schuld das Thema einer längst vergangenen Epoche der Christentums-Geschichte sei. An ihre Stelle trete in der Moderne die Frage nach dem "Sinn": "Unsere ganze Zeit ringt mit der Verzweiflung des Sinnverlustes, wie die vorreformatorische Zeit mit der Verzweiflung der Schuld." In der Tat scheint sich die Rede von Schuld und Sünde eigentümlich abgenutzt zu haben. Die Vorstellung vom Sühnetod Christi bereitet vielerorts mehr Probleme, als sie religiöse Inspiration weckt. Für viele ist Schuld zu einem rein zwischenmenschlichen, innerweltlichen Thema geworden, das mit Religion nur wenig zu tun hat. Das Scheitern eigener Lebensziele und die ungelebten Möglichkeiten der eigenen Biographie treiben die Menschen heute wohl weit mehr um als die traditionellen Sündenregister.

Hinzu kommt schließlich noch die dunkle Wirkungsgeschichte einer christlichen Schuldkultur, geprägt von Gewissensbissen und Demütigungen, von schwarzer Pädagogik und gängelnder Sozialkontrolle - wie vor einiger Zeit in Michael Hanekes Film "Das weiße Band" eindrücklich zu sehen war. Die Geschichte des christlichen Schuldbegriffs ist also nicht nur eine Geschichte der Abnutzung eines traditionellen Begriffs. In mancherlei Hinsicht ist sie selbst eine Geschichte der Schuld.

Genau deshalb aber wird man den Begriff der Schuld nicht los - so eine wesentliche Pointe dieses Buches. Ohne ihn könnte man ja nicht einmal das Unrecht beim Namen nennen, das er selbst mit angerichtet hat. Allerdings verkompliziert das die theologische Ausgangslage ganz erheblich: Schuld und Sünde sind nicht etwa neutrale Begriffe, mit denen man von außen auf die Sache blicken könnte, sondern sie sind selbst Teil der Sache, die sie theologisch kritisieren und überwinden sollen. Dieses unwegsame Gelände ist es also, durch das die Erkundungsgänge der siebzehn evangelischen und katholischen Theologinnen und Theologen dieses von der Münsteraner Systematikerin Julia Enxing herausgegeben Sammelbandes führen. Gemeinsam zielen sie auf eine theologische Arbeit am Schuldbegriff, um allererst wieder mit dem Schuldbegriff arbeiten zu können.

Gegliedert ist dieses Buch in zwei Hauptteile. Die erste Hälfte orientiert sich stärker am Begriff, erkundet also die dogmatischen und kulturellen Deutungsmuster von Schuld und Sünde, Versöhnen und Verzeihen. Die zweite Hälfte denkt eher von den Phänomenen her, etwa vom christlich-jüdischen Dialog oder den Missbrauchsfällen in Kirchen und christlichen Einrichtungen.

Inhaltlich schlagen die Beiträge dabei durchaus sehr unterschiedliche, zum Teil auch widerstrebende Richtungen ein. Wer darum eine systematische und zusammenhängende Studie zum Schuldbegriff erwartet, ist hier eher an der falschen Adresse. Wer dagegen auf vielfältige Anregungen aus ist, wird schnell fündig werden: So etwa in Margarete Frettlöhs Überlegungen zum Verhältnis von Vergeben und Vergessen, in Johnna Rahners Ausführungen zur Schuld der Kirche in der katholischen Dogmatik, in Dominik Gautiers Erinnerung an Reinhold Niebuhrs Thesen zum Rassismus oder in Julia Enxings Erörterung des Schuldbekenntnisses von Johannes Paul II.

Julia Enxing (Hrsg.): Schuld. Theologische Erkundungen eines unbequemen Phänomens. Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2015, 304 Seiten, Euro 27,-.

Tobias Braune-Krickau

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