Heilig, kein Skandal

Vom Stillen in der Öffentlichkeit
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Eine stillende Mutter entspricht offenbar nicht aktuellen Hygienestandards des 21. Jahrhunderts. Im Mittelalter war man da schon weiter.

Vor einiger Zeit ging diese Geschichte durch die Presse: Eine Mutter stillte ihr Baby im ICE-Bordrestaurant. Eine Mitarbeiterin der Deutschen Bahn schmiss die beiden kurzerhand hinaus – immerhin habe man es hier mit Lebensmitteln zu tun, so lautete die Begründung. Was nichts anderes heißt, als dass eine stillende Mutter wohl nicht aktuellen Hygienestandards des 21. Jahrhunderts entspricht.

Stillen scheint nicht nur in der Bahn, sondern zunehmend an öffentlichen Orten in Deutschland zu einem Problem zu werden. Immer wieder hört und liest man von Frauen, die sich Beschimpfungen anhören müssen, weil sie anderen Menschen in Cafés oder Museen für einen Moment den Anblick ihrer Brust und eines säugenden Kindes zumuten. Es ist mehr als erstaunlich, dass in einer Gesellschaft, die nicht müde wird, ihre Aufgeklärtheit, Emanzipation und Liberalität zu betonen, der Anblick von Frauenbrüsten nur im heimischen Schlafzimmer oder aber bei gephotoshopten Models in der Werbung erlaubt ist. Frauenbrüste haben zur Verfügung zu stehen, und sie werden ausschließlich mit Sexualität in Verbindung gebracht.

Man ist versucht, den Satz „Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter!“ auszurufen. Aber im Mittelalter war man tatsächlich schon mal weiter. Da war das Bild einer Mutter mit entblößter Brust, die ihren Säugling anlegt, kein Skandal, sondern etwas Heiliges. Maria lactans, die heilige Jungfrau als stillende Mutter, war von frühesten Zeiten der Kirchengeschichte, spätestens aber im Mittelalter bis zur Renaissance (genauer: bis zum Konzil von Trient von 1545 bis 1563), ein bekanntes und beliebtes Bildmotiv der christlichen Kunst. Und es erzählte den Christen sehr eindrücklich von Gottes besonderer Beziehung zu den Menschen.

Albrecht Dürer, Rembrandt, Lucas Cranach der Ältere, Jan van Eyck – sie alle malten Maria, wie sie sich ihrem kleinen Jungen zuwendet, wie sie ihn hält und schützt, ihn herzt und mit ihm spielt, wie sie ihn nährt. Oft haben die Maler ihren Schoß in kostbares Tuch gehüllt, so dass er anmutet wie ein Thron für das Menschenkind, das doch auch Gottes Sohn ist. Und Maria ist eine fürsorgliche Mutter, eine verletzliche Frau mit nackter Brust.

Kunsthistoriker verweisen darauf, dass das Motiv der Maria lactans letztlich zurückgeht auf Bildnisse der ägyptischen Göttin Isis, die den Horusknaben stillt, und dem dabei göttliche Kräfte übertragen werden. Dazu passt, dass im Mittelalter Reliquien mit der angeblichen Muttermilch der heiligen Jungfrau Maria gehandelt wurden oder dass auf Wallfahrten Pilger ihre Stärkung aus Brunnen erhielten, bei denen das Wasser aus steinernen Brüsten der Maria strömte. Gern erzählt (und gemalt) wurde auch die Legende des Mystikers Bernhard von Clairvaux, der in einem mystischen Erlebnis davon träumte, wie die Muttermilch der heiligen Jungfrau Maria seine Lippen benetzte – ein Akt der Barmherzigkeit und Stärkung.

Und doch sind die Bilder der stillenden Maria Ausdruck nicht einer Göttlichkeit Mariens, sondern vielmehr Betonung der menschlichen Natur Jesu, seiner Inkarnation als Gottes Sohn in unser menschliches Leben. In solchen Bildnissen haben Menschen jener Zeit etwas sehr Vertrautes, Alltägliches, Familiäres wiedergefunden. Das Gottesverständnis, das sich in ihnen ausdrückt, ist eines großer Intimität und Hingabe, Nähe und Fürsorge. Und eines der Angewiesenheit und Verwundbarkeit.

Vielleicht können heute wenigstens Kirchenbänke Orte sein, in denen Frauen ihre Kinder stillen dürfen, ohne dass sie böse Blicke (oder Schlimmeres) ernten. Sie erinnern uns daran, dass auch Jesus kein Flaschenkind war. Und dass beim Abendmahl ohnehin ganz andere Tischmanieren gelten, als wir sie aus unserer Gesellschaft kennen.

Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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